Permakultur

Der Herr der Palmen

Zu Besuch bei einem Retter der Vielfalt
ostfriesischer Gemüsesorten.
von Johanna Umbach, erschienen in Ausgabe #62/2020
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© Johanna Umbach

Reinhard Lühring sammelt und vermehrt seit 20 Jahren alte Gemüsesorten in Ostfriesland. Besonders hat er sich auf den Grünkohl spezialisiert, von dem er über 30 Sorten in den Selbstversorgergärten älterer Menschen gefunden hat. Schon seit Jahren begeistert mich die Sortenvielfalt in Hausgärten – und so musste ich in meiner neuen Heimat auf Zeit, Ostfriesland, irgendwann auf Lühring, den »Grünkohlkönig«, stoßen. Bei einem Saatguttausch stand ich staunend vor seiner Vielzahl von Sorten mit den eigenartigsten Namen und Eigenschaften, die genau an das hiesige Klima angepasst waren. Im darauffolgenden Herbst besuchte ich ihn dann erneut. 

Auf der ganzen Welt engagieren sich Menschen, um ihre Saat als Kulturgut zu bewahren: indigene Frauengruppen in Südchile genauso wie Initiativen von Kleinbauern in Kenia oder Vereine in Deutschland. Reinhard Lühring ist einer von ihnen, und diese globale Relevanz eines kleinen lokalen Hofs in meiner Region begeistert mich. Wie seine Mitstreiterinnen steht Lühring auf gegen eine Handvoll Großunternehmen, die den Weltmarkt mit industriellem Hybrid-Saatgut versorgen und somit entscheiden, was die Menschheit isst. Bereits drei Viertel der Kultursorten sind laut der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen in den vergangenen 120 Jahren verloren gegangen. Alte Sorten sind meist sehr gut an regionale Gegebenheiten angepasst, sie schmecken oft besser und sind in ihrer Vielfalt untrennbar mit der Küche und Kultur einer Region verbunden. Jede und jeder kann ihre Samen nach der Blüte selbst gewinnen und damit die Vor-aussetzung für den Gemüsenachschub im nächsten Jahr schaffen. Moderne Hybridsorten dagegen versprechen einen größeren, planbaren Ertrag und einen uniformen Wuchs, was der Arbeit mit Maschinen entgegenkommt. Sie sind jedoch nicht vermehrbar, müssen also jedes Jahr nachgekauft werden und entziehen vor allem Kleinbäuerinnen und Kleinbauern die Unabhängigkeit in ihrer Ernährung. Wer sich mit den alten, samenfesten Sorten beschäftigt, schwimmt gewissermaßen gegen den Strom und sollte eine ordentliche Portion Kampfgeist mitbringen. 

Er macht, was er wirklich machen möchte

Auf seinem Bauernhof in Rhauderfehn stellt sich Reinhard Lühring am Ende der Erntesaison im September als »Landwirt und denkender Mensch« vor. Er sei einfach zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen und habe dabei Glück gehabt, immer das tun zu können, was ihn gerade interessierte. Sein Hof ist nur etwa 15 Autominuten von der Kleinstadt Leer entfernt, trotzdem fühlt es sich an, als sei man sehr weit weg von der Welt. Ein einspuriger Weg führt kilometerweit zwischen hochstehenden Maisfeldern entlang, scheint sich schon zu verlieren und erreicht dann unvermittelt den Ortsteil Schatteburg: eine einzige lange Straße, die offensichtlich hauptsächlich von Kühen frequentiert wird. 

Wer Lührings weitläufiges Hofgelände betritt, wird sofort verzaubert von der Schönheit des Orts. Es herrscht nicht die öde Aufgeräumtheit der meisten ostfriesischen Höfe; hier und da stehen Arbeitsgeräte oder Pflanzen herum, nichts ist perfekt. Trotzdem macht der Hof einen gepflegten Eindruck. Verwitterte Wurzeln und Holzskulpturen, die das Wetter nachbearbeitet hat, schmücken die mühevoll wiedererrichteten Klinkergebäude. Es ist Spätsommer, eine laue Brise fährt über das Land und der Garten steht übervoll mit Blumen und Gemüse. 

Lühring streift langsam durch seine Beete. Man sieht ihm seinen Beruf und die tägliche Arbeit auf dem Feld an: Arme und Nacken sind sonnenverbrannt, an den kräftigen Händen erkennt man Schwielen, und die schwarzen Fingernägel verraten, dass er nicht vor Arbeit zurückschreckt. Ein großer, sehniger Mann mit unbändigen roten Haaren, die bereits etwas an Farbe verloren haben. In den Grünkohlbeeten, zwischen seinen Schätzen, ist Lühring in seinem Element. Mit routinierten Bewegungen rückt er eine Grünkohlpflanze zurecht: »Das hier ist die Ostfriesische Palme, eine Sorte, die beinahe ausgestorben wäre. Kein Mensch hat Sorten wie diese aus Nostalgie bewahrt, sondern weil sie sich bewährt hatten und weil sie schmecken.« Über 200 verschiedene Gemüsesorten hat er aus den Gärten der Region zusammengesammelt, und diese Vielfalt ist etwas Besonderes. Im recht abgeschiedenen Ostfriesland erhielten Bauern und Gärtnerinnen durch ihren traditionellen Lebensstil mit Selbstversorgungsgärten noch lange Sorten, die im Rest Deutschlands längst verschwunden waren. Das war Reinhard Lührings Glück.

Mit »nichts« begonnen

Heute ist der 52-Jährige ein Experte im Bereich der biologischen Saatgutvermehrung. Im Sommer kommen Ausflügler, Touristinnen und Hobbygärtner, um seinen Schaugarten zu bewundern; das Fernsehen hat ihn als »Grünkohlpapst« bekannt gemacht. Wenn Lühring erzählt, wird schnell klar, dass er gewohnt ist, vor Leuten zu sprechen. Er redet ruhig und viel in der typischen Melodie aus Norddeutschland und lässt sich nicht unterbrechen. Seit 1996 vermehrt er das Saatgut von etwa 100 Gemüse-, Kräuter- und Blumensorten als Teil der Dreschflegel GbR, die als Verein samenfestes Saatgut deutschlandweit an Privatleute vertreibt. Inzwischen kann er gut davon leben. Er beschäftigt sogar mehrere Mitarbeiter und ist hin und wieder in überregionalen Medien zu Gast. Bis das aber so weit war, vergingen etliche Jahre, erzählt Reinhard Lühring: »Am Anfang lebten meine damalige Frau, unsere Tochter und ich in einem Bauwagen. Diese Hofstelle war nur noch eine Ruine, und wir haben mit nichts begonnen.«

Als Sohn eines Landwirts hätte er eigentlich den elterlichen konventionellen Milchviehbetrieb übernehmen sollen. Er wuchs quasi im Kuhstall auf. »Schon als Kleinkind wusste ich, dass ich der Hoferbe bin«, erzählt Lühring und lacht verschmitzt. Während seiner Ausbildung merkte er aber schnell, dass ihm die Arbeit mit den Tieren keinen Spaß machte und er eher einen Draht zu Pflanzen hatte. So begann er, sich mit Gemüseanbau und Selbstversorgung zu beschäftigen. Reinhard Lühring ist Autodidakt. Alles, was ihn wirklich interessiert, erschließt er sich selbst und auf seine Weise. Er ist keiner, der sich etwas sagen lässt. 

Zusammen mit seiner Frau und der kleinen Tochter zog er Anfang der 1990er Jahre nach Witzenhausen, um biologische Landwirtschaft zu studieren. Das Studium schloss er aber nicht ab: »Ich habe mich hauptsächlich um meine Tochter gekümmert und die Leute vom Verein Dreschflegel kennengelernt.« Diese Bekanntschaften aus dem Umfeld der Hochschule ermöglichten es ihm, Neues mit Gleichgesinnten auszuprobieren und Stück für Stück in die Saatgutvermehrung für Privatgärten einzusteigen. »Ich war einfach neugierig, ganz zu verstehen, was wir essen, und hatte Lust, bei Dreschflegel mitzugestalten«, erklärt er seine Motivation.  

Dem Flow gefolgt

Nach der Zeit in Witzenhausen kehrte Reinhard Lühring mit der Familie in sein ostfriesisches Heimatdorf Schatteburg zurück und baute dort in 24-jähriger Eigenarbeit den Betrieb für Biosaatgut auf. Seine erste Ehe zerbrach – er blieb, obwohl er es auch einfacher hätte haben können, wenn er die elterliche konventionelle Landwirtschaft übernommen und neugestaltet hätte. In den 1990er Jahren war nicht klar, ob Garten und vielfältige Gemüsesorten wieder in Mode kommen würden, der Trend ging eher in die andere Richtung. 

Wie lang ist so ein Arbeitstag bei Reinhard Lühring? Woher nimmt er all die Kraft und Motivation, wenn nicht aus Kampfgeist und Idealismus? Er schaut gequält in die Ferne und runzelt die Stirn, anscheinend fühlt er sich missverstanden: »Das mit dem Saatgut habe ich ganz einfach aus Lust und Neugier begonnen – und ich bin auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich empfinde es einfach als Glück, diese Arbeit machen zu können. Wenn sie dann auch noch jemand als relevant erachtet, dann ist das noch besser. Aber ich finde es immer etwas anmaßend, wenn Leute sagen, sie wollen die Welt retten.« Der norddeutsche Singsang liegt noch einen Moment in der Luft, während er über seinen Garten Eden blickt: »Ich habe einfach immer geschaut, wo es einen Flow gibt. Ich habe nicht gegen etwas gearbeitet, das ist nicht meine Philosophie.«

Reinhard Lühring versteht sich als Landwirt – vielleicht so, wie früher die Bauern waren: Starrköpfig, selbstbewusst und pragmatisch. Bauern wissen, wie viele Menschen sie mit ihrer Arbeit ernähren, mit so einem legt man sich lieber nicht an. Im Moment hat der Mann alle Hände voll zu tun, eigentlich müsste er auch bald los: Es ist Erntezeit, und anscheinend haben die Deutschen wegen der Corona-Kontaktbeschränkungen so viel Muße zum Gärtnern wie nie zuvor. Ich freue mich leise über den unaufgeregten Erfolg und den bunten Garten um das Haus. Nächstes Jahr wird die Ostfriesische Palme auch in meinem Garten stehen, da bin ich mir jetzt sicher.

Eine uralte Tradition weiterführen

Was er sich für die Zukunft wünscht? Reinhard Lühring muss kurz nachdenken und kratzt sich am Kopf. Zurückschalten, mehr Zeit haben für andere Projekte, den Hof weitergeben, eventuell an seine Tochter, die in Göttingen studiert und bereits bei Dreschflegel im Versand arbeitet. Weitergeben, was er geschaffen hat, das wäre schön. Er möchte raus aus dem Hamsterrad sagt er. Im Moment pflanzt er Bäume und möchte noch mehr Vielfalt in den Garten und auf das Hofgelände zaubern. Nichts zu tun ist ihm allerdings fremd; es ist schwer vorstellbar, dass einer wie Lühring mit Eintritt ins Rentenalter das Handtuch wirft und sich dann auf seiner Terrasse sonnt. 

Wer Landwirt ist, muss wohl an Arbeit gewöhnt sein und eine gewisse innere Unruhe mitbringen – egal, ob er die Welt retten will oder nur weiterführt, was ihm in die Wiege gelegt wurde. Ob Reinhard Lühring eher in die erste oder in die zweite Kategorie gehört, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist das auch nicht so wichtig, denke ich mir. Denn bei seinem Job zählt das Tun mehr als viele Worte. Im Ergebnis führt er einfach weiter, was Menschen seit mehreren tausend Jahren getan haben, und was man ohne Übertreibung als unser kollektives Erbe bezeichnen kann: Er baut alte Gemüsesorten an, verbessert sie durch Selektion, vermehrt das Saatgut und bewahrt eine Diversität an Kultursorten, die derzeit vom Verschwinden bedroht sind. Diese Aufgabe ist so bodenständig, dass man sie wahrscheinlich nur mit einem gehörigen Maß an Idealismus und Demut bewältigen kann. //



Johanna Umbach (35) leitet den Naturschutzhof Wittmunder Wald, eine Einrichtung für Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung.
johannaumbach8@gmail.com 


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