Wie Plena uns in unserer Lebendigkeit unterstützen können, anstatt dröge Imitationen von Bürokratie zu sein.von Tabea Heiligenstädt, Max Junginger, Nadine Kaufmann, Nils Zierath, Thomas Meier, Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #68/2022
Die meisten selbstverwalteten Projekte organisieren sich in Plena (von lateinisch plēnum (cōnsilium) ›die Gesamtheit‹; »vollzählige Versammlung«). Stunde um Stunde, Woche um Woche sitzen Menschen in Runden, um das zu besprechen, was sie betrifft: Bebauungspläne, Kinderbetreuung, Besuchsanfragen oder eine dringende Notlage. Plena dienen als Organ, um bestmögliche Entscheidungen für alle aus der Gruppe zu treffen, um Informationen fließen zu lassen, um Entstandenes zu feiern, etwas zu planen und gemeinstimmige Entscheidungen zu treffen.
Das Herz der Basisdemokratie wird allerdings für viele schnell zu einer drögen Belastung, die durchgestanden werden muss. Warum sitzen wir hier mit so wenigen Menschen? Warum sprechen eigentlich immer dieselben? Liest eigentlich irgendwer nochmal das mühsam erstellte Protokoll? Geht es gerade wirklich um einen inhaltlichen Konflikt oder liegt darunter ein Beziehungskonflikt? Es gibt viele Gründe, warum das Plenum ein schwer aushaltbarer Ort sein kann, an dem Gruppen an ihren eigenen Ansprüchen scheitern und die Lücke zwischen dem, was sie sich wünschen, und dem, wo sie tatsächlich stehen, riesig erscheint. Geduld und Demut sind nach unserer Erfahrung wichtige Faktoren, um eine lebendige Plenumskultur zu entwickeln.
Denn zusammen im Kreis zu sitzen, ist nicht nur wichtig für die Revolution – wie es im Lied der Band »Revolte springen« so schön heißt –, sondern ist angesichts von 6000 Jahren patriarchaler Geschichte, die uns in den Knochen steckt, selbst eine revolutionäre Praktik. Gemeinsam in einer Runde allen zuzuhören, zeigt, dass wir alle Stimmen und alle Bedürfnisse hören wollen und uns auf den Prozess des gemeinstimmigen Entscheidens einlassen, der immer auch die Bereitschaft erfordert, Momente des Nicht-Wissens zuzulassen.
Das Plenum kann ein brodelnder Ort sein, in dem Ideen und Taten bewegt werden und wo sich die Schwarmintelligenz entfaltet. Es zeigt die gegenseitige Abhängigkeit, die Verwobenheit persönlicher Anliegen mit dem Gruppenkörper.
Es gibt keinen Methodenbaukasten, der ein Plenum garantiert lebendig macht. Jedes Plenum ist einzigartig und wird von den dort versammelten Menschen und ihrer Kultur geprägt. Eine Methode daraus herauszutrennen und als Buchstaben abzudrucken, um sie dann in einem völlig anderen Kontext anzuwenden, scheint bereits eine bürokratische Idee zu sein. Doch durch Inspiration verändern sich Kulturen auch. Deshalb kommen hier Menschen zu Wort, die ihre Versammlungen kreativ gestalten.
Besprechung am Suppenkessel
Wir nennen unser monatliches Plenum im Gemeinschaftsnetz um die Fuchsmühle »Suppenkessel«. Zu dem Treffen kommen jeweils etwa 25 Menschen, das ist ein Drittel der Leute aus dem Netz. Wir treffen uns im Garten am Feuer, auf dem ein großer Topf mit Suppe köchelt, während wir uns besprechen. Wenn wir ums Feuer sitzen, entspannt uns allein schon die Aussicht, am Ende etwas Warmes in unsere Mägen zu bekommen. Das Essen selbst verbindet uns erneut. Der Suppenkessel wurde von anfangs zwei auf sechs Stunden verlängert; zwischendurch gibt es Pausen, damit Zeit für Austausch ist und es kein Autorennen wird.
Das Protokoll vom Suppenkessel schreiben wir seit kurzem so unterhaltsam wie möglich, damit Menschen es hinterher auch wirklich lesen. Dabei verfasst der Mensch, der für das Protokoll zuständig ist, keinen objektiven Bericht, sondern eher eine Geschichte, in der auch seine eigenen Empfindungen eine Rolle spielen dürfen. Das Ganze kann dann so aussehen:
»Es ist der erste Sonnenscheinsuppenkessel des Jahres. Während die Sonne uns warm ins Gesicht scheint und die Vögel singen, wurde das Feuer entzündet, um unsere Füße zu wärmen. Es ist Februar. Es wird getuschelt, gewartet, Tee geschlürft. Langsam kommt bei einigen Ungeduld auf. Es ist schon Viertel nach zwei, um 14 Uhr sollte es losgehen. Kommt noch wer? Stirnrunzeln fängt an. ›Ich hätte meine Zeit auch…‹, schnappe ich bei ein paar Leuten auf. Jelena eröffnet den Raum nach einigem Hin und Her: ›Wir wollen uns mit der Intention des Suppenkessels verbinden: Wie können wir unser Zusammenleben schön und wirkungsvoll gestalten?‹ Thilda steht mit Schwung auf und stellt die Gewürzmischung vor. Jede Person bekommt ein Gewürz, liest es vor und legt es in den Kreis: Radikalität, Schönheit, lecker, Widerstandsfähigkeit, Vertrauen, Begegnung. Es wurde noch die Pünktlichkeit ergänzt. ›Die Gewürze für den Kessel sind bereitet, und nun lasst uns eine Ein-Wort-Runde dazu machen, wie es uns geht, und danach eine Runde, was wir feiern.‹ Eine angeregte Stimmung entsteht, es wird viel mit den Händen gewedelt als Zeichen von Mitfreude. Die Alte Schule wurde weiter ausgebaut, es gab eine Wald-Baumpflanzaktion. Mein Blick gleitet zum Feuer, ich lehne mich zurück, während ich neugierig zuhöre. [...] Es ist viertel nach sechs, fast pünktlich ist das Besprechen zu Ende. Juhu! Die warme Suppe wartet und es gibt Zeit, um noch dem Feuer zu lauschen und gemeinsam in den Sternenhimmel zu schauen.« Tabea Heiligenstädt, Fuchsmühle
Zeit fürs Check-in
Zu Beginn unserer Treffen findet immer ein Check-in statt. »Einchecken« bedeutet eine Runde mit der Frage »Wie geht es dir?« beziehungsweise »Was beschäftigt dich?«. Manchmal ist es auch eine spielerische Frage, wie »Wie ist dein inneres Wetter?« oder eine tiefe Frage: »Was sagen deine Freude/Angst/Trauer/Wut/Scham?«. Je nach Kontext können die Runden länger, zum Beispiel ein paar Minuten pro Person, oder kürzer sein, zum Beispiel in Form von »Drei Wörter, wie es dir gerade geht«-Runden.
Wenn ich mich am Anfang eines Treffens mit dem mitteilen kann, was mich gerade beschäftigt – und das sind teilweise existentielle Themen, wie Gesundheit oder Zugehörigkeit –, oder wenn ich von den anderen erfahre, was sie gerade bewegt, dann verbindet mich das mit diesen Menschen. Ich bin mir sicher, dass ich gemeint bin, dass ich wertvoll bin – unabhängig davon, was ich leiste oder leisten kann. Wenn ich erlebe, wie sich andere im Team mitunter auch mit Ratlosigkeit oder Tränen zeigen, dann leite ich daraus die Erlaubnis ab, das auch zu tun. Es schafft ein Stück Zugehörigkeit und Aufgehobensein – erstaunlicherweise auch dann, wenn wir uns fast ausschließlich online treffen.
Zudem verändert der persönliche Kontakt während der Treffen meine Sicht auf die anstehenden Aufgaben. Wichtig ist dann nicht mehr so sehr, ob ich wirklich Lust auf eine bestimmte Aufgabe habe, sondern die Frage, wie ich dem dienen kann, was wir gemeinsam voran bringen möchten. Das wiederum ermöglicht mir, Dinge mit großer Freude und Engagement zu tun, die – auf der Ebene meiner persönlichen Präferenz betrachtet – gar nicht so sehr »meins« sind. Ich baue also nicht die Webseite, erstelle Rechnungen oder recherchiere juristische Zusammenhänge, weil ich so große Lust darauf hätte, sondern weil das etwas ist, was ich gut kann, und ich dieses Können für etwas Größeres, was mir wichtig ist, zur Verfügung stellen will.
Das Element »Check-in« macht nicht nur das Plenum, sondern das gesamte Projekt für mich lebendiger, weil dadurch das, wozu wir gemeinsam beitragen, leichter greifbar wird. Nils Zierath, Buchteam »Wenn wir wieder wahrnehmen« (siehe Seite 92)
In Stille miteinander stehen
Oft geht es im Plenum wild zur Sache und Menschen geraten in Konflikte oder tun sich schwer damit, einander zu verstehen. Am Ende jedes Plenums stellen wir uns deswegen noch einmal in einen Kreis, nehmen uns an den Händen und verbinden uns in Stille für ein paar Minuten miteinander. Dieses kleine Ritual hilft uns, die Gemeinschaft auf einer anderen Ebene zu spüren als im Diskurs. In der Stille kann vieles, was beim Plenum aufgewirbelt wurde, noch einmal sinken, und wir gehen verbundener auseinander. Thomas Meier, Gemeinschaft auf Schloß Tonndorf
Zwischen Kleingruppen und Gesamtplenum navigieren
Bei uns im Konzeptwerk, einem selbstorganisierten Kollektiv, entscheiden wir mit circa 20 Personen zusammen im Konsens: zu welchen Themen wir arbeiten, wie viel wir arbeiten oder was wir verdienen. Dafür haben wir über die Jahre eine Struktur aufgebaut, in der wir uns einerseits Zeit nehmen für Austausch, wo er wichtig und nötig ist, und zugleich Entscheidungen effizient und zügig getroffen werden können.
Dabei hilft uns eine gute Absprache zwischen einzelnen Teams, in denen wir arbeiten, und der Gesamtstruktur. Dafür gibt es in jedem Team eine sogenannte Teamkoordination. Alle Personen mit dieser Rolle treffen sich einmal im Monat. Da wird dann besprochen, welche Fragen oder Anliegen aus den einzelnen Teams auch andere betreffen – und auch umgekehrt, welche Themen gerade im Konzeptwerk allgemein anstehen und für die Teams relevant sind. Alle Teams können sich dann in ihren wöchentlichen Teamtreffen dazu austauschen.
Die Entscheidungen dazu treffen wir, auf diese Weise vorbereitet, im monatlichen Plenum mit allen. Es gibt für bestimmte Bereiche wie Finanzen oder Anti-Diskriminierung teamübergreifende Arbeitsgruppen. Dort werden komplexere Themen vorbesprochen und Vorschläge in die Gesamtplena eingebracht. Nadine Kaufmann, Konzeptwerk Neue Ökonomie
In das Wir horchen
Bei unseren Plena hält hin und wieder die moderierende Person inne und lädt alle ein, sich auf den gemeinsamen »Wir-Raum« einzustimmen: »Nimm dir doch einen Moment Zeit, um wahrzunehmen, wie gerade die Stimmung im Raum zwischen uns ist.«
Die Klangschale ertönt, im Saal wird geschwiegen und gelauscht. Dann sprechen Einzelne aus, was sie gerade wahrnehmen, etwa: »Ich habe den Eindruck, dass wir seit zehn Minuten schneller und angespannter geworden sind.« Oder: »Ich erlebe, dass wir uns heute sehr wohlwollend begegnen.« Wenn ein Statement von anderen Anwesenden ähnlich eingeschätzt wird, wedeln sie zustimmend mit den Händen. So wird schnell sichtbar, wie der Raum unseres Miteinanders beschaffen ist: Sind wir gerade noch aufnahmefähig? Steht unübersehbar, aber unbenannt ein »Elefant« im Raum? Brauchen wir einen Methodenwechsel?
Ähnlich wie Individuen reagieren auch Kollektive fein darauf, wenn ihr innerer Zustand erkannt und wohlwollend gespiegelt wird. Häufig geht dann ein tiefer Seufzer durch die Runde, und es entsteht mehr Raum für Begegnung. Außerdem können die Informationen von der Person, die gerade moderiert, genutzt werden, um den Rhythmus des Plenums noch feiner zu orchestrieren. Max Junginger, Gemeinschaft Sonnenwald
Der Emotions-Stuhl
Es ist Plenum, eine wichtige Entscheidung steht an. Ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich fast platze vor Wut. Ein Kommentar meiner Sitznachbarin hat mich eben hart getroffen. Die Heftigkeit meiner Reaktion ist unverhältnismäßig.
Ich könnte fliehen, das Thema ist mir aber zu wichtig. Ich könnte kämpfen, aber in meinem Zustand kann ich die Gemeinschaft nicht für das gewinnen, was mir wichtig ist. Ich könnte mich innerlich zurückziehen, dann kann ich aber nichts beitragen. Mein Kopf rast. Ich kann es alleine nicht lösen, ich brauche Kontakt.
Also setze ich mich auf den »Emotions-Stuhl«. Der Entscheidungsprozess wird pausiert, alle sehen mich neugierig an. Nach ein paar bewussten Atemzügen fühle ich meine »Aktivierung« und beschreibe, was ich gerade erlebe. Sollte ich stattdessen jemanden verbal angreifen, beschuldigen oder einen inhaltlichen Standpunkt vertreten, würde mich die geübte Moderation wohlwollend, aber bestimmt stoppen und mich fragen, was ich denn in diesem Augenblick in mir wahrnehme.
Ich seufze, meine Wut löst sich, die Runde nickt verständnisvoll. Ich bin wieder da. Die Entscheidungsrunde geht weiter. Max Junginger, Gemeinschaft Sonnenwald