Die Kraft der Vision

Die Welt in Verse fassen

In memoriam Les Murray: vier Gedichte des großen australischen Lyrikers.von Les Murray, erschienen in Ausgabe #54/2019
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Die Namen der Demütigen 

Nach dem Frühstück klettere ich 
Zaun um Zaun in meine Gedanken hinein 
und sehe, wie Herden sich zu natürlichen Maßen verlangsamen. 

Stundenlang die Nase am Boden, Gras aufnehmend, atmen sie Gras, 
Klee,Teilchen, aus der unscharfen,von feuchten Nasen 
getränkten Erde. Sie haben schon weite Ebenen zu Staub geatmet. 

Aber auf dem Maul einer Kuh,das Futter umkreist,dem steten Radius,
der sich bewegt (trockene Sonne),wenn sie sich bewegt,
gründen etwa zwei Drittel der Menschheit.Unsere Städte,unsere Kreise. 

Anfangs machen sie einen weiten Bogen um mich. Ich bin weiterhin harmlos, 
und einige grasen näher, allmählich.Es ist, als beobachte man ein Auftauchen. Personen. 

Wo die Spuren des Viehs boustrophedon 
auf den Hügel steigen, 
will ich die Namen aller Demütigen erkennen. 

*

Ein vielsagender Mangel in der Muttersprache der Fabriken:
wie sagt man ein Vieh? Kuh, Stier, Ochse,
doch nichts wie bos. Vieh ist bewegliche Habe, wird besessen

vom Menschen, dem Kastrierer,
Leib und Unschuld, Wiedergekäutes und Todesschrei und Rindfleisch.
Menschen im Busch sagen beast und meinen damit kein sagenhafteres Wesen,
und tatsächlich gibt es vom Mond bis hin zum Alphabet nicht viele.
Sicherlich war die kostbarste phönizische Fracht
der festgebundene, rauh atmende Ochse, zum Morgengrauen gewendet,
um ganz Europas Reise zu leiten.

*

So weit zurück,wie ich mit dem Blick des Nachfahren sehen kann,
weiter als Straßen oder der erste Pflug, sitzt ein Junge im kalten Hochland,
sanfter Venenzapfer, der Blutbrei löffelt,
seine Locken frisch geschmückt mit Mist, ein Speer in der Faust,
es sind noch Tausende Monde hin bis zum Rinderüberfall von Cooley,

und doch könnten wir gemeinsames Wissen finden, Verb-Wurzeln
und Substantiv-Rinde genug für ein abendliches Feuer, an dem man
Weisheiten über das Vieh austauscht,

obwohl es noch ein großes Jahr hin ist,
bevor Prithu aus der Göttin (Oh reich an Freude, kommt!)
 durch seine Finger hindurch in das umrandete Gefäß der Erde

Korn und Nutzgärten melken wird.
Wir sind noch lange vor
den Städten der Saatesser.

*

Ein Jerseyrind sieht mich mit Sherryaugen an.Gedankenfragmente,
die nicht zusammenkräuseln wollen, plagen sie,

es ist Klugheit, die zu entstehen versucht,

Verrat gab es schon genug und genug Äonen.
Oder doch nichts weiter als klares Sehen,
das steigen will bis an ihre Pupillen.

Ihre ruhigen Gaben alle zentriert,
ihre Stirn ein gehörntes Schild gegen Wölfe,
wiegt sie auf und ab wie ein Schiff am Horizont.

Die schwankende Knotenstange,an der die schweren Eingeweide hängen
(die sie grausam fallen lassen wird,wenn die Gelenke knicken),
ruht dennoch furchtlos in Enzym-Höflichkeiten,

ausgewogener als Erkenntnisse, die Gehirne besprenkeln.

Da ich meine Anwesenheit in das Gesetz versunken habe,
dass jedemWesen Platz zugeteilt werden sollte
je nach seinemAuftreten, entfalte ich eine Hand.

Sie geifert und erfüllt
ihren eigenen, schweren, uralten Erfolg
und bleibt und pumpt das einfachere,unendliche Grün.

*

Ihre Normandieknochen
der Flor ihrer Charolaisfarbe

die Zecken an ihrem Euter sind
Muskatellertropfen guten Blutes.

Wenn ich sie um eines beneide,
dann um ihren leichten Umgang mit dieser Epoche.
Ein Schwanzschlag links-rechts, rechts-links auf ihren Rumpf.

Wo die Spuren des Viehs
wie Reisterrassen zu den Hügeln steigen
will ich die Namen aller Demütigen aussprechen.


Allein die Bilder

Scharlachrot wie das über ein Schwert drapierte Tuch,
weiß wie dampfender Reis, blau wie Leschenaultien,
alte gegerbte Städte, der Frosch in seiner grünen Menschenhaut;
ein Pflüger, der wie mit Fußschellen durch seine Furchen stampft, aber
wie beim Freudengeschrei junger Männer, die wild durch Gänge
aus Ziegelstein laufen, erschien auf einmal der Gedanke,
schnelle Nadelstiche durch zerknüllte Seide:

als hätte er nach der Gewehrkugel springen müssen.

Ein Gestank wie Hände aus dem Boden.
Die Weiden hatten Perlenähnliches im Haar und
Peenemünde, stöhnte der Zahnarztbohrer, Peenemünde!
Die Hühner tippten auf jeder Maistaste weiter, Grün
verdrängte immer wieder das Rosa der Pfirsichbäume in den Himmel,
aber verbrauchte Sprechblasen trieben schäbig im Fluss
und Wasservögel hoben ab wie beim Rückruf der Gravitation.


Rechtes und linkes Gift

Man ist, was man hat
und: Um zu lieben, muss man hassen.
Zwei Gedanken, die Holocausts bringen
und Massen von Toten und Krüppeln.


Der Sinn der Existenz

Alles außer der Sprache
kennt den Sinn der Existenz.
Planeten, Bäume, Flüsse, Zeit
kennen weiter nichts. Sie offenbaren ihn
in jedem Augenblick als das Universum.

Selbst dieser närrische Körper
lebt ihn zumTeil, und hätte
in ihm seine volle Würde,
wäre da nicht die unwissende Freiheit
meines sprechenden Geistes.


Aus dem Englischen übersetzt von Margitt Lehbert. »Die namen der Demütigen« erschien in: »heilige kühe« © 2006 thomas reche/ edition rugerup; alle anderen in: »Aus einem See von Strophen« © 2014 edition rugerup.


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