Titelthema

Kompostieren im Lebendigkeitsnetz

Warum wähnen Menschen sich getrennt vom nährenden Kreislauf? Ein ökofemini­stischer Blick auf unser Verhältnis zum Boden.
von Pauline Lürig, erschienen in Ausgabe #66/2021
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© Theresa Leisgang

Wenn ich meine abgeernteten Tomatenpflanzen für den Kompost kleinschneide, wenn ich Altpapier kleinreiße, Stück für Stück für Stück, dann kann ich gut meinen Gedanken nachhängen. Während meine Hände sammeln und vermengen, sinniere ich über meine Rolle in diesem lebendigen Kreislauf: Böden sind komplexe Gemeinschaften aus vielfältigen Mikroorganismen, Pilzen, Algen, Pflanzen sowie kleinsten, größeren und menschlichen Tieren. Die Erde umsorgt mich, indem sie mich trägt, nährt, buchstäblich erdet – und ich gebe ihr etwas zurück, indem ich einen kleinen Teil von ihr, nämlich den Komposthaufen vor mir, versorge.

Die feministische Wissenschafts- und Technikforscherin María Puig de la Bellacasa schrieb, dass aus eben diesem Gefühl gemeinsamer Lebendigkeit heraus fürsorgende Beziehungen von Menschen zu Böden entstehen können. Boden als lebendig zu begreifen, verändert den Umgang mit ihm. So schlicht diese Erkenntnis ist, so tief sitzt in unserer Gesellschaft das Bild von »Natur« als beherrschbarer Ressource, die angeeignet und nutzbar gemacht werden kann. Dieses moderner Naturwissenschaft, Ökonomie und Technik zugrundeliegende Weltbild, das die Autorin Minna Salami »europatriarchalisch« – aus Europa kommend, patriarchal geprägt – nennt, führte zur Illusion, dass der Mensch sich unabhängig von der Gemeinschaft des Lebendigen machen könnte. Von dieser Abspaltung rührt wohl auch der immer noch tiefsitzende Irrtum, Boden sei passive, unbelebte Materie. Doch Boden ist nicht Dreck, nicht Ressource, nicht handelbare Ware, nicht bloße Kohlenstoffsenke. Das weitreichende Beziehungsgeflecht in und auf dem Boden wird in der Bodenkunde »Bodennahrungsnetz« oder »Soil Food Web« genannt. In den Naturwissenschaften wird der Mensch jedoch nach wie vor außerhalb dieses Lebendigkeitsnetzwerks verortet. Was würde sich ändern, wenn ich mit meinen Erde umgrabenden Händen ein anerkannter Bestandteil dieses Gefüges wäre? Als Teil von Bodengemeinschaften wäre ich dann nicht mehr nur einseitige Konsumentin, sondern in der Verantwortung, mich nützlich zu machen, ja, selbst nährend zu sein.

Entgegen dem europatriarchalischen Naturbeherrschungsdenkens schuf die Evolutionsbiologin Lynn Margulis in den 1970er Jahren ein radikal neues Paradigma der Kooperation: Sie stellte die Symbiose, die zuvor als seltene Ausnahme im neo-darwinistischen Wettbewerb der Individuen galt, als essenzielles Prinzip der Evolution heraus. Auch die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing hält nach Geschichten Ausschau, die sich durch Kooperation entwickeln, anstatt weiter Expansions-, Eroberungs- und andere »Heldengeschichten« zu erzählen. In ihrem Buch »Der Pilz am Ende der Welt« bezeichnet sie kollaboratives Zusammenwirken als »Kontamination« und meint damit nicht etwa »Verunreinigung«, sondern »Transformation durch Begegnung« mit menschlichen und mehr-als-menschlichen Wesen. Unsere Körper – komplexe Biotope mit vielfältigen Mitspielenden wie Bakterien, Viren, Mineralien und Enzymen – erzählen Geschichten eben solcher Kontaminationen. »Die Kunst, auf einem beschädigten Planeten zu leben«, sei es, den prekären Zustand der eigenen Verletzlichkeit anzuerkennen und in der Kooperation die Voraussetzung für das Überleben einer jeden Spezies zu sehen.

Für mich persönlich ergibt sich daraus ein grundlegendes Gefühl des Eingewobenseins ins Netz des Lebendigen – durch wechselseitige artenübergreifende Abhängigkeit, Verantwortung und Sorgebeziehung. Das ermöglicht mir, in den, wie Tsing schreibt, »kapitalistischen Ruinen« unserer Zeit zu leben. Wenn »kontaminieren« also nicht »verunreinigen«, sondern »einander durchdringen« und »durch unerwartete Geschenke begaben« bedeutet, dann ist auch jede Vorstellung einer »Reinheit« – von Böden, Arten, Menschengruppen –, wie sie faschistischem »Blut- und Bodendenken« und anderen ausgrenzenden Ideologien zugrundeliegt, eine fatale Verkennung der Tatsachen.

Dürre als Ausdruck von Trennung

Wie (über)lebt es sich auf einer Planetin, deren Böden austrocknen, deren klimatische Bedingungen heißer und extremer werden? Und welche Strukturen bedrohen unser gemeinsames Überleben? Die Degradation von Böden wird oft als rein ökologisches Problem gerahmt, das folglich auch ökologischer Lösungen bedarf. Doch Dürren sind auch Ausdruck von tief eingeschriebenen politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen, sind Ausdruck unserer Beziehungsgeflechte, Wirtschaftsweisen sowie unserer Natur- und Selbstverständnisse.

Ökofeministische Perspektiven können uns dabei helfen, diese Prägungen zu verstehen. Sie ermöglichen, zwischenmenschliche und artenübergreifende Herrschaftsverhältnisse aufeinander zu beziehen und zu durchschauen. So werden hinter ökologischen Krisen Gerechtigkeitsfragen sichtbar, die zeigen, wie kolonialistische und patriarchale Logiken, kapitalistische Ausbeutung, Klassenfragen und Naturbeherrschung miteinander verwoben sind. Val Plumwood und Greta Gaard bringen dies in einer Matrix, die sie als »Master Model« der westlichen Moderne bezeichnen, auf den Punkt. Die Trennung in Dualismen prägt das europatriarchalische Denken seit hunderten von Jahren: Mensch/Natur, Kultur/Natur, männlich/weiblich, zivilisiert/primitiv, Geist/Körper, weiß/nicht-weiß, heterosexuell/queer usw. In diesen Dualismen liegen konstruierte Vorstellungen von Über- und Unterlegenheit, mit denen nach wie vor die Ausbeutung der Welt und ihrer Wesen gerechtfertigt wird. Der gemeinsame Nenner der Ausbeutung von mehr-als-menschlicher Welt, Frauen, People of Color, indigen lebenden Gruppen, Queers und anderen in prekären Verhältnissen lebenden Menschen ist, dass diese Herrschaftsmuster auf Strukturen von Neo-kolonialismus, Kapitalismus, Patriarchat und Anthropozentrismus gründen. Zugegeben, das ist eine derart große Brille, dass einer glatt schwindelig werden kann – doch angesichts der komplexen und weitreichenden Krisen der Gegenwart scheint sie mir genau richtig proportioniert.

Neokolonialistische Ausbeutung

Frühkapitalistische Produktionsverhältnisse konnten sich nur durch Kolonien, Sklaverei und Aneignung von Land und »Ressourcen« bilden. Das kolonialistische Plantagensystem war eine strukturelle Grundlage der westlichen Moderne, deren ausbeuterische Logiken gesellschaftlich konstruierte Naturverhältnisse, globale Herrschaftsverhältnisse sowie den Umgang mit Boden bis heute prägen. Noch heute sind die Besitzverhältnisse landwirtschaftlicher Flächen sehr verschieden verteilt und werden die Äcker sehr unterschiedlich bewirtschaftet – in Gegenden, in denen es früher ein Junker-System mit großen Gutshöfen wie in Norddeutschland gab, in Regionen mit einer großflächigen Plantagenwirtschaft, wie in großen Teilen der Amerikas, oder in Landschaften mit kleinräumiger Bewirtschaftung durch unabhängige Bauern, wie in weiten Teilen Süddeutschlands. Bei einem Blick auf heutige Ackerlandschaften lässt sich oft direkt die Geschichte erkennen: Reichen die Monokultur-Felder bis an den Horizont oder sind die Äcker durch Hecken unterteilt, durch schmale Streuobstwiesen unterbrochen? Besitzverhältnisse wirken hier Jahrzehnte, Jahrhunderte nach. Das betrifft auch den Bergbau: Noch immer gehen dort menschliche und mehr-als-menschliche Ausbeutung Hand in Hand, etwa beim Abbau fossiler und mineralischer Bodenschätze unter unwürdigen Bedingungen für arbeitende Menschen, die Landschaften, Lebensräume und Biotope im Namen monetären Profits ausweiden müssen.

Europa ist der Kontinent, der weltweit am meisten Böden außerhalb seiner Grenzen beansprucht, um imperiale Lebensweisen aufrechtzuerhalten. Immense Faktoren sind dabei der hohe Fleischkonsum, für den Wälder, vor allem in Südamerika, abgeholzt werden, um Futtermittel-Plantagen zu weichen; oder die Auslagerung von Klimaschutzmaßnahmen, etwa nach Afrika oder Südostasien, wo Monokultur-forste den europäischen Treibhausgas-ausstoß rechnerisch kompensieren und solche mit Mais, Raps, Ölpalmen, Weizen oder Zuckerrüben fossile Rohstoffe ersetzen sollen. Auf solcher Abwälzung sozialer wie ökologischer Schäden auf den Süden und die Zukunft nachfolgender Generationen gründet der einseitige Wohlstand der Ober- und Mittelklassen weltweit.

Kompostieren ist Sorgearbeit

Sich Zeit für die Beziehung zum Boden zu nehmen, bedeutet María Puig de la Bella-casa zufolge, die Aufmerksamkeit auf Praktiken und Erfahrungen zu richten, die im produktivistischen Ethos abgewertet werden. Für Böden zu sorgen – ob als Säuge-tier, Insekt, Pilz oder Pflanze –, ist eine der vielen Reproduktions- und Sorgearbeiten, die unsere Lebensgrundlagen erhalten – nicht nur Menschen zu pflegen, Subsistenzarbeit, Ehrenamt und Haushaltsarbeit zu leisten, sondern auch Fotosynthese zu betreiben und den Kompost zu zersetzen gehören dazu! Dabei handelt es sich um Arbeit, die weltweit noch immer meist von Frauen, unbezahlt oder prekär, und von der mehr-als-menschlichen Welt geleistet wird. Die Subsistenzforscherin Veronika Bennholdt-Thomsen und die feministischen Wirtschaftsgeographinnen J.K. Gibson-Graham (ein Pseudonym von Julie Graham und Katherine Gibson) verglichen diese Tätigkeiten mit einem »Eisberg«, von dem nur die Spitze aus dem Wasser ragt: Diese Tätigkeiten bilden den ungleich größeren Teil der Ökonomie ab, und auf diesem unsichtbar gemachten Teil lastet der weit kleinere Teil an geleisteter Arbeit – die marktwirtschaftlich organisierte Lohnarbeit, die gemeinhin als »Arbeit« und »Wirtschaft« schlechthin gilt – eine seltsam abgetrennte, gesonderte Sphäre ohne Erdung, die zwangsläufig im Gegensatz zu den Bedürfnissen »der Umwelt« zu stehen scheint.

Nicht nur in neoklassischen Wirtschaftstheorien, auch im Mainstream der Nachhaltigkeitsdiskurse wird noch immer das Wohlstandsversprechen bemüht, Wirtschaftswachstum sei unendlich steigerbar. Die Erde ist dieser Logik zufolge eine sich selbsterneuernde Ressource, die unendlich und kostenlos verfügbar sei. Für die Expansion von Märkten werden weltweit Boden, Wasser, Luft oder Saatgut privatisiert und zu Waren gemacht. Am globalen Verlust von Boden wird deutlich, dass Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch nicht voneinander entkoppelt werden können. An der Erdkrume prallen die langsame Erneuerung des Bodens und die beschleunigte produktivistische Fortschrittslogik aufeinander. Boden wächst unendlich langsam: Für einen Meter bedarf es, je nach Bedingungen, 20 000 bis 200 000 Jahre. Gleichzeitig verlieren wir weltweit jährlich rund 24 Millionen Tonnen fruchtbaren Bodens.

Baumfeldwirtschaft, Permakultur, Agrarökologie, aufbauende, regenerative, symbiotische und syntropische Landwirtschaft zeigen, wie sich Boden wieder gutmachen lässt. Sie arbeiten nach unterschiedlichen Prinzipien und Praktiken, die alle den Humusaufbau in den Mittelpunkt rücken und unter- wie überirdisch Vielfalt fördern. Sie lassen sich als artenübergreifendes vor- und versorgendes Wirtschaften beschreiben. Solche pflegnutzende Landfürsorge gründet auf reproduktiven Prozessen – auf dem Erhalten und Regenerieren – und erhöht so die Widerstandsfähigkeit gegenüber Dürre, Erosion und Starkregen. Wie der Ökoanarchist Murray Bookchin in seinem Essay »Radical Agriculture« deutlich machte, reicht es jedoch nicht aus, landwirtschaftliche Methoden zu ändern, wenn diese nicht in größeren ökonomischen, sozialen und politischen Zusammenhängen betrachtet werden.

Solidarische Strukturen schaffen

Der heutige Ökolandbau funktioniert ebenso wie die industrielle Landwirtschaft nach kapitalistischer Akkumulationslogik und dem damit verbundenen Wettbewerbs-, Produktivitäts- und Intensivierungsdiktat. Weltweite Dürren, Erosions- und Wüstenbildungen machen es hingegen erforderlich, sich gegen ebenjene Ideologie unbegrenzten Wachstums und Konsums zu stemmen. Dazu bedarf es jedoch konkreter Vorstellungen und Konzepte, wie enkeltaugliche Landwirtschaft in einer Postwachstumsgesellschaft funktionieren könnte.

Ein Ansatz, Landbau und Ernährungssystem teilweise dem Markt zu entziehen, ist die solidarische Landwirtschaft. Indem nicht nur die Ernte, sondern auch Kosten und Risiken geteilt werden, haben die auf dem Hof wirkenden Menschen die Freiheit und Sicherheit, sich dem Boden zu widmen, mit anderen Produktionsweisen oder alten Gemüsesorten zu experimentieren und sich an Wetterextreme anzupassen. Dieses Prinzip gemeinschaftsgetragenen Wirtschaftens wird mittlerweile auch auf andere Bereiche wie Bäckereien, Imkereien oder Zeitschriften (siehe den Oya-Hütekreis) ausgeweitet. Andere Initiativen, die für Ernährungssouveränität wirksam werden, sind selbstorganisierte Foodcoops und emanzipatorische landwirtschaftliche Zusammenschlüsse wie das ELAN-Netzwerk (siehe Seite 56). Vermehrt bilden sich auch zivilgesellschaftliche Formen gemeinschaftlichen Bodeneigentums wie Genossenschaften oder das Ackersyndikat. Diese ermöglichen es jungen Landbautreibenden und Hofkollektiven, trotz stetig steigender Bodenpreise und unabhängig von patriarchaler Erbfolge Ackerflächen zu kaufen und dem Spekulationsmarkt zu entziehen. Innerhalb solcher Freiräume wird es möglich, Herrschaftsstrukturen abzubauen, Geschichten von Kooperation zu erzählen und neue Wege der Bodenfürsorge zu erproben. Dazu ist es erforderlich, dass sich breite Allianzen aus vielfältigen emanzipatorischen Bewegungen – seien es die Commons, Postwachstum, Ernährungssouveränität, Feminismen oder Dekolonisierung – bilden.

In meinem Kompost bilden heute Mikroorganismen aus Bienenwerder Böden mit zapatistischem Kaffeesatz aus Chiapas ein widerständiges intersektionales Bündnis für Humusaufbau. Solidarisch breche ich nun auf, um mich dem Berliner Antikapitalismus-Block des globalen Klimastreiks anzuschließen – das ist hier und heute meine Aufgabe im Soil Food Web! //


Pauline Lürig (27) studierte Transformationsdesign an der »Hochschule für bildende Künste Braunschweig«. Sie lebt und kompostiert in Berlin, wo sie sich für ein »Transformationszentrum für alle« auf dem Tempelhofer Flughafengelände engagiert. paulineluerig.de


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