Titelthema

Evolution einer großen Erzählung

Auf der Suche nach den Geschichten für morgen.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #7/2011
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Mittlerweile wird selbst in den großen Tageszeitschriften über die »Zivilisationsmaschine auf Pump« geschrieben. Harald Welzer (siehe Interview Seite 57–59) verwendete diesen Begriff kürzlich im Magazin der Süddeutschen Zeitung. »Die alten Bedingungen, das war die Verfügbarkeit eines ganzen Planeten für einen kleinen Teil der Menschheit und seine Wirtschaftsform. Mithilfe von Ressourcen aus aller Welt konnten die Industriestaaten eine fantastische Zivilisationsmaschine betreiben«, schreibt Welzer. »Die globalisierte Welt, die dem Prinzip der grenzenlosen Ressourcennutzung folgt, hat jedoch kein Außen, aus dem sie den nötigen Treibstoff beziehen könnte.«
Dem jüngsten Living Planet Report des WWF zufolge verbrauchen die Menschen weltweit jährlich bereits 50 Prozent mehr Ressourcen, als der Planet zur Verfügung stellt. Es ist nicht einfach, mit der Erkenntnis umzugehen, dass dadurch irreparable Schäden entstehen. Noch schwerer fällt die Einsicht, dass es eine Reihe erschreckend effektiver Nutznießer dieser Situation gibt, die nicht zu einem Umdenken bereit sein werden. Es ist auch keine Minderheit, die heute den Standpunkt vertritt: »Lasst uns unsere Freiheit, unseren Wohlstand und unsere Industrie nicht durch dümmliche und naive Ökospinner kaputtmachen …« (Aus einer Spiegel-Online-Diskussion über Ecuadors Initiative zum Schutz des Yasuni-Nationalparks).

Auf der Suche nach Motiven der neuen Erzählung
Am Schluss seines Beitrags kommt Harald Welzer auf die Notwendigkeit zu sprechen, eine neue Erzählung über die Zukunft zu finden: »Diese Gesellschaft erzählt keine Geschichte über das, was sie sein möchte, sondern lediglich noch eine über das, was sie einmal gewesen ist.«
Von einer »großen neuen Erzählung« als Rahmenhandlung für den Weg in eine hellere Zukunft, die als positive Vision am Horizont erscheint, war schon in Oya 1 im Zusammenhang mit der Idee der Gemeingüter die Rede. Seitdem sind wir intensiv auf der Suche nach Motiven für diese Erzählung. Niemand kennt die ganze Geschichte, niemand wird mit einem großen Wurf plötzlich aus der stillen Kammer kommen und sie vortragen. Vielleicht ist sie irgendwann »da«, weil einzelne Geschichten landauf, landab erzählt werden und sich zu einem großen Ganzen verweben.
Ein paar wenige Motive der Geschichte wagen wir inzwischen ansatzweise zu benennen. Eines könnte mit der Überwindung von Isolation zu tun haben. Isolation meint hier einerseits die fortschreitende Vereinsamung des Einzelnen und andererseits die Isolation einer Kultur als Ganzer, die den Menschen als das einzig bedeutungsvolle und zu rettende Lebewesen des Planeten betrachtet. Kann aus der Einsicht, dass vor allem das Füreinander-Sorgen – das Miteinander – ein gutes Leben ermöglicht, und nicht in erster Linie Konkurrenz, Effizienzsteigerung und materieller Reichtum, eine positive Zukunftsvision entstehen?
Ein weiteres Motiv der Erzählung wird die Freiheit sein, der Drang, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Freiheit der menschlichen Kultur gehört seit der Antike zu den Grundthemen der traditionellen großen Erzählungen des Abendlands. Wie gelingt es, die Idee von der Freiheit nicht in einen Gegensatz zum Motiv der Verbundenheit des Menschen mit allem Leben zu stellen? Was ändert sich, wenn anstelle von »nachwachsenden Rohstoffen« andere Mit-Lebewesen Teil der Zukunfts-Erzählung werden?
Auch Wachstum scheint ein wichtiges Motiv. Im Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum droht der schöne Begriff negativ belegt zu werden. Aber eine Erzählung ohne die Aussicht auf Wachstum der Kultur hätte wenig Anziehungskraft. Kann sich der Wachstums­impuls auf das Gemeinwohl ausrichten? Die Geschichte über die Zukunft wird von materiellem Verlust handeln. Kann sie dennoch weitaus attraktiver wirken als die Talfahrt der Gegenwart, wenn sie als Ziel eine ständig wachsende ­soziale, kulturelle und biologische Vielfalt und Fülle vor Augen hat?
Die zukunftsweisenden Lösungsvorschläge in aller Welt, die von einem solchen Geist getragen sind, zeigen komplementäre Züge. Das zeigt sich im Schlagwort »global denken, lokal handeln«. Auf der einen Seite steht der Impuls, sich auf das Lokale und Gemeinschaftliche zu besinnen, auf regionale, nachhaltige Wirtschaftskreisläufe, auf die Pflege von Gemeingütern. Wünschenswert erscheinen überschaubare, partizipative politische Strukturen, eine gewisse Subsistenz und gemeinschaftlich orientierte Lebens- und Arbeitszusammenhänge. Dem komplementär zur Seite steht der Wunsch nach weltweiter Vernetzung, einem global gesicherten Schutz von Gemeingütern, kultureller Offenheit, individueller Freiheit und selbstbestimmter Arbeit. Je mehr es gelingen wird, beide Impulse als komplementäre Elemente anstelle von Gegensätzen darzustellen, desto mehr wird die Erzählung an Kraft gewinnen.
Aus vielen Beiträgen in Oya 7 spricht die Suche der Autorinnen und Autoren nach einer Balance zwischen der Begeisterung für die positive Dynamik des kulturkreativen Wandels und einem unverstellten, skeptischen Blick auf die Massivität der Herausforderungen. Erst diese Balance macht handlungsfähig. Uns scheint, dass die Seite der Skepsis noch allzu oft Übergewicht bekommt. Wir möchten die Vielfalt der positiven Ansätze in Zukunft noch stärker deutlich machen. Ein Schritt in diese Richtung wird eine Linkliste auf www.oya-online.de zu Akteuren und Organisatoren des kulturkreativen Wandels sein. Denn was auf der nebenstehenden Seite zu sehen ist, bezeichnet nur einen kleinen, willkürlichen Ausschnitt von einer großen, sehr großen Bewegung.  

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