In Lützerath kämpfen Alteingesessene und Aktivisti gegen die Zerstörung der lokalen Lebensgrundlage – und für eine global klimagerechte Zukunft.von Findus Findus, erschienen in Ausgabe #66/2021
Am Rand einer riesigen Grube, die von Zerstörung und Ausbeutung erzählt, liegt ein kleines, verträumtes Dorf – ein Dorf voller Menschen mit bunten Ideen, Träumen und Visionen neben der grauen Politik des Weiter-so!, ein Dorf, das zu einer Gemeinschaft gewachsen ist neben der Vereinzelung, die unsere Gesellschaft durchzieht. In dieses Dorf, Lützerath, sind wir vor eineinhalb Jahren gezogen. Wir, das sind Menschen aus verschiedenen Orten, die sich gemeinsam gegen die Zerstörung durch den Braunkohletagebau einsetzen – und damit auch für ein gutes Leben für alle Menschen weltweit.
Lützerath soll noch in diesem Winter dem Erdboden gleichgemacht werden für eine Energiewirtschaft, die schon längst nicht mehr tragbar ist, wenn wir die prognostizierten Folgen der Klimakrise ernst nehmen. Der Ort soll verschwinden für Profite von Großkonzernen, die weltweit die Lebensgrundlagen zerstören. Er muss weichen für eine vermeintliche Notwendigkeit, die sich schon lange nicht mehr an tatsächlichen Bedürfnissen von Menschen orientiert. Denn dort, wo jetzt noch das Dorf steht, in dem einige Alteingesessene geblieben und in das hunderte Menschen für den Widerstand gekommen sind, soll Braunkohle für den Konzern RWE abgebaut werden; das Dorf liegt am Rand des Braunkohletagebaus Garzweiler. Ab Januar beginnt die so-genannte Rodungssaison – und nicht nur Lützerath, sondern auch der umliegenden Umgebung droht die Auslöschung. [Anmerkung der Redaktion: Anfang November gab der neue Ministerpräsident von NRW, Hendrik Wüst, bekannt, dass seine Regierung zu einem Kohleausstieg 2030 bereit sei. Dies würde fünf bedrohte Ortschaften retten – Lützerath ist allerdings nicht darunter.]
An all diesen Herausforderungen ist in Lützerath eine Gemeinschaft gewachsen, in der erst einmal alle willkommen sind, die die Vision eines guten Lebens für alle Menschen teilen und die bereit sind, Widerstand zu leisten gegen ein von Ausbeutung und Herrschaft durchzogenes System. Im Gehen hin zu dieser Vision versuchen wir herauszufinden, wie ein anderes Miteinander aussehen kann.
Der Wunsch nach Veränderung eint
Seit ein paar Monaten herrscht in »Lützi«, wie das Dorf liebevoll genannt wird, geschäftiges Treiben: Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen beteiligen sich auf ihre Art am Widerstand. Es werden Häuser weit oben in die Bäume gebaut, Teller gespült und Karotten geschnippelt, Hütten mit Stroh gedämmt, Workshops gehalten und Wissen geteilt, Toiletten geputzt, es wird Kuchen vorbeigebracht, Musik gemacht und es gibt viele Versammlungen, um Aufgaben zu verteilen oder wichtige Entscheidungen zu besprechen.
All die Menschen, die kommen und den Ort mit Leben füllen, sind vom ersten Moment an Teil der Dorfgemeinschaft. Viele dieser Menschen haben in den letzten Jahren an die Regierung appelliert, haben gehofft, geschimpft und letzten Endes die Erfahrung gemacht, dass die Politik nicht helfen wird, denn sie orientiert sich einzig und allein daran, die Wirtschaft am Laufen zu halten; sie wird Profit fast immer über das Recht auf Leben stellen.
In Lützerath lassen sich andere Erfahrungen sammeln. Wir merken, dass es möglich ist, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und dass wir nicht den aktuellen Regierungen ohnmächtig dabei zusehen müssen, wie sie als Marionetten der Wirtschaft unsere Erde zugrunderichten.
Gerade reist eine größere Abordnung der mexikanischen Zapatistas durch Europa (siehe Seite 64). Vor wenigen Wochen waren sie in Lützerath, um ihr Wissen mit uns zu teilen und vom Geschehen vor Ort zu hören. Die Begegnung mit Menschen, die seit Jahren Widerstand leisten und für ein Leben ohne Ausbeutung und Zerstörung streiten, war sehr inspirierend und bereichernd! Diese Art von Vernetzung brauchen wir und sie gilt es, zu stärken.
Mit der zapatistischen Abordnung kam auch Lilli Flores Velázquez, deren Ehemann Samir Flores vor seiner Haustür erschossen wurde, weil er ein Wider-standskämpfer war; wir hatten zuvor bereits einen Baum nach Samir benannt. Durch die Begegnung mit Lilli und durch das gemeinsame Trauern um Samir an seinem »Denkmal« ist auch hier Verbindung entstanden, über Kontinente und Grenzen hinweg spürbare Solidarität.
Was wir in Lützerath lernen, ist der Anfang eines Wegs in Richtung Solidarität und einer Welt, in der, wie die Zapatistas sagen, »viele Welten Platz haben«. Darin liegt die Herausforderung, aber auch das Potenzial einer so offenen Gemeinschaft, in der verschiedenste Menschen versuchen, zusammen zu leben und zu wirken.
Wir alle tragen das Alte in uns
Die meisten Menschen, die sich entscheiden, miteinander zu leben, haben eine gemeinsame Basis aufgrund von Sympathie, einem ähnlichen Lebensstil oder einem ähnlichen Hintergrund. Das, was uns in Lützerath eint, ist der gemeinsamen Wunsch nach Veränderung hin zu einem guten Leben für alle. Aber es gibt keinen klaren Konsens über den Weg dorthin, es herrscht nicht immer Sympathie zwischen allen Beteiligten und es gibt keine Einigung darüber, wie sich das Zusammenleben genau gestalten soll. All diese Fragen wollen jeden Tag, in jeder Begegnung, in jeder Konstellation neu ausgehandelt werden. Das erfordert sehr viel Rücksichtsnahme und Empathiefähigkeit sowie den Willen, einander zuzuhören, immer wieder aufeinander zuzugehen und Widersprüche auszuhalten. Denn zum einen können viele verschiedene Wege in eine Gesellschaft ohne Herrschaft führen – Wege, die vielleicht im ersten Moment widersprüchlich zu sein scheinen – und die Visionen, wie genau eine solche Gesellschaft aussieht, können in ganz unterschiedlichen Farbnuancen ausgepinselt sein. Zum anderen sind wir selbst in unserem Handeln, Denken und Fühlen nicht frei von Widersprüchen. Wir alle sind in der Gesellschaft, die wir verändern wollen, groß geworden, wir alle tragen sie in uns, etwa in Form von kapitalistischer Leistungslogik, von Ausschlussmechanismen gegenüber anders denkenden oder anders lebenden Menschen, in Form von Zwängen, denen wir in diesem System ausgesetzt sind, um zu überleben, in Form von rassistischen Denk- und Verhaltensweisen, in denen wir sozialisiert worden sind. Und auch, wenn wir all diese Muster durch ein neues, bedürfnisorientiertes Zusammenleben ersetzen wollen, reproduzieren wir die alten Logiken doch tagtäglich in unseren Gemeinschaften. Dass wir nicht frei von diesen lebensfeindlichen Sozialisierungen und diskriminierenden Verhaltensweisen sind, äußert sich im alltäglichen Zusammenleben auch immer wieder in Konflikten. Dies birgt eine der wichtigsten Herausforderungen, die es auf dem Weg zu meistern gilt: Um eine Welt zu gestalten, in der das gute Leben für alle Menschen möglich ist, müssen wir mit allen Menschen dieser Welt gemeinsam leben, kommunizieren und uns organisieren können. Wir müssen lernen, Widersprüche auszuhalten, und eine Kultur schaffen, in der sich Konflikte transformieren lassen. Nur, wenn wir gemeinsam und in Solidarität streiten, können wir diese »Welt, in der viele Welten Platz haben« erreichen.
Neue Verbindungen knüpfen
Was wir also brauchen, sind Orte wie Lützerath. Orte, an denen wir miteinander und voneinander lernen und an denen wir erfahren können, dass wir mit jedem Gespräch, mit jedem gemeinsam blockierten Bagger, mit jeder Auseinandersetzung, mit jedem gemeinsam gebauten Baumhaus, mit jeder gemeinsam gemeisterten Herausforderung trotz persönlicher Differenzen kleine Risse im System verursachen. Bis dieses System, das uns und die Erde ausbeutet, auseinanderbricht und etwas neues wachsen kann.
So, wie die Zapatistas in Chiapas die Hoffnung aufgegeben haben, jemals Unterstützung von Seiten der Regierung zu bekommen, sich organisiert und gekämpft haben, um ihr eigenes Land selbst verwalten zu können, so können auch hierzulande Gemeinschaften, die sich organisieren und viele kleine Steine ins Rollen bringen, Berge versetzen. Im gemeinsamen Engagement gegen die Zerstörung können wir neue Verbindungen zu Menschen aufbauen, die wir erst einmal gar nicht kennen, die auf den ersten Blick ganz anders sind als wir. Wir können zusammenstehen und uns unterstützen, uns den Rücken stärken und dadurch starke Netze der Solidarität weben, die keine Grenzen kennen und alles verändern. //
Findus (27) beteiligt sich am Kampf für eine Welt, in der gutes Leben für alle möglich ist. Sie organisierte das »MOVE Utopia«, klettert gerne auf Bäume und macht sich viele Gedanken um Gerechtigkeit und Selbstorganisation.