Lernen von den Urbakterien: Für eine Kultur der Kooperation.von Elisabet Sahtouris, erschienen in Ausgabe #8/2011
Energie-, Wirtschafts- und Klimakrise stellen uns weltweit vor die größte Herausforderung in der Menschheitsgeschichte. Das sollten wir feiern. Warum? Weil sie uns die Gelegenheit gibt, unseren Lebensstil gründlich zu überprüfen. Wir leben in einer Zeit, die uns die einzigartige Chance bietet, die Welt zu erschaffen, nach der wir uns im Innersten sehnen! – Ist das ein eitler Traum oder ein esoterischer Aufruf à la »Erschaffe deine eigene Realität«? Tatsächlich haben wir unsere gegenwärtige Realität selbst erschaffen. Sie wurde uns weder durch das Schicksal noch durch andere Kräfte von außen auferlegt. Gibt es jemand, der leugnet, dass wir das Ökosystem unseres Planeten ausbeuten und unsere Luft mit Schadstoffen verpesten? Waren wir bei der Wahl unserer Energieerzeugung alternativlos, oder hat uns Mutter Erde unser Geldsystem aufgezwungen? Eben. Am Anfang stand die Vision unserer konsumorientierten Wirtschaft und der technologischen Naturausbeutung, dann ließen wir sie Wirklichkeit werden. Während einige menschengemachte Systeme auf Jahrtausende der Nachhaltigkeit angelegt waren, erkennen wir heute nach nur wenigen Jahrhunderten, dass das derzeit dominierende System nicht nachhaltig ist – ein Grund zum Feiern! Denn ohne diese überlebenswichtige Erkenntnis sähen wir keine Notwendigkeit, unseren Lebensstil zu ändern. Wir sollten nun beherzt in die Fußstapfen vieler Vorläuferarten treten, die uns auf diesem Weg Inspiration und Wegweiser sein können.
Ökonomie und die Krise als Chance Als Essenz einer Ökonomie definiere ich die Beziehungen, die erforderlich sind, um Rohstoffe zu gewinnen, diese zu nützlichen Produkten umzuwandeln, zu verteilen und zu nutzen oder zu konsumieren sowie nicht konsumierte Teile zu recyceln. Das gilt nicht nur für unsere menschengemachte Ökonomie, sondern ebenso für die globale Ökonomie der Ökosphäre oder die hochkomplexe Ökonomie unseres Körpers. Die Erde mit ihren mehr als vier Milliarden Jahren ökonomischer Erfahrung kann uns dabei eine Lehrerin sein. Weil die Natur recycelt, was nicht konsumiert wird, konnte sie aus den immerselben Rohstoffen ein unendliches Maß an immer komplexerer Vielfalt und Resilienz (= Widerstandskraft) hervorbringen. Solange ihr die Sonne Licht schenkt, wird sie dies auch weiterhin tun, mit oder ohne uns – obwohl oder vielleicht gerade weil sie immer wieder Krisen durchläuft, die ihre Kreativität befeuern. Derzeit bewegen wir uns rasant auf eine Heißzeit zu, die es so zuletzt vor 55 Millionen Jahren gab. Unsere junge Spezies überlebte mindestens ein Dutzend Eiszeiten. Erst seit der letzten herrscht das aus menschlicher Sicht milde stabile Klima, in dem sich unsere Zivilisation entwickelte. Das war nur möglich, weil die letzte Heißzeit und dazu ein erderschütternder Meteor die riesenhaften Reptilien auslöschten und eine kreative Welle der Säugetier-Evolution in Gang setzten. Was den einen eine Krise, ist den anderen eine Chance. Ähnlich im Kambrium vor 520 Millionen Jahren, wo eine der größten Krisen der Erdgeschichte zu einer Chance gewendet wurde. Die klimatischen Bedingungen jener relativ kurz auf eine globale Vereisung folgenden Zeit ähnelten denen, auf die wir heute zusteuern: warme Meere und eisfreie Pole. Durch Anpassung füllten bestimmte Arten bei dieser »kambrischen Explosion« Nischen, die durch das Aussterben anderer freigeworden waren: Krise für die einen, Chance für die anderen.
Von den Urbakterien lernen Gehen wir noch weiter zurück: Bis vor etwa zwei Milliarden Jahren hatten Archaeen (= Urbakterien) die ganze Erde für sich. Durch ihre erstaunlich vielfältigen Lebensstile veränderten sie Landflächen, Meeresböden und die Atmosphäre dramatisch. Obwohl sie ökonomische und technologische Entwicklungen vorwegnahmen, mit deren Erfindungen wir Menschen uns brüsten – die Nutzung von Solarenergie, den Bau von »Elektromotoren« und die Entwicklung des ersten »World Wide Web« –, wird ihre Bedeutung außerhalb der akademischen Welt noch viel zu wenig verstanden: Sie waren die ersten Lebewesen, die mit außergewöhnlichen Reaktionen einer globalen, selbstverursachten Krise begegneten. Nachdem sich die ersten Archaeen über die ganze Erde verbreitet und sämtliche verfügbare Nahrung – durch UV-Strahlung der Sonne entstandene Kohlenhydrate und Säuren – aufgezehrt hatten, reagierten sie, indem sie ihren Genvorrat und ihren Stoffwechsel so veränderten, dass sie die Sonnenenergie durch Photosynthese zur Nahrungserzeugung nutzen konnten. Auf uns übertragen, wäre damit unser Energiebedarf ein für allemal gedeckt. Hatten Bakterien zuvor im Meer und unter der Erde Schutz vor der Sonne suchen müssen, so erfanden sie nun als Sonnenschutz fungierende Enzyme und ernährten sich fortan von Sonnenlicht, Mineralien und Wasser. Während sie florierten, verursachten sie prompt die nächste globale Krise – und wendeten sie erneut zur Chance: So wie heutige Pflanzen, die den Lebensstil der Photosynthese erbten, atmeten auch die Archaeen Sauerstoff aus. Da es noch keine sauerstoffhungrigen Wesen gab, sammelten sich, nachdem Meere, Felsen und Erdboden so viel Sauerstoff wie möglich gebunden und sich durch Korrosion rot gefärbt hatten, in der Atmosphäre gefährlich große Mengen des aggressiven Gases an. Durch diese »Verschmutzung« entstand die Ozonschicht, die zu einem weiteren Rückgang der alten Nahrungsversorgung führte, da die UV-Strahlung die Atmosphäre nicht mehr ungehindert passieren konnte. Abermals reagierte das Leben mit der Erfindung eines neuen Lebensstils, bei dem Nahrungsmoleküle durch Sauerstoff zersetzt werden. Diesen bis dato biologisch aufwendigsten Lebensstil haben wir übernommen und bezeichnen ihn als »Atmen«. Bakterien, die Sauerstoff einatmeten, atmeten das Kohlendioxid aus, das Photosynthese betreibende Lebewesen benötigten, und schlossen so den Kreislauf des Gebens und Nehmens, den wir noch heute weiterführen. Doch das Leben speist sich daraus, dass es dynamisch zwischen Problem und Lösung hin- und herschwingt. Das Problem: Die »Atmer« brauchten Nahrungsmoleküle, die zersetzt werden konnten, während die Nahrung knapper wurde. Die Lösung: Sie erfanden in ihre Zellmembran integrierte »Elektromotoren« mit kleinen Geißeln als Propeller, die viel effizienter sind als heutige von Menschen gebaute Motoren. Diese High-Tech-Atmer bohrten sich in große, schwerfällige, fermentierende Bakterien, die ich »Blubberer« nenne. Dies eröffnete die Ära der bakteriellen Kolonialisierung, bei der die Atmer in die Blubberer eindrangen, um deren »Rohstoff«-Moleküle auszubeuten und sich dort durch Teilung zu vermehren. Oftmals hatte dies den Tod der Wirte zur Folge.
Kooperation statt Konkurrenz Schließlich entdeckten die Archaeen die Vorteile von Kooperation gegenüber der Konkurrenz: Es ist energieeffizienter, einen Feind zu füttern als ihn zu töten. Durch die Entwicklung unterschiedlicher Lebensstile konnten sie in einem weltumspannenden Datennetzwerk DNA-Gene zwischen verschiedenen Bakterienarten austauschen: Jedes Bakterium hatte freien Zugang zur DNA-Information eines jeden anderen Bakteriums. So bildeten sie unzählige verschiedene Körperformen, Lebensstile und Rollen aus. Es entstanden gigantische Kollektive mit hochdifferenzierter Arbeitsteilung, aus denen sich die kernhaltigen Zellen herausbildeten, aus denen auch wir bestehen. Wie Lynn Margulis herausfand, könnte dies begonnen haben, als eindringende Atmer spürten, wie ihr Blubberer-Wirt geschwächt wurde. Gemeinsam machte man sich auf, um mit Hilfe von Photosynthese betreibenden Blaualgen die ganze Kolonie mit Nahrung zu versorgen. Die Motoren der Atmer sorgten für Bewegung, indem sie mit vereinten Kräften die Zellmembran der Blubberer bearbeiteten, um die Kolonie ins Sonnenlicht zu bewegen, wo die Blaualgen wirken konnten. In solchen Kooperativen steuerte offenbar jede Bakterienart die DNA, die nicht zur Erfüllung ihrer Spezialaufgabe erforderlich war, zu einer gemeinsamen Gen-Bibliothek bei, die zum neuen Zellkern wurde. Bis heute enthalten unsere Zellen und die der Pflanzen, Tiere und Pilze die Nachfahren dieser Archaeen. Nach einer weiteren Milliarde von Jahren hatten sich die kernhaltigen Zellen vom jugendlichen Konkurrenzkampf zur reifen Kooperation entwickelt. Im vorerst letzten Evolutionssprung waren Vielzeller entstanden, das Kambrium begann, und die Evolution gewann an Dynamik.
Unsere Reifeprüfung Entwickelt sich das Universum tatsächlich innerhalb eines Bewusstseinsfelds, wovon ich ebenso wie viele andere Wissenschaftler überzeugt bin, so lautet das wahrscheinlichste Arbeitsprinzip eines solchen selbstorganisierten Universums: Alles, was geschehen kann, wird geschehen. Am meisten interessiert mich dabei: Was verleiht Organismen gerade unter widrigen Umständen Nachhaltigkeit, sprich Dauerhaftigkeit? Meine Forschungen legen nahe, dass dies davon abhängt, ob Organismen eine harmonische Balance des Gebens und Nehmens mit ihrer Mitwelt aufbauen und so mehr oder weniger unabkömmlich für das große Ganze werden. Die Essenz der biologischen Evolution liegt in den oftmals durch Krisen hervorgerufenen Reifezyklen von der Konkurrenz zur Kooperation. Nachhaltige Arten erreichen die Phase der Reife und der Zusammenarbeit, während andere in Verhaltensweisen der Adoleszenz steckenbleiben und aussterben. Die einzigen anderen Lebewesen, die eine weltweite Krise selbst verursacht und auch wieder gelöst haben, die Archaeen, geben uns ein ermutigendes Beispiel: Setzen wir uns die Schaffung einer reifen, von Kooperation geprägten Weltwirtschaft zum Ziel, die ebenso erfolgreich, effizient und resilient ist, wie es unsere kernhaltigen Zellen sind. Wir Menschen verfügen über genügend Intelligenz und Wissen, um saubere, nachhaltige und gerechte Ökonomien zu schaffen, selbst auf einer heißeren Erde. Unser lebendiges Universum und unsere lebendige Erde weisen uns den Weg aus der Adoleszenzkrise in eine reife, globale Zukunft. Je früher wir ihn einschlagen, desto größer unsere Aussicht auf Erfolg. Gut möglich,dass dies die lohnendste und schönste Herausforderung ist, vor der wir je standen!
Von Matthias Fersterer aus dem Englischen übersetzter Auszug aus: Celebrating Crisis. Towards a Culture of Cooperation. In: David Lorimer (Hrsg.): A New Renaissance. Transforming Science, Spirit & Society. Floris Books, London, 2010.
Elisabet Sahtouris, Ph. D., (75) ist Evolutionsbiologin, Zukunftsforscherin, Autorin und Beraterin. Sie lehrte an der Universität von Massachusetts und am M.I.T. die Bedeutung sich entwickelnder biologischer Systeme für das Design von Organisationen und reist heute als gefragte Vortragsrednerin und Seminarleiterin durch die Welt. Elisabet Sahtouris gehört zu einer Vorreitergruppe von Wissenschaftlern, die die klassische mechanistische Weltsicht für überholt halten. Ihr besonderes Anliegen gilt der Erhaltung nachhaltigen Wohlergehens der Menschheit als Teil des umfassenden Lebensnetzes der Erde. Von ihren zahlreichen Büchern ist »Gaia. Vergangenheit und Zukunft der Erde« auf Deutsch erschienen (Insel, 1993). Sie war Beraterin der UNO für indigene Völker und nahm an den Synthesis-Dialogen mit dem Dalai Lama in Dharamsala teil. Sie berät Unternehmen und Regierungsorganisationen in Australien, Brasilien und den USA. Elisabet Sahtouris ist Mitglied des World Wisdom Councils des Club of Budapest.