Titelthema

Wer ist drinnen, wer ist draußen?

Wie unser Bemühen um »halbdurchlässige Membranen«, die gemeinschaffende Gruppen umgeben, von Erfahrungen mit starren Grenzen geprägt ist.von Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #68/2022
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© Luisa Kleine

Wenn Leute sich zusammentun, um etwas Gemeinsames zu machen – Wohnen, Streiken, Camps organisieren oder Gemüse anbauen –, stellt sich irgendwann die Frage, wer eigentlich dazugehört? Wer darf mitentscheiden? Wie regeln wir Ein- und Ausstiege in unserer Gruppe? Denn wie jeder lebendige Organismus und jede seiner Zellen, ist auch eine Gruppe von einer halbdurchlässigen Schutzschicht umgeben, die bestimmt, was hinein und was hinaus geht, was drinnen und was draußen ist, und die den Organismus erst definiert. »Commons mit halbdurchlässigen Membranen umgeben« nannte Silke Helfrich dieses Muster des Commoning: »Commons werden nicht strikt abgeriegelt. Ihre durchlässigen Grenzen sind keine unverrückbaren Linien der Trennung, sondern Kontakträume mit Potenzial zur Inklusion.«

Ich lebe in einer Welt voller Membranen. Die erste verletzliche, aufregende Membran, die mich umgibt, ist meine Haut. Alles, was innerhalb von ihr liegt, wird seit meiner Geburt als »Luisa« benannt, alles, was außerhalb davon ist, als »das Andere«. 


Abstammungsurkunde / E2

Standesamt Ahlen

Registernummer 1005 / 1996

Luisa Kleine, weiblichen - Geschlechts, -/-

ist am 24.12.1996 -/-

in Ahlen -/- 

geboren. -/-

(Aus einer Geburtsurkunde)


Die Haut eines Wirs, die Membran einer Gruppe, ist viel ungreifbarer als die eines Ichs – und doch genauso verletzlich. Auf der Suche nach den Schwellen des Wirs von Gruppen finde ich hierzulande – wie in so vielen Gesellschaften – vor allem bürokratische Formen: Verträge, Absichtserklärungen, Beitrittsformulare, Eheverträge, Vereinssatzungen, Arbeitsverträge und Taufurkunden halten in Buchstaben aus schwarzer Tinte auf weißem Papier fest, wo die Grenzlinien dieser Zusammenschlüsse verlaufen. Auf diese Weise verschriftlichte Verbindlichkeiten sind uns vertraut und bieten scheinbar Sicherheit und Kontrolle darüber, wer dazu-gehört und wer welche Rechte hat. Hinter jedem so unschuldig daherkommenden Papier steht ein großer Apparat der staatlichen Gewalt, der sicherstellt, dass alle Verträge eingehalten werden, und der im Zweifelsfall durch Polizei, Geldstrafen, verordnete Arbeitsstunden oder sogar Freiheitsentzug eingreift.


Die Erschienenen erklärten:

Wir haben am _______ vor dem Standesbeamten in _______ die Ehe geschlossen, sind deutsche Staatsangehörige und leben im gesetzlichen
Güterstand der Zugewinngemeinschaft.

Unsere Ehe ist kinderlos.

Wir sind beide berufstätig und verfügen über eine ausreichende Altersversorgung.

Wir schließen folgenden E H E V E R T R A G

(Aus einem Musterehevertrag)


Der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi bezeichnete die Herausbildung von Marktwirtschaften und Nationalstaaten im Europa des 19. Jahrhunderts als »Große Umwälzung«, auf die eine »Entbettung« immensen Ausmaßes folgte. Das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das zuvor durch Einbettung in subsistente Regionen und dörfliche Gemeinschaften beantwortet worden war, wurde zunehmend den Kräften der »Marktgesellschaft« überlassen. Diese erzeugt Zugehörigkeit nicht durch gemeinsame Vision, Freundschaft und Solidarität, sondern durch Herrschaft, Zwang und Monopole. Sie schafft keine Grundgeborgenheit.

Wie können Menschen Einbettung und Zugehörigkeit wachsen lassen, ohne bürokratische und marktwirtschaftliche Muster zu reproduzieren und ohne einander wie auf dem Polizei-revier, vor Gericht oder am Verhandlungstisch zu begegnen – noch dazu, wenn sie sich tagtäglich in ebensolchen Mustern bewegen? Wie können andere Ideen von Zugehörigkeit vorstellbar werden?


Auf Einladung von Thildus Frickel, Elio Möller und Elvis Zimmermann fanden sich heute, am 04.04.2022, in der Friemer Straße 17, 37284 Waldkappel 13 ordentliche Mitglieder ein.

1) Die Versammlung wird von Luisa Kleine um 17:30 Uhr eröffnet.

2) Die Versammlung wählt: a) zur Versammlungs-leiterin Luisa Kleine, b) zur Schriftführerin Nele Klemann. Die Gewählten nehmen die Wahl an.

3) Die Versammlungsleitung stellt fest, dass
zur Generalversammlung frist- und formgerecht eingeladen wurde.

4) Die Versammlungsleitung stellt fest, dass die Anzahl der anwesenden Mitglieder für die Beschlussfähigkeit der Generalversammlung ausreicht.

(Aus dem Protokoll der Mitgliederversammlung -
eines eingetragenen gemeinnützigen Vereins) 


Die Membran einer Gruppe ist deswegen ein so aufregender Ort, weil dort die Identität, Kultur und Wertevorstellungen der Gruppe immer wieder neu verhandelt werden. Ein- und Ausstiegsprozesse in Gemeinschaften, Ausschlüsse von Menschen auf Camps, die Aufnahme in ein Netzwerk oder die Frage, welche Projekte in einer Zeitschrift wie Oya Platz finden, sind deswegen oft sehr emotionale Angelegenheiten, die schon viele Nerven gekostet haben.


Nachdem ein Mensch sich mehrfach übergriffig verhalten und die vereinbarten Regeln des Camps verletzt hatte, spaltete sich das Camp in zwei Lager. In der Küche und auf dem Hauptplatz versammelten sich Punks und traten in einen Streik. Sie forderten, dass die beschuldigte Person unverzüglich – notfalls mit körperlicher Gewalt – des Platzes verwiesen werden solle. Nahe des Waldes scharten sich einige bunter gekleidete Menschen um den »Täter«, um ihn zu »heilen«. Sie versammelten sich mit ihm in einem »Friedenskreis« und weigerten sich, ihn den Punks auszuliefern. Das Awareness-Team war derweil damit beschäftigt, einen Platzverweis zu unterschreiben, die vielen gestressten Menschen zu versorgen, die der Vorfall emotional belastete, und mit verschiedensten unbeteiligten Menschen über den Fall zu diskutieren. Unterdessen finden die geplanten 134 Workshops zu politisch brisanten Themen nicht statt, die Schichtpläne der Kinderbetreuung sind leer und die 897 Menschen, die auf das Camp gekommen waren, um eine gute Zeit zu haben, beschäftigten sich mit der Frage, wie mit dieser Situation umzugehen sei.

(Bericht von einem politischen Camp)


Beim Betrachten der Schwellen wird manchmal schlagartig klar, wie unterschiedlich die Vorstellungen bezüglich des Gemeinsamen sind. Menschen, die gemeinsam loszogen, um ein Hausprojekt zu gründen, stellen fest, dass die einen strikt vegan leben und die anderen Hühner halten wollen. Manchmal stellen Gruppen beim Betasten ihrer Membran auch fest, dass diese doch enger ist, als sie dachten, und dass sie doch weniger Verschiedenes integrieren können als angenommen. Ein Paar, das gern offen für viele Liebesbeziehungen wäre, stellt fest, dass die emotionalen Kapazitäten dafür einfach nicht da sind; oder eine Politgruppe, die gern Widersprüche in den Diskurs bringen möchte, kann die verschiedenen Perspektiven nicht aushalten und streitet sich nur. Oft zeigen sich in solchen akuten Konflikten alte vernarbte Wunden in uns selbst, die mit Zugehörigkeit zu tun haben: Wenn ich als Kind etwa in ein fremdes Land umziehen musste und in der neuen Klasse kein Wort verstanden habe; oder auch scheinbare Kleinigkeiten, wie die, dass ich etwa bei der Wahl der Fußballmannschaften im Sportunterricht immer als letzte an die Reihe kam.

Wenn es um Ein- und Ausschluss geht, berühren wir uns an Stellen, an denen viele Menschen individuell wie kollektiv Traumatisierungen erfahren haben. Viele, die heute nach alternativen Wegen suchen, haben sich an einer Stelle ihres Lebens mehr oder weniger freiwillig dafür entschieden, von der Autobahn des vorgezeichneten Lebenswegs abzufahren – oft, weil sie nicht mehr dazugehören konnten: Entweder, weil sie aktiv ausgegrenzt und diskriminiert wurden, oder weil sie sich selbst gegen eine Zugehörigkeit und für ihr eigenes Werden entschieden haben. Diese Erfahrungen hinterlassen auf einer Bindungsebene Wunden, die uns weiter begleiten und die berührt werden, wenn es in der dann endlich neu gefundenen Zugehörigkeit darum geht, wer drinnen und wer draußen ist. 

Wenn Menschen aus den Anstalten, in die sie von der Wiege bis zur Bahre gesteckt werden – Krankenhaus, Kindergarten, Schule, Fabrik, Universität, Büro, Seniorenheim –, entlassen werden, dann stehen sie oft wie nackt da und fragen sich: »Wozu gehöre ich eigentlich?«


Kind: Mädchen "Ines", Geburtstag am: 02.03.2004

Ines ist seit Oktober 2007 in der Integrationsgruppe "Teddybären" als Integrationskind. Sie besucht den Kindergarten regelmäßig und besucht 1-mal pro Woche eine Ergotherapie. Ines ist ein liebes, körperlich altersgerecht entwickeltes Mädchen, das von allen Kindern in der Gruppe akzeptiert wird. Sie war bis vor einem halben Jahr noch Windelträgerin. Inzwischen geht sie nach entsprechender Aufforderung selbständig auf die Toilette. Eine Kontrolle seitens der Erzieherinnen ist noch nötig.

(Auszug aus der Vorlage für pädagogische Fachkräfte für einen Entwicklungsbericht)


Wie können Menschen sich also organisieren, ohne neue Anstalten zu gründen? Wie viele lange Visionstexte, Strategiepapiere und Werteaufzählungen brauchen Gruppen dazu wirklich? Beim Versuch, Lebendiges erfassen und definieren zu wollen, bergen aufgeschriebene Worte immer die Gefahr, die Lebendigkeit abzutöten oder zu verkürzen. Im Zweifelsfall bleibt eine Gruppe dann sehr unter sich und wird immer konservativer, weil die buchstabierte Membran, säuberlich in den Akten festgehalten, zu undurchlässig ist und schon die nächste Generation womöglich mit den benutzten Worten nichts mehr anfangen kann. 


Wir finanzieren Kinder bis zum Ende ihrer ersten Ausbildung oder bis zu ihrem 26. Geburtstag – je nachdem, was eher eintritt. Das gilt auch im Falle, dass die Eltern-Kommunard*innen sterben. Unsere Kinder sollen einen gesicherten Start ins Leben haben. Kinder können bis zum 21. Geburtstag bei uns wohnen und sollten nicht vor dem 26. Geburtstag eine Probezeit beantragen. Irgendwann müssen auch unsere Kinder »das Nest verlassen«. Falls sie tatsächlich Kommunard*innen werden wollen, sollen sie auch Lebenserfahrung außerhalb der Kommune gesammelt haben.

(Auszug aus dem Konsens einer Kommune)


Menschliche Beziehungen sind so wenig planbar wie das Leben selbst, und ebensowenig planen lässt sich, auf welche Weise und in welcher Geschwindigkeit ein Mensch in ein Gemeinschaftsnetz hineinwächst. Was ist, wenn Mitglieder der Gemeinschaft sich verlieben und der neue Lebensmensch einfach an die Gemeinschaft anwächst? Was ist mit der pflegebedürftigen Mutter, die einziehen will? Was mit dem jungen Menschen, der nur für ein paar Jahre verweilen möchte? Je fester die Regeln sind, desto schwieriger ist es, auf die Wellen des Lebens einzugehen und auf ihnen zu surfen.

Eine Gruppe bekommt mit jedem Menschen, der hinzukommt, einen anderen Geschmack, und Ränge und Rollen finden sich neu. Um diesen Moment des Chaos, des Sterbens, immer wieder zuzulassen, bedarf es nicht nur Vertrauens in die Gruppe, es ist auch Vertrauen ins Leben selbst nötig – und das ist immer auch ein Wagnis. Die Kunst des Membranhütens ist es, an den Übergängen der sich immer neu formierenden Strukturen wachzusein, wahrzunehmen, in den Dialog zu gehen und individuelle, kontextabhängige Lösungen zu finden. Vielleicht wird dann der Versuch, ein formales Aufnahmeverfahren zu installieren, zu einem Austausch über die Vision, die eine Gruppe zusammenhält, oder zu einem langen Biografieabend, bei dem echtes Vertrauen wächst, das niemand bürokratisch festschreiben muss.

Genau wie sich meine Haut immer wieder erneuert, sich weitet und zusammenzieht, verwundet wird und wieder heilt, braucht die Haut eines Wirs fortwährende Pflege. Eine Membran bildet sich durch die Pflege unserer gemeinsamen Visionskraft, unserer Fürsorge füreinander und einer geteilten Kultur. Sie wird immer wieder in verschiedenen Menschen verkörpert in Trennungsgesprächen, Antworten, E-Mails von Interessierten oder in Kennenlerncafés. Immer wieder treten Menschen dann in die Rolle der Membranhütenden, die wie eine liebevolle Drachin mit Wutkraft und Neugier das Wir beschützt und pflegt. Auch wenn Strukturen als technische Lösungen – vielleicht vergleichbar mit einem Handschuh oder einer Sonnencreme – Schutz und Hilfe bieten mögen, können sie doch nie das Fühlen und die Pflege der Membran ersetzen. Die Haut einer Gemeinschaft ist wie ein beständiges Flüstern der Frage »Wer sind wir jetzt?«, in dem die Gewissheit mitschwingt, dass wir schon morgen ein anderes Wir als heute sein werden. Die Membran der Gruppe, die mich umgibt, ist dann genau wie meine Haut ein sehr aufregender Ort. //

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