Konrad Hagemeyer und Jannis Kretschmer gehen
freie Bildungswege mit und ohne Schule. Ihre Lernwege beschreiben sie in einem biografischen Gespräch.von Jannis Kretschmer, Konrad Hagemeyer, erschienen in Ausgabe #68/2022
Jannis Kretschmer Viele Erlebnisse aus der ersten Klasse habe ich verdrängt und sie mir erst später von meiner Mutter erzählen lassen. In der zweiten Klasse wollte ich nicht mehr zur Schule gehen und sagte: »Lieber wäre ich tot.« Die Schule hat mich auf eine Weise gefordert, zu der ich noch nicht bereit war. Beispielsweise sollte ich dort schnell arbeiten, aber bei mir war das sogenannte Problem, dass ich so verträumt war. Ich hing damals einfach in meinen eigenen Gedankenwelten herum. Das fanden die Lehrenden problematisch. Dann muss etwas passiert sein, an das ich mich heute nicht mehr erinnere: Ich entwickelte eine Angst, in die Schule zu gehen. Meine Mutter behielt mich daher zu Hause und gab mir Aufgaben, die sie sich überlegt hatte. Das gefiel mir zunächst auch nicht, aber ich konnte mich immerhin in meinem Tempo daransetzen. Einmal hatte ich beim Mittagessen einen Geistesblitz und wusste plötzlich, wie ich eine Aufgabe lösen konnte. Ich rannte sofort zu meinem Schreibtisch, um es aufzuschreiben, bevor ich es wieder vergessen würde. Das hat mich in dem Moment glücklich gemacht, und damit kam die Erkenntnis, dass Lernen zwar mit einer bestimmten Anstrengung verbunden ist, dann aber auch Spaß macht. Ich habe damals viel gelesen und mir dadurch ein großes Allgemeinwissen angeeignet, das fällt mir heute immer wieder auf.
Konrad Hagemeyer Was hat dich besonders interessiert?
JK Ich kann mich noch an die »Was ist was?«-Bücher erinnern. Das war eine Welt, auf die ich mich einlassen konnte – ohne Leute, die mir sagen, wie schnell ich lesen soll. Später habe ich begonnen, auch den Jüngeren vorzulesen.
KH Wie kam es, dass du doch wieder in die Schule gehen wolltest?
JK Ich suchte nach gemeinsamen Aktivitäten mit den anderen Kindern im Dorf, die ja vormittags alle weg waren. Wie viel wir Kinder in der Schule zusammen erlebt haben, wurde mir erst klar, als ich selbst nicht mehr dort war. Mit meiner Mutter ging ich zu einem Schulpsychologen, der meinen Lernstand testete und mich eines Tages fragte, ob ich wieder in die Schule gehen möchte. Ganz selbstverständlich antwortete ich ihm: »Wieso? Ich gehe doch nächstes Jahr in die Lassaner Schule!« So kam es dann auch. In der Lassaner Grundschule waren wir knapp 20 Kinder, halb so viele wie zuvor in München. Ich wurde gut darauf vorbereitet, wieder in die Schule zu gehen, und tatsächlich hatte ich wieder Lust darauf. Wie war es bei dir, Konrad?
KH Ich sehe viele Parallelen zu dir. Mit sieben wurde ich in Hamburg eingeschult. Nach nur drei Wochen bin ich weinend nach Hause gekommen und habe von Konflikten erzählt. Ein Erlebnis wirkte eskalierend, vor allem auf meine Psyche bezogen: Ich ging mit meinem besten Freund in eine Klasse. Es entstand eine Situation, in der er von anderen Schülern hinter einer Glastür eingesperrt wurde. Ich hatte mit sieben Jahren nicht die Kraft, mich gegen die Jungen zu wehren, und war frustriert, weil ich ihm nicht helfen konnte. Dann habe ich einen dieser Jungen getreten und mein Freund konnte raus. Zu hause hatte ich einen unglaublichen Wutanfall. Ich zertrat Töpfe, weil ich nicht damit zurechtgekommen bin, dass ich einem anderen Jungen wehgetan hatte, obwohl ich ja nur meinem Freund helfen wollte. Ich habe immer wieder erlebt, wie inkompetente oder überforderte Lehrkräfte den Grundstein für die Konflikte in der Schule gelegt haben. Einmal haben wir einen Mathetest geschrieben. Mein bester Freund und ich saßen nebeneinander, und als wir beide fertig waren, fingen wir an, unsere Ergebnisse zu vergleichen. Das sah unsere Lehrerin. Sie schrie uns an und baute eine Wand aus Ranzen zwischen uns, so dass wir uns nicht mehr sehen konnten. Wir waren zwei Siebenjährige! Sie handelte in der Logik der Erwachsenen. Nach drei Wochen war ich so frustriert und aggressiv, dass meine Eltern mich aus der Schule genommen haben. Meine beiden Großeltern sind Lehrer, dadurch hatten wir Zugriff auf viele Lehrmaterialien. Meine Mutter hat sie mir zur Verfügung gestellt, ohne mich zu etwas zu zwingen.
JK Diesen Raum zu schaffen, ist etwas anderes als der Zwang in der Schule. Es ist eher so: Das Geschirr ist dreckig, und wir räumen gemeinsam die Spülmaschine ein.
KH Auf diese Weise habe ich auch ganz einfach Lesen gelernt. Ich bin zu meiner Mutter gegangen, und sie hat mir die Buchstaben erklärt. Das kam nur von mir aus. Ich erinnere mich noch, wie ich mit dem Buch »Das magische Baumhaus« angefangen habe. Da war ich gerade acht. Um die Ecke gab es einen kleinen Buchladen, in dem ich mir oft ein Buch gekauft und es noch am selben Tag ausgelesen habe. Mit zehn habe ich einen 900 Seiten dicken Roman in fünf Tagen verschlungen und mit elf habe ich Bücher von Franz Kafka gelesen – das erste, das ich von ihm las, war »Die Verwandlung«. Meine Mutter hat gemerkt, worauf ich Lust habe, und hat mir immer neuen Lesestoff nachgeschoben. Schreiben konnte ich nicht, aber ich konnte perfekt lesen. Sie hat mir keinen Druck gemacht und mir ihr vollstes Vertrauen geschenkt. Ich war draußen auf der Wiese und habe gelesen oder mit den Grashüpfern gespielt. Mit zehn hatte ich Lust, Klavierspielen zu lernen. Wir haben zuerst ein E-Piano gekauft, auf dem ich immer mehr gespielt habe, bis wir schließlich ein richtiges Klavier kauften. Das war heilsam für mich, weil ich merkte, dass das, was ich spielte, wirklich aus mir kam. Dabei spielte es keine Rolle, dass ich keine Noten lesen konnte. Das einzige, was mir fehlte, war das soziale Gefüge, in dem ich die jugendlichen Strukturen kennenlernen konnte. Aus diesem Grund wollte ich mit zwölf wieder in die Schule gehen. Meine Freunde redeten davon, wie doof ihre Lehrer waren, aber ich konnte nicht mitreden und fühlte mich ausgeschlossen. 18 Kilometer entfernt gab es eine Waldorfschule, in die ich dann in der sechsten Klasse dazugestoßen bin. Der erste Tag dort war frustrierend, weil ich nicht schreiben konnte. Ich konnte lesen, malen und zeichnen, aber das Schreiben hat mich nie interessiert. Wir hatten Englisch und sollten etwas von der Tafel abschreiben und ich saß die ganze Pause weinend an meinem Tisch und habe die Tafel abgemalt. Aber ich wollte das durchziehen. Zum Glück ging es schnell, und nach einem Jahr hatte ich mich eingefunden. Mathe mochte ich nicht; hatte aber einen richtig coolen Mathelehrer, der auch ein Philosoph war. In der zehnten Klasse ließ er zwei Stunden sausen und erzählte uns stattdessen von der Philosophie der Null. Aber obwohl in der Waldorfschule viele Probleme, die es in anderen Schulen gibt, wegfallen, bleiben doch manche Zwänge. Es war zum Beispiel normal, dass man sich unter Freunden beleidigt. Anfangs wunderte ich mich, wieso ich Leute beleidigen sollte, die ich mag. Aber ich habe mich innerhalb von ein paar Monaten angepasst und selbst die schlimmsten homophoben Beleidigungen benutzt, die ich jetzt gar nicht mehr aussprechen möchte. Wie war es bei dir nach der Grundschule, Jannis?
JK In der Grundschule gehörte ich tatsächlich zu den Klassenbesten. Nur Mathe war immer mein Problem. Später diagnostizierte ein Psychologe bei mir eine Art Rechenschwäche. Nach der vierten Klasse bin ich trotzdem mit einem der besten Zeugnisse rausgegangen und richtig aufgeblüht. Ich hatte Freunde und bin mit den Lehrenden viel besser klargekommen. Die Lehrer haben sich auch auf mich eingestellt. Am Ende der Grundschulzeit war für mich klar, dass ich aufs Gymnasium will, damit ich später studieren kann. Mir wurde damals gesagt, ich könnte dann mein Leben damit verbringen, mir Wissen über ein Thema anzueignen. In Klein Jasedow war ich aber erstmal auf einer Art Familienschule. Wir gingen in verschiedene Dörfer und lernten in den verschiedenen Haushalten, aber mit unseren gleichaltrigen Freunden zusammen. Bei einer Lernbegleiterin Anke gab es Stoffe, und wir brachten uns das Nähen bei. Statt lauter Einzelsonderwesen entstand eine zwölfköpfige, wunderbar durchmischte Gruppe, die miteinander gelernt und gelebt hat. Dann auf dem Gymnasium hatten wir jeden Mittwoch fünf Stunden lang eine Art Epochen-Unterricht wie an der Waldorfschule. Es gab für drei oder vier Wochen ein Thema. Wir sind ins Labor gegangen und haben Experimente gemacht oder Mappen mit Aufgaben bekommen. Das war eine Art von Lernen, die mir Spaß gemacht hat. Wir konnten uns in Gruppen zusammenfinden, die Lehrer beantworteten Fragen, und ich konnte mir ein Thema erarbeiten. Trotzdem war mir die Schule nach der siebten Klasse immer mehr ein Dorn im Auge. Ich war wieder so voll von dem Zwang, lernen zu müssen. Ich bin in der neunten Klasse wegen Mathe und Spanisch sitzengeblieben. Dass ich dort schlechte Noten geschrieben habe, hat sich immer mehr auf die anderen Fächer ausgewirkt, bis ich keine Lust mehr hatte, in die Schule zu gehen. Ich bin aber heute froh, dass ich trotzdem bis zur elften Klasse geblieben bin.
KH Ich habe nach der Grundschulzeit begonnen, immer Schwarz zu tragen, mich typisch männlich zu verhalten und ständig mit ekligen Beleidigungen um mich zu schmeißen. Ich war in einer, wie wir sie nannten, Proletengruppe und wollte mit Strebern nichts zu tun haben. Aber ich hatte auch einen Freund, der nicht so war. Eines Tages hatte er sich pinke Hoodies, also Kapuzenpullover, geholt. Ich dachte: »Das geht ja gar nicht, als Mann pinke Sachen tragen!« Dann war ich bei ihm in der Wohnung, und das war richtig spannend. Aus Jux habe ich seinen Pulli angezogen. Ich stand lange vor seinem Spiegel und dachte: »Wow, pink steht mir.« Ich fragte ihn, ob ich den Hoodie behalten darf, weil er zwei davon hatte. Und er meinte: »Klar, kein Ding.« Ich habe den pinken Pulli dann viel getragen und gleichzeitig angefangen, mich von den Menschen, die ich nicht mochte, zu distanzieren. Ich habe gemerkt, wie eklig diese Masche mit den Beleidigungen war. Mit 14 habe ich begonnen, Beleidigungen zu verwenden, die keine Gruppen diskriminieren. In den nächsten Jahren habe ich mir meine Freunde nicht mehr nach Gruppen ausgesucht, sondern gesagt: »Ich bin, wie ich bin – und so können mich die Leute mögen.« Dadurch habe ich an der Schule wundervolle Menschen kennengelernt, mit denen ich auch jetzt noch gut befreundet bin.
JK Der Leistungsdruck bestimmt das Verhalten in der Schule. Ständig wird gepredigt: »Ihr müsst immer besser sein als die anderen.« Und wenn du nicht besser bist als der Beste in der Klasse, machst du ihn fertig.
KH Ich habe irgendwann angefangen, mich auf andere Menschen einzulassen, zum Beispiel auf eine Klassenkameradin, die unglaublich schüchtern war. Sie hatte keine männlichen Freunde und dachte erst, dass ich etwas von ihr will. Ich habe dann angefangen, mich mit ihr über Bücher zu unterhalten. Wir haben eine tolle Freundschaft aufgebaut, und ich bin der Schule dankbar dafür, dass ich durch diesen Kontakt auch unangenehme Strukturen des Schulsystems auflösen konnte. Erst als ich dieses Gruppendenken aus meinem Kopf verbannt hatte, konnte ich mich auf einzelne Menschen einlassen.
JK Eine ganze Weile habe ich mich cooler gefühlt als die anderen. Ich habe Musik gehört, die nicht meinen Interessen entsprach. Erst als die Schulzeit vorbei war, hörte das auf.
KH Ich habe eigentlich einen kompletten Charakterwechsel vollzogen oder bin wieder so geworden, wie ich als Kind war: ganz sensibel. Zwischendurch habe ich mir nicht mehr erlaubt zu weinen, weil ich dachte, dass man das als Junge nicht macht.
JK Ja, man lernt in der Schule, seine Gefühle zu unterdrücken. Aber gut, dass du da rausgekommen bist!
KH Dieser pinke Pulli hat echt viel mit mir gemacht. Aber bis vor einem Jahr habe ich nicht gemalt und keine Musik gemacht. Ich bin zwar offener geworden mit der Zeit, aber meine künstlerischen Fähigkeiten sind immer mehr zurückgegangen.
JK Ich habe auf der weiterführenden Schule keine Bücher mehr gelesen. Mit zwölf hatte ich noch viel Spaß an griechischen Sagen oder der »roten Zora«. Nach der Schule war ich aber immer total fertig. Diese Kraft wiederzufinden, ein Buch nur für mich selbst zu lesen oder mir Wissen anzueignen, einfach, weil es mich -interessiert – das hat, nachdem ich aus der der Schule war, noch zwei Jahre gedauert.
KH Ja, ich bin auch immer frustrierter und verkrampfter geworden, habe unendlich viel Netflix geguckt und Serien ganz schnell durchgeschaut. Ich habe dann nichts mehr für die Schule gemacht, war müde und habe schlechtere Noten bekommen. Das war ein richtiger Teufelskreis. Es stand dann die Frage im Raum, ob ich wirklich Abi machen will. Eigentlich wollte ich nicht, habe mich aber verkrampft, um es durchzuziehen – und bin daran zerbrochen. Der Stoff war nicht das Problem – ich war es gewohnt, nichts für die Schule tun zu müssen und trotzdem gute Noten zu bekommen. Es waren meine Psyche und die Probleme, die ich mir geschaffen hatte. Ich hatte viele Nervenzusammenbrüche, habe stundenlang geweint, und dann gab es einen Punkt, an dem klar war: Ich mache das nicht mehr. Es war an Silvester 2020; ich habe meinen Lehrer angerufen und gesagt: Ich mache nur Realschulabschluss. Das war kein Problem.
JK Ist den Lehrern denn auch aufgefallen, dass dich das belastet hat?
KH Ja, klar. Meine mündliche Note war schlecht, weil ich einfach wochenlang nichts gesagt habe. Zu meinem Zustand hat auch das Verhalten der Lehrer beigetragen. Ich hatte eine Englischlehrerin, die uns angeschrien hat, wenn wir uns gegenseitig bei den Vokabeln halfen. Sie hat uns verniedlichende Namen gegeben und nannte mich »Konradchen«. Wir hatten viele Gespräche mit ihr, in denen wir ihr erklärt haben, dass sie ihren Unterricht nicht gut macht. Sie ist aber nicht darauf eingegangen. Ich habe dann angefangen, Filme auf Englisch ohne Untertitel zu schauen, und auf diese Weise Englisch gelernt. Dann übten wir ein Theaterstück mit einem britischen Regisseur. Wir fanden ein Stück, das alle interessierte, und haben das Buch »Qualityland« als Klasse über ein halbes Jahr zum Theaterstück umgeschrieben. Nebenher habe ich den Realschulabschluss gemacht.
JK Wow. Das war erst vor vier Wochen, oder?
KH Ja, ich konnte mich auch gegen Ende viel besser darauf einlassen, und die letzte Zeit war richtig gut. Ich hatte eine bessere Englischlehrerin. Nach dem Theaterstück spürte ich eine riesengroße Euphorie, habe geweint und erzählt, wie schön das Leben ist. Davor war ich eher depressiv, habe traurige Songs geschrieben und war sehr tief unten. Ich hatte dieses Gefühl der Euphorie noch nie zuvor gehabt. Nach viel Unsicherheit in den ersten Szenen bin ich irgendwann mit starker Präsenz auf die Bühne gegangen, mit der Einstellung: Hier bin ich! In einer Szene saß ich einer Androidin gegenüber und wollte etwas eintauschen, aber ich vergaß meinen Text, hatte ein Blackout. Ich atmete tief durch, schaute ins Publikum, wartete lange, gab fast auf – und dann auf einmal schoss der ganze Text in meinen Kopf. Ab dem Punkt bin ich richtig reingekommen.
JK Also würdest du sagen, dass das Ende deiner Schulzeit gut gewesen ist – durch das Theaterstück und auch, weil du dir den Druck rausgenommen hast?
KH Ja, ich konnte mich besser einlassen. Und die Aufführung des Stücks lag auch nach den Prüfungen. Es war ein perfekter Abschluss: die Aufführung, der tosende Applaus. Ich würde sagen, meine letzten sieben Monate waren die schönsten in der ganzen Schulzeit. Ich mag die Waldorfschule wegen der Projekte, die es dort gibt. Es gab in meiner Schulzeit viele destabilisierende, aber auch unglaublich schöne und wichtige Erfahrungen. Das Theaterstück, der pinke Pulli und vieles andere waren sehr wichtig für meine persönliche Entwicklung, denn das alles bin ich.
JK Ja, im Stück wurde dir der Raum gegeben, den du füllen konntest, weil er dich interessiert.
KH So sollte Schule sein. Ich bin froh, dass ich auch sechs Jahre hatte, in denen ich nicht zur Schule gegangen bin und in denen ich ganz viel mit meiner Mutter und von privaten Lehrern gelernt habe. Homeschooling heißt, die Möglichkeiten zu schaffen, die das Kind braucht. Wie ich jetzt bin, ist meine Persönlichkeit gesund, obwohl ich auch an einigen Stellen kaputt bin.
JK Du hast Werkzeuge gefunden, um die kaputten Stellen zu reparieren. Ich habe erst in der neunten Klasse, als ich sitzengeblieben bin, angefangen, über meinen Abschluss nachzudenken. Das hat mich sehr belastet, weil ich sowieso schon ein Jahr älter war als alle anderen. Außerhalb der Schule habe ich wenig mit meinen Klassenkameraden gemacht. Wir hatten unterschiedliche Interessen, und ich habe abends im Park eigene Freunde gefunden. Die Leute aus meiner Schule fand ich spießig, ich habe mich da nicht wohlgefühlt und erst in der zehnten Klasse einen Freund gefunden. Hausaufgaben habe ich auch nie gerne gemacht, weil die Schule sowieso schon bis vier Uhr ging. Meistens habe ich sie dann morgens schnell gemacht oder abgeschrieben. Es gab keine gute Lernatmosphäre. Mein Mathelehrer fragte mich einmal, ob ich nicht lieber die Schule wechseln und einen Realschulabschluss machen will. Ich habe ihn dann vor der ganzen Klasse angesprochen, dass es nicht cool ist, was er zu mir sagt, und dass ich das Abitur machen will. Ich wollte unbedingt studieren und stellte mir das Studium so vor, dass ich mich mit einem Thema beschäftigen kann, das mich interessiert, und dass alles ein bisschen freier gestaltet ist. In der elften Klasse bin ich dann aber sicher gewesen, dass ich raus muss aus der Schule. Ich konnte mich nicht mehr jeden Tag da hinsetzen und mir Sachen anhören, die ich nicht lernen wollte. Das letzte Schuljahr habe ich als Bundesfreiwilliger an einer Montessori-Schule verbracht. Es war der praktische Teil von dem Fachhochschulabschluss, den ich mir statt des Abis vorgenommen hatte. Als Bufdi (Bundesfreiwilligendienst-Leistender) habe ich mich stark an meine eigene Schulzeit zurückerinnert. Zum Beispiel begleitete ich den Schulleiter im Matheunterricht in einer sechsten Klasse; es war Bruchrechnen an der Reihe. Früher war das die Hölle für mich, aber jetzt war es mir auf einmal ganz klar, und ich konnte den Kindern gut dabei helfen. Es gab viele Situationen, in denen ich mich fragte, wie dieser Moment für das Kind eine wertvolle Erfahrung werden kann. Das Bufdi-Jahr ging viel zu schnell vorbei. In einem der Begleit-seminare gab es einen Workshop mit jemandem, der mit einer heftigen Drogensucht zu kämpfen hatte. Er hat davon erzählt, wie sich das langsam in sein Leben eingeschlichen hat. Es war eine besondere Erfahrung, als wir uns mit 50 Menschen über unsere Süchte ausgetauscht haben: Magersucht, Spielsucht oder Drogensüchte. So stelle ich mir freies Lernen vor – mit Workshops und Angeboten, die mir viel mehr gebracht haben als der Schulzwang mit einem Stoff, von dem andere Leute meinten, dass ich ihn brauche.
KH Danke dir, dass wir uns darüber ausgetauscht haben.
JK Ich danke dir. //
Das Gespräch wurde protokolliert von Lara Mallien und Lotte Selker.
Konrad Hagemeyer (19) hat gerade begonnen, im »Kliemannsland« – einem großen Selbstversorgungshof bei Bremen mit vielen verrückten, coolen Menschen – zu arbeiten. Er plant, dort zusammen mit dem Gärtner einen Permakulturgarten anzulegen. Konrad macht viel Musik, schreibt Texte und malt. Er hat angefangen zu skaten und will im kommenden Herbst auf Reisen gehen. Außerdem spielt er Theater in einer freien Gruppe in Hamburg, genießt das Leben und hat noch viel vor.
Jannis Kretschmer (25) hegte nach dem Bundesfreiwilligendienst den Wunsch, Erlebnispädagoge zu werden. Ihn lockt die Arbeit an der frischen Luft und mit den unterschiedlichsten Menschen. Letztes Jahr schloss er die Ausbildung zum Sozial-assistenten ab. Derzeit arbeitet er in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, um weitere Erfahrungen zu sammeln und Geld für die Weiterbildung zum Erlebnispädagogen zu sparen. Er will bald Soziale Arbeit studieren, um in diesem Rahmen später Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Spaß und Freude am Leben und Lernen zu vermitteln.