Bildung

Adultismus sitzt tief in den Knochen

Warum auf den folgenden Seiten zwei
junge Menschen zu Wort kommen.
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Seit den Anfängen dieser Bildungsrubrik, die genaugenommen in den späten 1990er Jahren liegen, als Anke Caspar-Jürgens in der Vorgängerzeitschrift von Oya bereits eine solche Rubrik betreute, zieht sich eine Fragestellung wie ein roter Faden durch alle Ausgaben: Wie lässt es sich vermeiden, dass junge Menschen aufgrund ihres Alters diskriminiert werden? Heute wird für diese Form herabwürdigender Behandlung zunehmend der Begriff »Adultismus« verwendet. Anders als verwandte Diskriminierungsformen wie »Sexismus« oder »Rassismus«, wird dieser jedoch öffentlich nur wenig diskutiert. Nach wie vor halten es Erwachsene für selbstverständlich, weitgehend über Kinder und Jugendliche zu bestimmen. Auch wenn die Perspektive auf die Diskriminierung Jüngerer nicht ausdrücklich im Zentrum eines jeden Oya-Artikels über Bildung junger Menschen stand, ist doch die Voraussetzung für das Erscheinen eines solchen Texts, dass Kinder darin als selbstbestimmte Subjekte begriffen werden und nicht – wie es leider noch oft geschieht – als zu beschulende oder generell zu er-ziehende im Sinn von »zurechtzuziehende« Wesen.

Als Erziehungsberechtigte oder als Lehrkräfte haben Erwachsene die Macht, ihren Schutzbefohlenen jegliche Tätigkeiten zu verbieten, vorzuschreiben oder zu erlauben. Selbstverständlich gilt dabei das Recht der Kinder auf ein gewaltfreies Heranwachsen, aber was heute noch alles als »gewaltfrei« bezeichnet werden darf, ist zuweilen eine Ungeheuerlichkeit. Helen Britt beschrieb in Oya 45 in dem Artikel »Weil du jünger bist als ich«, wie sie eine Situation als Aushilfsbetreuerin einer Gruppe von Menschen an einer staatlichen Institution erlebte. Sie musste sich an die von ihrer Vorgängerin aufgestellten Regeln halten und durfte deshalb den Personen in ihrer Obhut weder erlauben, sich von ihrem Platz wegzubewegen, noch ohne Erlaubnis zu sprechen – und auf die Toilette zu gehen, war prinzipiell während der vorgegebenen Zeit verboten. Erst nach dieser Szene, die noch weitere restriktive Regeln beschrieb, rückte die Autorin mit der Information heraus, dass sie als Aushilfslehrerin in einer zweiten Klasse tätig war. Die Tatsache, dass Frauen nicht wählen oder studieren durften, war lange so normal wie der Umstand, dass in einer zweiten Klasse solche Regeln gelten können, ohne dass jemand die Gewalt darin erkennt. Wie fühlt sich das Kind, das schon lange nicht mehr still sein kann und mag oder auf die Toilette muss? Es wächst mit dieser Situation als Selbstverständlichkeit auf und wehrt sich nicht.

Dass die Erwachsenen bestimmen, ist für die meisten Kinder normal. Wenn sich ein Kind in den Kopf gesetzt hat, über eine Autobahn zu laufen, scheint das auch sehr nützlich zu sein. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um ein »Nein« in einer gefährlichen Situation, sondern um Diskriminierung – um Situationen, in die ich eine ältere Person nie bringen würde, weil sie sich dort ihrer Rechte beraubt oder herabgewürdigt fühlen würde, oder um das Gefühl von Ohnmacht junger Menschen angesichts von zwei Stunden voller Hausaufgaben an einem sonnigen Sommertag. Abstrakt gesprochen: Es geht darum, die Freiheit der Kinder als selbstbestimmte Individuen von klein auf an so ernst zu nehmen, dass die Situationen, in denen sie scheinbar beschnitten wird, von den Kindern als Ausdruck der Verbundenheit mit ihnen erlebt und mit zunehmendem Alter auch nachvollzogen und begriffen werden kann – und sei es, wie etwa im Fall akuter Dickköpfigkeit beim Wunsch, auf dünnem Eis Schlittschuh zu fahren,  im Nachhinein bei einer Tasse heißem -Kakao und einer Runde »Mensch ärgere dich nicht«.

Gleichwürdige Sorgebeziehungen

Wie sähe eine Welt aus, in der die Erwachsenen nicht automatisch die Bestimmenden sind, sondern in der Menschen unterschiedlichen Alters, die durch Sorgebeziehungen miteinander verbunden sind, ganz selbstverständlich ihre eigene Balance von Freiheit und Verbundenheit leben? Einen Vorgeschmack darauf gibt das umseitige Interview mit Medea Leinen, die auf eine freie demokratische Schule geht. Wie sich ein junger Mensch aus Berlin auf den Weg macht, Diskriminierung im eigenen Umfeld abzuschaffen, zeigt im Anschluss das Gespräch mit Lou von Lenski.

In loser Folge möchten wir künftig in der Bildungsrubrik Gespräche mit jungen Menschen zu diesen Fragen veröffentlichen. Das gibt auch uns Redaktionsmitgliedern Gelegenheit zu erkennen, wo unsere blinden Adultismus-Flecken liegen. Lara Mallien fiel beim Anhören der beiden Interviews etwa auf, dass sie viel mehr Redezeit für sich beansprucht hatte als die beiden jüngeren Interviewpartnerinnen. Auf dem Papier konnte sie dann Abbitte leisten, indem sie ihre eigenen Passagen kürzte. //


Wir freuen uns über Rückmeldungen an bildung@oya-online.de

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