Fragen wir nach lebensdienlicher Technik, zerfällt die utopistische Erzählung von der Digitalisierung.von Maria König, erschienen in Ausgabe #59/2020
»Als Junge habe ich mich gefragt: ›Wie kann ich meinen Einfluss maximieren?‹ Da wurde mir klar, dass ich etwas bauen musste, das klüger sein würde als ich, damit ich mich zurücklehnen kann, während dieses klügere Ding sich selbst weiter verbessert – und alle Probleme löst, die ich nicht lösen kann«, erzählt Informatiker Jürgen Schmidhuber, ein »Vater der künstlichen Intelligenz«, im Dokumentarfilm »iHuman« (2019). Daran zeigt sich der Kern utopistischer Erzählungen rund um die Digitalisierung: Diese schreiben nicht nur die Sehnsüchte von Technikutopien seit dem 19. Jahrhundert fort, die Menschen vom Los der Arbeit befreien wollen, sondern versprechen auch gleich noch, ein »besseres Wesen« als den Menschen zu erschaffen.
Befürworter wie Gegner – meist auf beiden Seiten gut aus-gebildete weiße Männer – sparen nicht mit Superlativen positiver wie negativer Erwartungen. So nennt der Computerwissenschaftler Ilya Sutskever in »iHuman« die künstliche Intelligenz die mit Abstand wichtigste Technik in der Geschichte der Erde: »Sie wird wichtiger sein als Elektrizität, Atomkraft und Internet zusammen. Dies zu bauen, ist das Endspiel. Sie wird zu einer neuen Lebensform werden, die uns überflüssig macht.« Demgegenüber hebt Nicanor Perlas, Träger des Alternativen Nobel-preises, in seinem Buch »Der letzte Kampf der Menschheit« hervor: »Unangemessen oder fehlerhaft eingesetzt, wird die künstliche Intelligenz die menschliche Zivilisation unterminieren und könnte zur Auslöschung der Menschheit führen.« Erlösung oder Aus-löschung – darunter scheint es nicht zu gehen! Wie die Wissenschaftshistorikerin Carolyn Merchant schon vor vier Jahrzehnten beschrieb, zeigen sich in diesen Fantasien patriarchale Kopfgeburten und Schöpferträume – und als Kehrseite: die Apokalypse –, die wenig mit dem tatsächlichen Stand technischer Entwicklungen zu tun haben. Gewiss, Technik birgt das Potenzial, die Menschheit auszulöschen – doch das technische Artefakt, das dies heute vermag, ist nach wie vor die Atombombe – keine wie auch immer geartete künstliche Intelligenz.
Die »Digitalisierung« kommt keineswegs wie eine aus sich heraus existierende Welle über uns, sondern wird von konkreten Menschen und Interessengruppen vorangetrieben. Seit den Anfängen der Entwicklung und Vernetzung digitaler Informations- und Kommunikationstechniken in den 1950er Jahren mischen sich darin militärische, wirtschaftliche und gesellschaftstransformatorische Interessen – wobei erstere das Feld klar dominieren.
Die Mär vom »technologischen« Wunder
Der Traum von der Digitalisierung knüpft an Verheißungen an, die unsere Geschichte seit den Anfängen der Industriemoderne prägen. Zum inflationären Gebrauch des Begriffs »Techno-logie« – anstatt zutreffend: »Technik« – schrieb uns 2013 die kürzlich verstorbene Kulturanthropologin Ingeborg Meyer-Palmedo, dass er in seiner »opaken Schwammigkeit« zu »allen möglichen (und unmöglichen) wunschbefördernden Vorstellungen« einlade: »In ihm schwingt etwas mit von Zauber, Wundersam-Geheimnisvollem, unerklärbar Magisch-Wirksamem – gleichzeitig vermittelt er aber auch ein Gefühl von fundierten Kenntnissen, von Großartigsein, vom ›Durchschauen, was Sache ist‹, und ›Wissen, wie es geht‹. […] Zu wiederholten Malen wird uns versichert, mit den ›Zukunftstechnologien‹ […] jede Schwierigkeit unseren Wünschen gemäß aus der Welt schaffen und die Konflikte unserer gegenwärtigen Industriegesellschaft überwinden zu können.«
Wie treffend diese Beobachtung ist, zeigt der 1957 von der -US-Regierung in Auftrag gegebene und von Walt Disney produzierte Zeichentrickfilm »Unser Freund, das Atom«: Wie ein Märchenerzähler führt der aus Deutschland emigrierte Physiker Heinz Haber darin durch die schöne neue Welt der Atomkraft, deren Nutzung uns die Urkräfte der Natur zum Wohl der Menschheit erschlösse: Neben Energieversorgung und Mobilität könnten dadurch die Ernährung der Weltbevölkerung und die Heilung von Krankheiten sichergestellt werden.
Die Vorstellung, dass die »richtige« Technik alle ökologischen, sozialen und ökonomischen Probleme lösen könne, verkennt, dass wir – ob wir nun jagend durch den Wald streifen, in Hütten ein bescheidenes Leben neben unseren Äckern führen oder in einer städtischen Mietwohnung unserer Arbeit am Laptop nachgehen – gefordert sind, gemeinstimmig Entscheidungen zu treffen, Verantwortung in sozialen Gefügen zu übernehmen und Konflikte beziehungswahrend zu gestalten. Diese sozialen Aushandlungsprozesse können wir weder abgeben noch verkürzen, indem wir Verantwortung an eine bestimmte Technik abgeben. Denn jeder Algorithmus für ein Online-Tool zum Konsensieren wurde von einem Menschen mit bestimmten Annahmen über gute Entscheidungsfindung geschrieben. Vielmehr gilt es, gerade bei der Nutzung von Techniken stets auch kritisch zu reflektieren, wie die Beschaffenheit technischer Anwendungen auf unser soziales Miteinander zurückstrahlt.
Utopistische Versprechungen einer schönen neuen Technik-welt – von der jüngsten Mobilfunkgeneration über satelliten-basiertes Internet bis hin zur Weltraumbesiedelung –, gaukeln uns ständige Erreichbarkeit und unbegrenzte Machbarkeit als Ersatz für echte Verbundenheit vor. Das Trugbild einer stofflos transzendenten Technisierung der Welt entfremdet uns nicht nur von unseren eigenen Körpern, sondern auch von der sinnlich, haptisch und stofflich erfahrbaren mehr-als-menschlichen Welt: So kann es dieser Tage passieren, dass der Blick in einen lichtverschmutzten städtischen Nachthimmel weniger die Sicht auf die Milchstraße als vielmehr auf die neueste Satelliten-kolonne des Raumfahrtunternehmers Elon Musk freigibt.
Zwischen Mine und Schrottplatz
Eng verknüpft mit der Digitalisierung ist die Hoffnung, dass durch vermeintlich »papierlose Büros«, »technische Konvergenz« und andere Verheißungen der schönen neuen Technikwelt Ressourcen und Energie gespart werden könnten. »Wie viele Anwendungen können wir mit nur einem Laptop ausführen oder sogar einem kleinen Smartphone, das in die Westentasche passt? Lassen sich nicht allein dadurch Ressourcen einsparen, weil nun zig materielle Dinge und Geräte durch ein Smartphone, Tablet oder ein anderes omnipotentes Handheld ersetzt werden können?«, fragen Steffen Lange und Tilman Santarius in ihrem Buch »Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit«. Dabei werde jedoch oft vergessen, dass digitale Geräte, Infrastrukturen und Anwendungen, die wegen rasanter Weiterentwicklung und geplanter Sollbruchstellen nur eine vergleichsweise kurze Lebensdauer haben, bereits bei der Herstellung enorme Mengen an Ressourcen und Energie verbrauchen. So verschlang etwa der Materialbedarf der allein im letzten Jahrzehnt verkauften sieben Milliarden Smartphones bis zu 10 Prozent der Primärproduktion metallischer Rohstoffe wie Kupfer, Kobalt und Aluminium. Die für die Herstellung erforderliche Elektrizität summiert sich auf rund 250 Terawattstunden pro Jahr und entspricht dem jährlichen Stromverbrauch Polens. Außerdem fließen Ressourcen und Energie in den selten mitbedachten Aufbau und Betrieb digitaler Infrastrukturen, wie Datenkabel, Server und Rechenzentren.
Hinzu kommt, dass die von der Elektronikindustrie benötigten metallischen Rohstoffe fast ausschließlich in Ländern des globalen Südens unter Zerstörung und Vergiftung lokaler Ökosysteme sowie unter menschenunwürdigen, krankmachenden Bedingungen abgebaut werden. In den ärmeren Weltregionen landen dann meist auch die zu Elektroschrott gewordenen, ausrangierten Geräte. Gleichzeitig sind ärmere Menschen oft von der Nutzung digitaler Geräte ausgeschlossen – der Großteil geht in die Industrieländer. Der für 2020 prognostizierte Berg weltweiten Elektroschrotts von rund 52 Megatonnen entspricht der Größe eines Schrotthaufens aller derzeit in Deutschland fahrender Pkw.
Ob digitale Endgeräte während ihrer Nutzungsphase dazu beitragen, Ressourcen und Energie zu schonen, hängt stark davon ab, wie Menschen diese nutzen. In dem Umstand, dass mit immer energie-effizienteren Geräten doch keine Energie gespart wird, weil zugleich auch die Prozessorleistung steigt, erkennen Santarius und Lange ein idealtypisches Beispiel für den »Rebound-Effekt«: »Technische Effizienzsteigerungen führen zu Mehrverbräuchen, und damit ist das Potenzial für Einsparungen dahin.« Der Einfluss des Nutzungsverhaltens zeigt sich am Beispiel des E-Readers: Je nach Umfang der Bücher ist ein E-Reader effizienter, wenn mehr als 30 bis 60 Titel darauf gelesen werden. Werden gedruckte Bücher hingegen verliehen und weitergegeben, verschiebt sich die Bilanz.
Vor diesem Hintergrund erscheint es ratsam, sich am Prinzip einer »digitalen Suffizienz« zu orientieren. Das bedeutet, möglichst wenige technische Endgeräte möglichst lange zu nutzen und immer wieder kritisch zu hinterfragen, wofür digitale Lösungen wirklich sinnvoll und notwendig sind.
Konzerngesteuert
Die Ausgestaltung der meisten digitalen Geräte ist wenig an konkreten menschlichen Bedürfnissen orientiert, sondern trägt, wie der Soziologe Harald Welzer in seinem Buch »Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand« attestiert, mit ungefragten Updates und ständig neuen Funktionen und Apps, die niemand vermisste, bevor es sie gab, zur Entmündigung der Nutzenden bei: »Das -Gerät will bedient, seine Funktionen wollen gewusst und genutzt werden […] Der Käufer leistet konsequenterweise Dienst am jeweiligen Gerät und ist längst in eine kommunikative Benutzeroberfläche integriert. Seine Freiheit besteht lediglich noch dar-in, von einer vorgegebenen Funktion zur anderen zu springen«, schrieb Welzer 2013, anknüpfend an Ivan Illichs Kritik in »Selbstbegrenzung« (»Tools for Conviviality«, 1973). Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, wer für wen zu welchem Zweck digitale Geräte und Anwendungen konzipiert.
Prinzipiell birgt die Digitalisierung das Potenzial, dezentrale Wirtschaftsstrukturen über kooperative Plattformen wie etwa »Fairmondo« oder »Loconomics« zu schaffen. Einige Open-Source-Projekte für Hard- oder Software, wie »Ubuntu«, »LibreOffice« oder »Adafruit Industries«, zeigen, dass es möglich ist, Geräte und Anwendungen »quelloffen« und für alle zugänglich zu konzipieren. Allerdings hat in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Bereich eine extreme Monopolisierung stattgefunden, und einige wenige kommerzielle oder mit Regierungen verbundene Weltkonzerne teilen sich den Einfluss auf Milliarden von Menschen. Ob eine realistische Chance darauf besteht, das Internet zu einem nach Prinzipien des Gemeinwohls ausgestalteten Commons umzubauen, erscheint vor diesem Hintergrund mehr als fraglich.
Big Brother is watching you
Eine weitere Facette des Digitalisierungsnarrativs ist die Idee, dass technische Vernetzung den Austausch zwischen Menschen verstärken und so Demokratisierung und Toleranz fördern könne. Der gegenwärtige Umgang mit digitalen Medien läuft dieser Idee doppelt zuwider: Einerseits findet der Großteil sozialen Austauschs über die Plattformen von Konzernen statt, die Profit aus der Koppelung von Nutzungsdaten mit Anzeigenkunden schlagen. Andererseits wird die Verantwortung für ein friedliches und sicheres Miteinander zunehmend an technische Lösungen abgegeben – und Sicherheit durch Überwachung ersetzt. Unter dem Stichwort »Safe City« und Verweisen auf die Gefahr terroristischer Anschläge werden mancherorts flächendeckend Überwachungskameras installiert. Soziologe Laurent Mucchielli beschreibt dies im Dokumentarfilm »Überwacht: Sieben Milliarden im Visier« (2019) als paranoid: »Es impliziert, dass wir jeden ständig überwachen müssen, sogar uns nahestehende Menschen, weil uns sonst jeden Moment jemand ein Messer in den Rücken stoßen könnte.« In Großbritannien etwa soll bereits pro 32 Einwohner eine Kamera installiert sein – exakte Zahlen sind nicht verfügbar, weil nicht die Regierung selbst die Videoüberwachungsanlagen betreibt, sondern dies an private Unternehmen auslagert.
In China ist die digitale Diktatur durch totale Überwachung mit 600 Millionen Kameras im öffentlichen Raum längst Realität: Gesichts- und Spracherkennung ermöglichen die Einführung eines Sozialkreditsystem, das Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger mittels »Benotung« belohnt oder bestraft. Die Konterfeis von Menschen mit niedrigem Punktestand werden in Einkaufszentren auf Bildschirmen gezeigt, und eine Telefonansage informiert darüber, dass ein angerufener Mensch eine schlechte Bewertung habe und zu moralischem Verhalten ermuntert werden solle! Die Angst vor Tadel, Ächtung und gesellschaftlicher Ablehnung macht die Bürgerinnen und Bürger mundtot.
In der Region Xingjiang setzt die chinesische Regierung zudem digitale Datenverarbeitungssysteme ein, um die uigurische Minderheit zu unterdrücken. So nutzt die Polizei eine App, die Daten wie Strom-, Gas- und Wasserverbrauch, Blutgruppen, Religionsausübung, Reisen innerhalb und außerhalb des Landes, genutzte Sportgeräte usw. kombiniert und daraus wöchentlich Listen festzunehmender Personen erstellt. Im Juni 2017 wurden so in einer einzigen Woche 24 412 Verdächtige identifiziert, von denen in direkter Folge 15 683 in Umerziehungslager gebracht, 706 strafrechtlich verfolgt und 2096 unter vorbeugende Überwachung gestellt wurden. Internationale Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem »Algorithmus der Unterdrückung«.
Visionen von konvivialer Technik?
Wenn die Digitalisierung eine utopistische Erzählung ist, die sowohl die materielle Kehrseite digitaler Technik als auch die konkreten Umsetzungszusammenhänge verschweigt – gibt es dann überhaupt einen Weg, um auf lebensfördernde Weise über digitale Technik nachzudenken? Können digitale Prozesse konviviale Werkzeuge sein – oder schließen die dafür benötigten Materialien, Energieströme und Gestaltungs(un)möglichkeiten das grundsätzlich aus? Wir werden weiter über diese Fragen nachdenken – und freuen uns über Beiträge dazu! //
Oya im Ohr Diesen Beitrag gibt es auch als Hörstück.