Bildung

Mit Feuer und Regenbogen

Lou von Lenski weiß sich in einer Welt, die queere und junge Menschen diskriminiert, zu behaupten. Er berichtet Lara Mallien von ­Aufklärungsarbeit an der Schule und im Berliner Alltag.von Lara Mallien, Lou von Lenski, erschienen in Ausgabe #66/2021
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© privat

Lara Mallien: Lou, du bezeichnest dich als queer. Vermutlich hast du deshalb schon Diskriminierung erfahren. Sowohl dazu als auch zu einer anderen Form von Diskriminierung – und zwar derjenigen aufgrund des Alters – möchte ich dich heute fragen. Wir kennen uns seit drei Jahren. Auf unserem damaligen Zirkuscamp hattest du spontan für die Vorführung eine der Theater-Hauptrollen übernommen.  

Lou von Lenski: Ja, das war krass. Damals bin ich in letzter Minute eingesprungen, weil das Mädchen, das vorher die Rolle hatte, Angst vor der Aufführung bekam. Ich musste alles improvisieren, es gab nicht mal Zeit für eine Stellprobe.


Du wirktest ganz sicher, sprachst frei und geradeheraus. Hattest du denn damals schon viel Schauspielerfahrung?  

Naja, Schauspielerei ist der Beruf meiner beiden Eltern, und ich habe schon öfter Rollen synchronisiert. Auch in ein paar Fernsehfilmen habe ich mitgespielt.


Obwohl du dich weder eindeutig als Junge noch als Mädchen erfährst, werden die meisten Menschen in dir eine junge Schauspielerin sehen. Nur weil sie eben jung und weiblich sind, werden Frauen in diesem Beruf oft schlecht behandelt. Hast du davon etwas bei deiner Arbeit gemerkt?

 Eher nicht. Meine erste Rolle beim Synchron war in der Dokumentation »Human Flow« des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Ich musste darin nur sagen: »Möchtest du das haben«? Ein Freund meiner Mutter, der auch Synchronaufnahmeleiter ist, hat mich in vielen weiteren Filmen besetzt. Später hatte ich bei der Serie »ELSA«, die im Kinderkanal KIKA gesendet wurde, eine Hauptrolle. Danach kamen immer mehr Jobs im Synchronsprechen, weil ich meine Stimme gut verstellen kann. Ich spreche oft Mädchen zwischen drei und acht Jahren, weil meine Stimme sehr hoch ist.

Mein Eindruck ist, dass ich bei dieser Arbeit gut behandelt werde, aber ich werde nicht so gut bezahlt wie eine Erwachsene. Allerdings werden für die Kinder die Fahrtkosten übernommen, das ist bei den Erwachsenen nicht so.


Nicht nur Kinder, auch Frauen verdienen in der Regel weniger als Männer. Ich finde die Anfänge der Frauenbewegung vor über hundert Jahren sehr spannend. Parallel dazu fingen die Menschen an, auch Kinder mit mehr Respekt zu behandeln, als es damals üblich war.  Heute kämpfen queere Menschen für ihre Rechte.

Ich finde es schlimm, dass gleichgeschlechtliche Paare, die sich ein Kind wünschen und eines adoptieren wollen, so viele rechtliche Schwierigkeiten haben. Da wird erst alles mögliche geprüft, das finde ich ungerecht. Einmal habe ich auf Instagram Bilder gesehen von einem queeren Paar, das sich gefreut hat, endlich ein Kind zu haben. Dazu gaben Menschen hässliche Kommentare ab. Über so etwas muss ich weinen.


Ja, solche Hass-Kommentare sind schrecklich. Wie bist du denn auf das Thema »queer« gekommen?

 Durch einen Influencer. Ich habe mir viele Videos zum Thema angesehen. Irgendwann habe ich mir Notizen in ein Heft geschrieben. Das konnte ich gut benutzen, um zum Thema sexuelle Identitäten vor meiner Klasse einen Vortrag zu halten. Jetzt bereite ich noch einen zweiten vor, denn es haben noch einige Aspekte gefehlt. Zum Beispiel habe ich noch nichts über Menschen erzählt, deren sexuelle Identität sich fluide anfühlt oder die zwei verschiedene Identitäten gleichzeitig in sich fühlen, also »genderfluid« und »bi-gender«. Auch die Orientierung »omnisexuell« möchte ich noch mit hineinnehmen. All das interessiert mich sehr, ich muss mich darüber aber auch noch mehr informieren. Ich habe drei Monate gebraucht, um den Vortrag vorzubereiten, und er dauerte eine ganze Schulstunde. 


Wie haben die Leute in deiner Klasse darauf reagiert? 

 Gut! Für manche war das Thema ziemlich neu, eine Freundin hat mich mit weit offenen Augen angestarrt, als ich ihr sagte, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Dass ich mich als queer bezeichne, findet in der Schule zum Glück niemand seltsam.


Ich finde es gut, dass die üblichen Zuordnungen, wie Frauen oder Männer zu sein haben, heute stark hinterfragt werden – zum Beispiel das Vorurteil, dass Frauen vor allem emotional seien und eher nicht so intellektuell. Das hat mich als Kind schon fürchterlich gestört. 

Ach, das wusste ich gar nicht, dass man das so sagt. Bei uns in der Klasse heulen die Jungs jedenfalls häufiger als die Mädchen. Frauen sind ja auch stark, weil sie Geburten erleben können. Aber Feminismus steht auch für Gleichberechtigung, ich will hier nichts Schlechtes über Männer sagen. In der Queer-Bewegung löst sich das, was angeblich weiblich oder männlich sein soll, ja sowieso auf. Es geht darum, so zu sein, wie man sich eben von innen heraus fühlt. Meistens ist das anders als das, was Menschen von einem erwarten.


In unserem diesjährigen Zirkus-Theaterstück spielst du die lesbische Anführerin einer Bande von acht Gangsterinnen. Jede von euch hat ihre Spezialität. Es ist eine urkomische Szene, in der du sie der Reihe nach vorstellst, ihr habt euch dazu toll verkleidet. Wie kamt ihr denn darauf, solche Gestalten spielen zu wollen? 

Wir wollten unbedingt böse sein und überlegten uns dazu die schlimmsten Sachen. Die eine isst am liebsten gebratene Hände, die nächste raubt jede Woche sieben Banken aus; von der Gangster-Oma, die auf Brandstiftung spezialisiert ist, haben wir alles gelernt. Für unser Stück haben wir vor allem schwarze Verkleidungen ausgesucht, ich trage als Kontrast Strümpfe in Regenbogenfarben. In der Schule darf man irgendwie nie traurig oder mal im Spiel böse sein. Kinder sollen immer glücklich und lieb sein. Das wollten wir hier anders machen.

 

Das kann ich gut nachfühlen. Auch das Wilde, das Dunkle will mal raus. In der Mythologie gibt es viele schwarze Göttinnen, die stehen für Verwandlung. Dazu gehört auch die Tatsache, dass Menschen andere Lebewesen in den Tod schicken, um selbst zu leben – einfach nur, indem sie essen. Alles rund um Tod und Transformation wird ja bis heute tabuisiert. Ich glaube, ich selbst habe viel von dieser Energie, und wenn ich dich so beobachte, glaube ich, du auch. Du bist eine sehr gute Feuerspielerin. Warum machst du gerne Feuerakrobatik? 

 Ich habe es hier auf dem Zirkuscamp vor drei Jahren ausprobiert und mir dann Feuerspiel als Workshop ausgesucht. Der Feuerlehrer, Steven, kann uns das toll beibringen. Dabei kann ich alles rauslassen, was irgendwie an Ärger, Wut, Sorgen oder Angst in mir ist. Außerdem sieht es in der Nacht so toll aus. Hier jedes Jahr etwas dazuzulernen, macht Spaß. Wenn ich erzähle, dass ich mit brennenden Pois spielen kann, machen die Leute meist große Augen und haben Respekt.

Dabei muss ich an Göttinnen wie die indische Kali denken. Sie hat dunkelblaue Haut, viele Arme und zerstört, was auf der Welt lebensfeindlich ist. Gleichzeitig nimmt sie es in sich auf und verwandelt es in Gutes, so dass es neu geboren werden kann. Das Patriarchat hat solche Gestalten immer gefürchtet und dämonisiert. Sie sind für mich sehr queer.

Ich merke, wie es uns leichter fällt, über Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu sprechen, als über solche aufgrund des Alters. Dies ist ein so alltägliches, unsichtbares Phänomen. Ich versuche es nochmal: Erlebst du in deiner Familie, dass mit Kindern autoritär umgegangen wird? 

Mich hat es erstaunt, zu erfahren, dass es erst 2001 verboten wurde, Kinder zu schlagen. Meine Mutter und ich gehen auf Augenhöhe miteinander um, das ist sehr schön. Mit meinem Vater ist es schwieriger, er ist oft sehr autoritär und will immer bestimmen.


Bis heute ist es in vielen Familien so, dass die Eltern diejenigen sind, die über die meisten Belange bestimmen und entscheiden, und das Kind muss »folgen«. In der Schule wird es von den Kindern hingenommen, dass nicht von ihnen bestimmt wird, was wann zu lernen ist. Wie erlebst du deine Schule?

 Mit am meisten stört mich, dass wir Hausaufgaben machen müssen. Nur, weil wir kleiner sind, kann man uns das auftragen und so auch noch über unseren Nachmittag bestimmen. Die Lehrerinnen und Lehrer hören auch nicht auf uns, wenn wir sagen, dass etwas doof ist. In meiner Klasse will zum Beispiel niemand mehr Eurythmie machen. Es gibt immer die gleiche Musik und die gleichen Handbewegungen. Aber wir haben keine Chance, da was zu ändern. In Russisch lernen wir leider vor allem Gedichte. Dieses Jahr habe ich noch kein einziges wirklich ernsthaft auswendig gelernt, es interessiert mich einfach nicht. Aber meine Meinung ist da nicht gefragt, diese Gedichte müssen offenbar sein.


Das ist eben so normal. Ich frage mich, warum junge Menschen kaum dagegen protestieren. Frauen haben die »MeToo«-Bewegung gegründet, von der du ja weißt – Jugendliche könnten so etwas auch für sich tun. Dem steht wohl im Weg, dass Schulen auch schöne Seiten haben, so fällt die krasse Bevormundung meist nicht so auf.

 Ja, dass wir Epochenunterricht haben, also uns immer eine Zeitlang mit nur einem Thema beschäftigen, finde ich gut. Dadurch kann ich mir Zusammenhänge besser merken, als wenn jede Stunde etwas anderes drankommt.


Wie geht es dir in Berlin auf der Straße, bist du da schon von Erwachsenen blöd angeredet worden, weil du ein Kind bist? 

Ich selbst nicht, aber eine Freundin. Sie hatte ein hautenges Kleid an. Da hat ein Mann gepfiffen und gesagt: »Das ist viel zu kurz für dich, du bist noch zu jung dafür.« Wir sind beide zwölf Jahre alt und ziehen uns an, wie wir das wollen. Da habe ich kräftig zurückgemotzt. Ich wehre mich. Im Schwimmbad waren zum Beispiel mal Jungs, die »schwul« als Schimpfwort benutzt haben. Ich habe mich angegriffen gefühlt und gesagt, sie sollen das lassen. 


Ich finde es gut, wenn du dich wehrst und den jungen Leuten um dich herum dadurch auch Mut machst. Wenn du ihnen erzählst, dass Adultismus auch eine Form von Diskriminierung ist, könnt ihr euch in Zukunft vielleicht noch besser behaupten. Hab vielen Dank für das spannende Gespräch! //



Lou von Lenski (12) erlebt sich selbst als genderfluid und möchte mit allen Pronomen angesprochen werden. Er ist Feuerspieler, geht auf eine Waldorfschule, singt in einem Chor und ist als Synchronsprecherin tätig.


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