Wie die Zapatistas seit Jahrzehnten ihre subsistente Lebensweise verteidigen
und nun Projekte in Europa besuchten.von Friederike Habermann, erschienen in Ausgabe #66/2021
Sie sind da. Unglaublich, aber sie sind wirklich da! Und sie frühstücken mit uns, hier in unserem Gruppenraum, hier in unserem Haus, da, wo unser Alltag stattfindet: »echte Zapatistas« aus dem Lakadonischen Urwald im Südosten Mexikos, von jener indigenen Widerstandsbewegung, die auf das nach dem am Ende des Kalten Krieges ausgerufenen »Ende der Geschichte« antwortete: »Falsch! Das, was ihr im Westen als Sieg des Kapitalismus zelebriert, beruht auf der seit 500 Jahren andauernden Ausbeutung. Und jetzt reicht es! ›Ya basta!‹«
Unser Leben war weniger wert als die Maschinen und Tiere. Wir waren wie Stein, wie Gräser auf den Wegen. Wir hatten kein Wort. Wir hatten kein Gesicht. Wir hatten keinen Namen. Wir hatten kein Morgen. Wir existierten einfach nicht.
Für die Macht, die sich heute weltweit mit dem Namen ›Neoliberalismus‹ kleidet, zählten wir nicht, wir produzierten nicht, wir verkauften nicht. Wir waren eine nutzlose Nummer für die Konten des Großkapitals.
Der Berg riet uns, zu den Waffen zu greifen, um so eine Stimme zu haben, er riet uns, unser Gesicht zu bedecken, um so gesehen zu werden, er riet uns, unsere Namen zu vergessen, um so genannt zu werden, er riet uns, unsere Vergangenheit zu bewahren, um so ein Morgen zu haben.«
»Wir gingen und sagten den Mächtigen: ›Hier sind wir!‹, und der ganzen Welt riefen wir zu: ›Hier sind wir!‹ Und schaut, wie die Dinge stehen: Damit ihr uns seht, haben wir unser Gesicht verborgen, damit ihr über uns sprecht, verweigern wir unsere Namen, und um zu leben – sterben wir. Und dann kamen die Flugzeuge und die Hubschrauber, die Panzer und die Bomben, die Kugeln und der Tod, und viele Leute aus vielen Orten sagten: ›Sprecht mit ihnen‹, und die Mächtigen sagten zu uns: ›Sprechen wir miteinander‹, und wir sprachen miteinander, und wir sagten ihnen, was wir wollten, und sie verstanden nicht recht, und wir wiederholten ihnen, dass wir Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit wollten, und sie machten ein Gesicht, als würden sie nichts verstehen, und gingen ihre makro-ökonomischen Pläne und ihre ganzen Aufzeichnungen über den Neoliberalismus durch, und diese Wörter waren nirgendwo zu finden. ›Wir verstehen nicht‹, sagten sie zu uns und boten uns eine hübschere Ecke im Museum der Geschichte an und einen längerfristigen Tod und eine goldene Kette, um die Würde zu fesseln.
Und damit sie verstanden, was wir wollten, machten wir in unseren Gebieten also das, was wir machen wollten. Mit dem Beschluss der Mehrheit organisierten wir uns und machten uns daran, Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu leben.
Subcomandante Marcos, aus: »Chiapas und die Internationale der Hoffnung«
25 Jahre später mache ich mich daran, »unseren« Zapatistas mit meiner Drückerkanne Kaffee aufzubrühen. »Kein Espresso!«, war uns schon vorher aus anderen Orten verraten worden. Abends hatten wir bei der Ankunft der Compañeros angeboten, dass sie als Gruppe zum Frühstück unter sich bleiben könnten, doch sie wählten das gemeinsame mit uns. Klar, die in der Öffentlichkeit stets getragenen Masken sind hier beim Essen abgelegt. Wir sitzen in kleiner Runde, sie zu fünft, wir nicht viel mehr, selbst in unserer Szene haben wir nicht dafür geworben, denn es sollten kleine Gruppen auf kleine Gruppen treffen. Wie an anderen Orten ihrer Rundreise auch, ist bewusst auf Öffentlichkeit verzichtet worden. Sie kommen, um von uns zu lernen, hatten sie vorher bekundet. Um von allen widerständigen Praktiken zu lernen im Kontinent Slumil k‘ajxemk‘op – das ist ihr neuer Name für Europa: »Rebellisches Land«, oder: »Land, das nicht aufgibt«.
»Wir wurden nie besiegt«
Sie haben selbst nie aufgegeben. Am 13. August 1521 erklärte Hernán Cortés, einer der spanischen Eroberer, die Indigenen Amerikas für besiegt – inmitten von Leichen auf den Straßen der damaligen Hauptstadt der Azteken, Tenochtitlan, heute überbaut von Mexiko-Stadt. Das war keine 30 Jahre nach der sogenannten Entdeckung Amerikas durch europäische Eroberer. 500 Jahre später, am 13. August 2021, erklärte in der spanischen Hauptstadt Madrid nun umgekehrt die Vorhut der zapatistischen Delegation, bestehend aus vier Frauen, zwei Männern und einer explizit nicht-binären Person: »Wir wurden nie besiegt.«
Was heißt es, voneinander aus so unterschiedlichen Wirklichkeiten zu lernen? Es gibt ein »Comunicado« anlässlich dieser Reise. Darin schreiben sie, »dass der Zapatismus nicht exportiert werden kann, nicht einmal auf dem Gebiet von Chiapas, sondern dass jeder Kalender seiner und jede Geographie ihrer eigenen Logik folgen muss«. In dieser »Erklärung für das Leben« heißt es aber auch: »Uns vereinen nur sehr wenige Dinge: Die Tatsache, dass wir uns die Schmerzen der Erde zu eigen machen ... Das Verständnis, dass für diese Schmerzen ein System verantwortlich ist. Der Henker stellt ein ausbeuterisches, patriarchales, pyramidenförmiges, rassistisches, räuberisches und kriminelles System dar: den Kapitalismus. Das Wissen, dass es nicht möglich ist, dieses System zu reformieren, zu erziehen, abzumildern, zurechtzufeilen, zu zähmen, zu humanisieren. Die Verpflichtung, zu kämpfen, überall und jederzeit – alle auf ihrem Gebiet – gegen dieses System, bis es vollständig zerstört ist. Das Überleben der Menschheit hängt von der Zerstörung des Kapitalismus ab.«
»Unsere« fünf Zapatistas sind müde. Gestern hatten wir sie schon begleiten dürfen und für sie übersetzt. Bis zum frühen Nachmittag sprachen sie in Göttingen mit BIPoC, also Schwarzen Menschen, indigenen Menschen und People of Colour (Menschen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind). Spät nachmittags hatten sie eine Veranstaltung in einem befreundeten Projekt im Nachbardorf. Danach fand noch ein etwas größeres Event mit Menschen aus der dortigen Dorfvernetzung statt. Doch die unterschiedlichen Wirklichkeiten prallen oft unbemerkt aufeinander. Als es abends um Öko-Landbau ging, fragte ich mich: Haben die Leute aus dem Nachbardorf eigentlich vor Augen, wie die Zapatistas ihren Kaffee unauffällig zwischen den Bäumen des Urwalds anbauen? Oder beim Thema Geschlechtervielfalt: Wie vergleichbar sind die ge- und erlebten Realitäten?
In der »Erklärung für das Leben« heißt es weiter: Uns verbindet auch die »Überzeugung, dass es viele Welten sind, die auf der Erde leben und kämpfen. Und jeder Anspruch auf Homogenität und Hegemonie verstößt gegen die Essenz der menschlichen Wesen: ihre Freiheit. Die Gleichheit der Menschheit liegt in der Respektierung der Differenz. In ihrer Diversität liegt ihre Ähnlichkeit. Die Erkenntnis, dass es nicht der Anspruch ist, unseren Blick, unsere Schritte, unsere Begleitungen, Wege und Ziele aufzuzwingen, der es uns erlaubt voranzuschreiten, sondern das Hören und Sehen des Anderen, welches – verschieden und -unterschiedlich – dieselbe Bestimmung zu Freiheit und Gerechtigkeit hat.«
Wir bei uns im »Leinehaufen«, wie wir unsere Gemeinschaft nennen, hatten extra einen ruhigen, für die Zapatistas einigermaßen erholsamen Vormittag geplant. Doch von der überregionalen Koordination erfuhren wir am Abend davor: Das gemeinsame Mittagessen wurde gestrichen – sie würden nun schon um 12 Uhr abgeholt werden zum »rebellischen« Camp. Es bleibt eine anstrengende Reise.
Vor 25 Jahren war ich in den Lakadonischen Urwald gereist, als eine von über 3000 zu einem weltweiten – auch »intergalaktisch« genannten – Treffen. Wir waren fasziniert von diesem erstmals auf der Weltbühne formulierten Ansatz, nicht um die Macht zu kämpfen, sondern gegen sie: »Es ist nicht nötig, die Welt zu erobern. Es genügt, sie neu zu erschaffen. Durch uns. Heute.« Ein Ansatz, der doch gleichzeitig bereits in vielen Ecken und Rissen der Welt gelebt wurde. Auch heute noch, im Jahr 2021, steht er unter einem Aufruf zur Demonstration »Für das Leben, gegen den Kapitalismus« in Frankfurt am Main.
Die Zapatistas nahmen ihn in der Zwischenzeit ernst. Gemäß ihres Grundsatzes »Gehorchend befehlen«, bauten sie in ihren Dörfern demokratische Strukturen auf. Wollte die mexikanische Regierung in den anfänglichen Verhandlungen eine Antwort, so dauerte es Wochen, bis diese entstanden war. Seitdem haben sich ihre Organisationsformen weiterentwickelt – immer im Bemühen, Hierarchien abzubauen und Helden zu vermeiden. So ließ sich die anfängliche Galionsfigur Subcomandante Marcos »sterben«. Das »Sub-«, also »Unter-«, war bereits bewusst gewählt gewesen, um anzuzeigen, dass Marcos als einziger Nicht-Indigener sich unter die indigenen Comandantes stellte. Doch seine Stilisierung zum Helden – so nützlich sie auch immer wieder erscheinen mochte, wenn es ums Gesehenwerden ging – passte nicht ins zapatistische Konzept. Und so existiert Marcos nicht mehr. Allerdings gibt es inzwischen einen neuen Subcomandante: Galeano, benannt nach einem gefallenen Compañero.
Wiedergutmachung statt Strafe
Alle haben sich an Kaffee, Brot, Obst und roten Bohnen gütlich getan. Wir machten eine kurze Runde, wer wir sind, was wir tun. Danach reichte die Zeit für ein einziges Thema, das wir vertiefen können, um von den Zapatistas zu lernen: Ihr »Strafsystem«, oder besser: ihr Umgang mit Vergehen. Es erwies sich als typisches Beispiel für »Restorative Justice« (wiedergutmachende Gerechtigkeit), wie verstärkt diskutiert seit den »Black Lives Matter«-Protesten in den USA und den damit verbundenen Forderungen »Defund the police« (Streicht der Polizei die Mittel) oder sogar »Abolish the police« (Schafft die Polizei ab): Die Person, die die Tat begangen hat, und das Opfer werden beide gehört. Sie können sich beide von Menschen, die ihnen nahestehen, unterstützen lassen. Auf diese Weise hat insbesondere auch das Opfer eine Möglichkeit, für sich einen Umgang mit dem Erlittenen zu finden, statt nur bezeugen zu dürfen. Abgesehen von kurzem Einsperren zur Gefahrenverhütung, etwa bei Betrunkenen, gibt es in Chiapas keine Gefängnisse. Zur Wiedergutmachung wird Arbeit für die Gemeinschaft verhängt – grob gesprochen: je gravierender das Verbrechen, desto länger (es können auch Jahre sein), und desto weiter entfernt von der Heimat. Doch Verallgemeinerungen gibt es nicht. Alles hängt vom einzelnen Fall ab. Ob das Opfer dann aber nicht doch manchmal noch Angst habe? »Nein, denn dann wäre der Prozess noch nicht zu Ende«, ist die Antwort.
Im Anschluss reichte die Zeit nicht einmal dafür, dass meine Mitbewohnerin Ernst ihr extra als Milpa-Feld angelegtes Stück Garten zeigen konnte, wo sie – genau wie die Zapatistas – Mais, Bohnen und Kürbis mischt. Ob wir das künftig immer machen werden? Diese als Symbiosepflanzen geltenden »drei Schwestern« halten auch Dürresommer aus.
Wir packten noch schnell Proviant ein, einschließlich etwas geretteter Schokolade, während die Compañeros im Umsonst-laden schauten, was sie gebrauchen konnten – da wurden sie auch schon abgeholt, zum großen Zusammentreffen mit den anderen Delegationen, als Abschluss ihrer Zeit in Deutschland. -Worum geht es dort?
Eine Welt tanzen …
Mit ihrer Reise und ihrer »Erklärung für das Leben« wollen die Zapatistas »nur darauf hinweisen, dass die soziale Konterrevolution möglich ist. Sie ist nicht nur möglich, sondern sie wird ständig lauern, weil sie versuchen werden, jeden äußeren Kampf zu vernichten.« Dies sei keine ermutigende Übung: »Unsere Möglichkeiten sind minimal.« Aber welche Möglichkeiten hatten sie 1993 als indigene Gemeinschaft mitten in einem Urwald? Keine. Und ergriffen sie. »Genug damit. Was uns Zapatistas wachhält, ist nicht die Herausforderung, die durch diese sehr kleine Wahrscheinlichkeit gestellt wird, sondern wie die Welt weiterbestehen wird; jene, die auf der immer noch rauchenden Asche des Systems beginnt aufzutauchen. Was werden ihre Formen sein? Und vor allem, und das ist grundlegend, wie wird diese Welt tanzen?« Um gleich hinzuzufügen: »Ihr werdet sehen, eine Welt zu tanzen, ist einfacher, als sie sich vorzustellen.«
Kaum sind sie weg, wirkt es irreal, dass sie jemals dagewesen sein sollen. Der gefühlten Leere entweiche ich nach Kassel auf das Vernetzungstreffen jener Initiativen, die gemeinschaftsgetragenes Wirtschaften betreiben und sich unter der Abkürzung CSX für »Community Supported Everything« zusammengeschlossen haben. »Alles allen, für uns nichts« – damals in den Neunzigern hatte ich diesen zapatistischen Spruch nicht verstanden. Warum wollten nicht auch sie ihren Teil vom Ganzen abbekommen? Erst als ich begann, Commons zu verstehen, erkannte ich den Sinn dieser Worte: Nicht um gleich viel Privateigentum für alle geht es, sondern um das demokratisch organisierte Inbesitznehmenkönnen nach Bedürfnissen. Was ich mir erst mühselig erschließen musste, war in Chiapas, wie bei vielen Indigenen weltweit, in vielen Aspekten gelebte Selbstverständlichkeit.
Diesen Artikel schreibe ich im Zug – allerdings erst einen halben Monat später, auf meinem Weg zum ersten bundesweiten Vernetzungstreffen nach der Weiterreise der insgesamt 170 Zapatistas nach Frankreich und in die Benelux-Länder. Was werden wir in Frankfurt am Main wohl beschließen, wie es weitergeht?
Nun, was auch immer – Zapata vive, la lucha sigue! Der Kampf geht weiter. Weiter auf dem Weg zum Horizont, der die Utopie abbildet und sich verschiebt, während wir gehen. So sagen es die Zapatistas: Caminamos preguntando. Wir gehen fragend. //
Friederike Habermann (54), promovierte über den »Homo oeconomicus und das Andere« und forscht als freie Wissenschaftlerin zu Herrschaftsverhältnissen, Emanzipation und Widerstandsbewegungen. ansteckendsolidarisch.de
Revolutionäre Subsistenz
In der Neujahrsnacht 1994 – zeitgleich trat das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft – erhoben sich indigene Menschen aus dem Urwald im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, indem sie die lokalen Kleinstädte besetzten. In Kontinuität mit den Aufständischen der Revolution von 1910 und deren Anführer Emiliano Zapata (1879–1919) nannten sie sich »Ejército Zapatista de Liberación Nacional« (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung), oder kurz: »Zapatistas«. Hatten jene Aufständischen damals die Wiedereinführung von Allmenden (ejidos) erkämpft, so wehrten sie sich nun gegen deren mit NAFTA wieder ermöglichte Einhegung, sprich: Privatisierung. Außerdem forderten sie »Libertad, Justicia y Democracia«: Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie – und erkannten schnell, dass sie diese selbst herstellen müssen. Schon kurz darauf sollte dieser Aufstand als »erste Revolution des 21. Jahrhunderts« bezeichnet werden. Bis heute verteidigen die Zapatistas erfolgreich ihre Autonomie, und konnten im vergangenen Vierteljahrhundert ihre Selbstverwaltungsstrukturen weiterentwickeln. Dabei haben sie stets den Austausch mit anderen, ähnlich inspirierten Bewegungen aus aller Welt gesucht. In diesem Sommer war es ihnen – die angesichts staatlicher Repressionen ihre Gesichter nicht öffentlich zeigen – erstmals möglich, mit einer größeren Delegation von über 170 Menschen nach Europa zu reisen. Während mehrerer Monate besuchen sie, in Kleingruppen aufgeteilt, europäische Projekte und Bewegungen. //
Weiterlesen REDaktion (Hg.): Chiapas und die Internationale der Hoffnung, Neuer ISP-Verlag, 1997