Zur Kunst des Unterscheidens in Zeiten der Erschütterung.von Starhawk Starhawk, erschienen in Ausgabe #68/2022
An diesem 25. Februar, während die russische Armee gerade in der Ukraine einmarschiert, möchte ich über »Schwäche« sprechen.
Tatsächlich gelingt es den Republikanern durch ihre medialen Echokammern, die Schuld für Wladimir Putins Invasion dem US-Präsidenten Joe Biden in die Schuhe zu schieben, indem sie ihn »schwach« nennen. Es lohnt sich, dieses Wort einmal durch eine feministische Linse zu betrachten.
»Schwach« ist ein sexistisches Codewort für »weibisch«, also nicht männlich – das Gegenteil jener Qualitäten, die eine patriarchale Weltsicht dem männlichen Geschlecht als Stärke zuschreibt: meist beinhaltet das, jemanden oder etwas gewaltsam zu penetrieren – sei es eine Frau zu vergewaltigen, in ein Land einzumarschieren oder weiche Körper mit harter Munition zu durchlöchern. Dabei handelt es sich um Macht ohne Mitgefühl, die seit Jahrtausenden eingesetzt wird, um Männer zu Gewalttaten anzustacheln und Frauen zur Mitwirkung zu zwingen. Ich verwende hier bewusst »Männer« und »Frauen«, denn diese Weltsicht erkennt nichtbinäre Identitäten nicht an und beharrt auf einer trennscharfen Unterscheidung der Geschlechter.
Echte Stärke hängt nicht vom Zugang zu Schusswaffen ab – im Gegenteil ließe sich sagen, dass die Abhängigkeit von solchen Waffen ein Zeichen innerer Schwäche, großer Unsicherheit und tiefer seelischer Isolation ist. Wie Hari Seldon, der großartige fiktive Psychohistoriker aus Isaac Asimovs Roman »Der Tausend-jahresplan«, sagt: »Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen.«
Echte Stärke ist keine Gewalt. Echte Stärke heißt, nachts um zwei aufzustehen, um dem Baby die Brust zu geben und dem Partner noch ein wenig Schlaf zu gönnen. Echte Stärke heißt, den Kummer einer Freundin anzuhören und sie in den Arm zu nehmen; jeden Morgen zur Arbeit zu gehen, um den Lebensunterhalt der Kinder zu erwirtschaften, anstatt liegenzubleiben; »nein« zu einem Kleinkind zu sagen, und den darauf folgenden Wutanfall klar und empathisch zu begleiten; eine unbequeme Wahrheit auszusprechen; den Mut zu fassen, in einer Diktatur zu demonstrieren; einer andersdenkenden Person zuzuhören und zu versuchen, ihren Standpunkt zu verstehen; würdevoll zu »verlieren« und einen Irrtum zuzugeben … Echte Stärke findet sich in tausenderlei Alltagshandlungen, in denen ganz gewöhnliche Menschen jeglichen Geschlechts Verantwortung übernehmen und Sorgearbeit leisten, um die Dinge am Laufen zu halten. Echte Stärke gibt es nicht ohne Mitgefühl, nicht ohne die Einsicht, dass die Welt voller Menschen ist, die wie ich Gefühle, Bedürfnisse und Rechte haben – und dass ich diese Mitmenschen ernstzunehmen habe.
Stärke sollte nicht mit Macht verwechselt werden. Ob eine starke Person auch die Macht hat, um etwas in Gang zu setzen oder zu verhindern, ist eine ganz eigene Frage. Echte Stärke bedeutet, anzuerkennen, dass meine Macht möglicherweise begrenzt ist, und bedeutet auch, die mir zur Verfügung stehende Macht gerecht und weise einzusetzen.
Pfade durch die Desinformation
Wir schwimmen in der global vernetzten Welt in Informationen verschiedenster Art, darunter auch viel Fehl- und Desinformation. Wie können wir unseren Weg durch diesen Sumpf finden? Wie können wir erkennen, was wirklich in der Welt los ist – gerade dann, wenn wir weit entfernt von den betreffenden Ereignissen sind und keine unmittelbare Möglichkeit haben, den Wahrheitsgehalt der Nachrichten zu prüfen? Wie gehen wir damit um, dass es übelwollende Akteure gibt, die nach besten Kräften versuchen, uns zu verwirren? Wie können wir in die Wirklichkeit vertrauen, wenn die Wirklichkeit zu groß und zu komplex ist, als dass wir sie verstehen könnten – ganz gleich, ob es sich um eine weltweite Pandemie oder um die russische Invasion der Ukraine handelt? Wir leben inmitten von Systemen, die wir nicht vollends verstehen, geschweige denn kontrollieren können: Ich weiß weder, wie ich eine defekte Stromleitung reparieren könnte, noch, wie ich den Klimawandel verhindern sollte. Oft wissen wir gar nicht mehr, welchen Medien wir noch vertrauen können. Kein Wunder, dass so viele Verschwörungs-erzählungen kursieren!
So, wie ein Virus sich unserer Zellen bedient, um sich zu vermehren, so verbreiten sich auch Propaganda und Desinformation, indem sie sich unserer menschlichen Gefühle und Denkweisen bedienen. Wir können uns gegen diese Muster immunisieren, indem wir unser Bewusstsein dafür sensibilisieren, dass es sie gibt, und indem wir beobachten, wann sie anspringen. Nachfolgend führe ich einige dieser Muster auf:
Projektion
»Projektion« ist etwas, das wir andauernd unbewusst betreiben, wenn wir Verhaltensweisen, die uns selbst zu eigen sind, die wir uns jedoch nicht eingestehen wollen, auf eine andere Person projizieren und diese als negativen Spiegel nutzen. Wie aber können wir wissen, dass wir projizieren? Wenn wir anfangen, eine andere Person als durch und durch böse zu betrachten; wenn wir ihre Motive beurteilen, anstatt ihre Taten zu sehen; wenn wir uns selbst absolut im Recht wähnen – dann lohnt es sich zu fragen: »Gibt es da einen Aspekt an mir selbst, den ich nicht sehen will?«
Ich weiß etwas, das du nicht weißt
Es ist schlicht und ergreifend menschlich, dass es uns mitunter Freude bereitet, zu denken, wir wüssten etwas, das niemand sonst weiß. In einer Welt großer, nicht zur Gänze begreifbarer Systeme, die sich meiner Kontrolle entziehen, ist es einfach, zu glauben, dass die Dinge nicht sind, wie sie zu sein scheinen. Es kann so verführerisch sein, zu glauben, wir würden das wahre Geheimnis, die verborgenen Motive, das zugrundeliegende Drehbuch erkennen, das die anderen nicht sehen. Um dieses Muster zu entlarven, lässt sich fragen: »Woher weiß ich das eigentlich?« oder »Woher weiß Person X, die mir dieses Geheimnis anvertraut hat, davon?« und »Welche Indizien sprechen dafür, dass es wahr ist?« Weitere hilfreiche Fragen könnten sein: »Wer profitiert eigentlich davon, wenn ich glaube, dass unsichtbare Kräfte insgeheim Ränke schmieden, um die Welt zu kontrollieren? Ermutigt oder entmutigt mich dieser Glaube? Macht er es wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher, dass ich mich aufmache, um den offenkundigen, nachweisbaren Strukturen, die Gerechtigkeit und Gleich-gewicht in der Welt untergraben, etwas entgegenzusetzen?«
Einfache Antworten auf komplexe Fragen
»Es gibt ganz einfache Antworten auf komplexe Frage, aber die Experten sind zu dumm oder zu korrupt, um das erkennen zu können« – wie verführerisch! Dabei enthält dieses Muster ein Körnchen Wahrheit: Tatsächlich kommt es vor, dass Fachleute sich irren, sich selbst widersprechen oder profitgierig sind – und das wirkt sich auf den Rat, den sie erteilen, aus. Vielleicht ringen sie jedoch auch einfach nur mit komplexen Problemen, mit lückenhaften Informationen und veränderlichen Parametern – und gehen dabei offen mit ihrem Nichtwissen um.
Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt
»Ich will keinen Klimawandel, keine Pandemie, will mich -keiner Mammografie unterziehen. Warum auch – ich glaube nicht daran, dass ich Brustkrebs bekommen werde.« Dann sind etliche Menschen aus meinem nahen Umfeld daran erkrankt – »Hmm, vielleicht ist das ja doch keine so schlechte Idee!« Wir neigen dazu, zu glauben, was wir glauben wollen. Dabei kann es hilfreich sein, einmal innezuhalten und uns zu fragen, ob wir auch wirklich die Sachlage geprüft haben und wie wir Raum für unsere Angst, unseren Schmerz oder unsere allgemeine Abneigung gegenüber dem, was die Indizien nahelegen, schaffen können.
Ich bin das eigentliche Opfer
Alle, die schon einmal kleine Kinder begleitet haben, wissen, dass es eine urmenschliche Reaktion ist, sich als Opfer zu fühlen, sobald die eigenen Pläne durchkreuzt werden. Klein-Ina ist erschüttert, fühlt sich missverstanden und behindert, wenn ihr das Spielzeugauto, mit dem sie gerade munter ihr Brüderchen verdrischt, weggenommen wird. Eine der schwierigeren Aufgaben der Elternschaft ist es, angesichts ihrer Wutausbrüche ruhig, liebevoll und bestimmt zu bleiben. Die meisten von uns wachsen aus diesem Verhaltensmuster heraus; doch ein bisschen von Klein-Ina schlummert in uns allen und kann leicht durch Situationen wachgerufen werden, die unser Selbstbild als Opfer bestätigen – selbst wenn wir zur Gruppe derer gehören, die über Privilegien und Macht verfügen. Ein Kontrapunkt zu solchen Situationen lässt sich durch folgende Fragen setzen: »Was wäre, wenn ich in dieser Situation Macht hätte? Wie würde ich mich dann konkret verhalten? Wenn ich schon nicht über die Macht verfüge, die ich gerne hätte, welche Wahlmöglichkeiten habe ich dann? Wie würde es sich anfühlen, die Verantwortung für jede dieser Optionen zu übernehmen?«
Wenn eine Person, die über erhebliche Macht verfügt, erzählt, sie sei ein Opfer, dann lohnt es sich zu fragen, ob diese Person gerade Verantwortung übernimmt oder aber sich davor drückt.
Es gibt so viele weitere Muster, aber für den Anfang sollten diese genügen. Im Informationssumpf, in dem wir um unser Leben strampeln, können die oben gestellten Fragen Trittsteine sein, die uns dabei helfen, wieder auf festen Grund zu gelangen. //
Die beiden Beiträge »Weakness, Strength and Ukraine« und »A Path Through the Dis-information Swamp« erschienen auf medium.com. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fersterer.
Starhawk (71), mit bürgerlichem Namen Miriam Simos, ist Friedensaktivistin, Permakulturlehrerin und eine Wegbereiterin des Ökofeminismus. Ihre Großeltern mütter- wie väterlicherseits waren aus der Ukraine in die USA emigriert, wo Starhawk 1951 geboren wurde. Nach dem Studium der Psychologie an der Antioch University in San Francisco beschäftigte sie sich intensiv mit naturverbundener Spiritualität und Ritualarbeit. 1979 erschien ihr Buch »The Spiral Dance. A Rebirth of the Ancient Religion of the Great Goddess«, das seitdem in viele Sprachen übersetzt wurde – etwa 1983 ins Deutsche – und schnell zu einem Klassiker des öko-spirituellen Feminismus avancierte. »Magie« beschrieb Starhawk darin als »die Einsicht, dass alles Sein miteinander verbunden ist und wir alle also als Teile eines lebendigen Organismus mit dem Kosmos verbunden sind.« In dem 2011 erschienenen Handbuch »The Empowerment Manual« (siehe Seite 48) erläuterte sie emanzipatorische Praktiken, Prinzipien und Methoden für die Organisation und Prozessbegleitung selbstverwalteter Gruppen. Starhawk wirkt als Referentin und leitet Rituale, Workshops und Seminare. Sie lebt in San Francisco sowie auf ihrer Ranch im kalifornischen Sonoma County.