Titelthema

Von Erdzorn, ­Wetterangst und Solastalgie

Der Ökophilosoph Glenn Albrecht findet Begriffe, um Erfahrungen von Ungewissheit in Zeiten der Klimakrise zu benennen. Geseko von Lüpke sprach mit ihm.von Geseko von Lüpke, Glenn Albrecht, erschienen in Ausgabe #70/2022
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Geseko von Lüpke: Warum brauchen wir eine neue Sprache? Warum ist es so wichtig, neue Wörter zu haben, um unsere Beziehung zur Umwelt zu verstehen?  
Glenn Albrecht: Die Welt verändert sich so schnell, dass die bestehenden Sprachen nicht die Nuancen enthalten, die notwendig sind, um die emotionalen und psychologischen Reaktionen der Menschen auf diese neuen Zustände auszudrücken. Ich denke an das Beispiel der Inuit in der Arktis – einer Region, in der die Erdüberhitzung verheerende und schnelle Auswirkungen hat. Sie verwenden traditionell das Wort uggianaqtuq, was so viel bedeutet wie »ein Freund, der sich seltsam verhält«. Dieses Wort haben sie umgenutzt, um nun damit ihre Umwelt zu beschreiben, die sich jetzt »unangemessen« verhält. Sie verschwindet, ist nicht mehr zuverlässig: Man kann nicht mehr wie früher auf dem Eis jagen. Der überlieferte Wortschatz kann eben nicht erklären, was jetzt gerade vor sich geht.

Der andere Punkt ist jener der Diskontinuität, der Unterbrechung. Bestehende Begriffe wie »Resilienz« oder »Nachhaltigkeit« konzentrieren sich auf die Fähigkeit, Systeme zu regenerieren oder zu reparieren. Diese Begriffe werden nun aber von genau den Organisationen, Konzernen und Regierungen verwendet, die für das Problem verantwortlich sind. Die Sprache wird also insofern zum Problem, als dass sie ebenjene Welt verstärkt, die wir zu verändern versuchen. Und so werden neue Wörter zu einer Verpflichtung. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb, dass »die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind«. Und wenn Sie also Ihre Sprache erweitern, erweitern Sie Ihre Welt.


Ihr bislang bekanntester Begriff ist »Solastalgie«. Wie sind Sie darauf gekommen?  
Wie bei der »Nostalgie« steht die lateinische Silbe -algie für »Schmerz«, »Kummer« oder »Bedrängnis« und die griechische Silbe sol- für »Trost« und »Trostlosigkeit«. Ich habe den Neologismus geprägt, um die gelebte Erfahrung negativer Umweltveränderungen zu benennen. Es ist eine Erfahrung existenzieller, emotionaler Verzweiflung, die ich zum ersten Mal bei Menschen im australischen Hunter Valley in New South Wales beschrieben habe, eine Region des Steinkohlebergbaus. Heimweh kann durch die Rückkehr in die Heimat gelindert werden. Doch diese Menschen erlebten eine Form von Verzweiflung, die dem Heimweh ähnlich war, nur dass sie ihre Heimat gar nicht verlassen hatten. In einem gewissen Sinn verließ die Heimat sie. Sie blieben zwar an ihrem heimatlichen Ort, aber durch den Bergbau ging genau das verloren, womit sie sich identifizierten und was ihnen ein Gefühl von Beheimatung vermittelte. Zurück blieben eine beschädigte Umwelt und die Sehnsucht nach Trost und Geborgenheit.

 

Was ist der Unterschied zwischen Solastalgie und Öko-Angst oder Öko-Trauer?  
Angst ist etwas, das Menschen erleben, bevor etwas Schreckliches passieren könnte, und Trauer etwas, das erlebt wird, nachdem es passiert ist. Solastalgie hingegen entsteht durch das, was sich in diesem Moment vor unseren Augen abspielt: Der Berg, der zur Gewinnung von Kohle gesprengt wird, die Waldbrände, die hier und heute lodern, der »heißeste Tag des Jahres«. Solastalgie unterscheidet sich insofern von Angst und Trauer, als dass wir an ihren Ursachen arbeiten können. Meist können wir zwar nicht den ursprünglichen, jedoch einen anderen Zustand schaffen, der uns auf andere Weise Trost spenden und das Gefühl von Beheimatung zurückgeben kann. 


In Deutschland gab es in den letzten Jahren eine große Bewegung im Zusammenhang mit dem Kohletagebau und dem Verlust des Hambacher Forsts und der umliegenden Dörfer. Ich war bei Waldbesetzungen im Hambi und sah dieses riesige kahlgeschlagene Loch – es war ein schrecklicher Anblick, diesen Wald auf der einen und dieses Loch auf der anderen Seite zu sehen! Erkennen Sie in solchen Gefühlen einen Impuls für Aktivismus? 
 Ja! Denn wenn man die Erfahrung von Solastalgie macht, bedeutet das, dass man auch das Gegenteil in sich trägt. Sie können Solastalgie nur dann erleben, wenn Sie bereits einen starken Ortssinn, einen starken Identitätssinn, ein Gefühl von Affinität zu oder Empathie mit anderen Lebewesen oder ganzen Ökosystemen entwickelt haben. Das kann auf einer sehr rudimentären Ebene geschehen oder auf der Ebene ökologischer Erkenntnis, dass zum Beispiel die ganze Erde mit Netzwerken von Pilzen strukturiert ist. Ich kann mir vorstellen, dass die Aussagen, die ich von Menschen in den Steinkohlebergbaugebieten von New South Wales gehört habe, jenen von Menschen aus den deutschen Braunkohlabbaugebieten gleichen.

Die Solastalgie wird jetzt vor Gerichten als Verteidigung gegen die Ausweitung des Kohleabbaus verwendet. Erst kürzlich habe ich in Irland eine neue Fallstudie gesehen, in der eine Bergbaugesellschaft durch das irische Gesetz gezwungen wurde, die Solastalgie als soziale Auswirkung des Bergbaus zu untersuchen.

 

Ich habe selbst nach einem Hochwasser, das wir hier in Deutschland hatten, wo sich ein ganz normales Gewitter zu einem lebensbedrohlichen Ereignis entwickelte, gespürt, dass ich jedes Mal, wenn wir jetzt ein Gewitter haben, diese Angst fühle, dass hier auch etwas entstehen könnte. Wie kann man das nennen? 
Ich nenne es »Wetterangst«: Die Extreme, die wir jetzt erleben, bedeuten, dass wir hier in Australien Angst vor dem Sommer haben. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass der Regen nur ein willkommenes Ereignis in unserem Leben ist, das die Landschaft verjüngt und erneuert, so wie er es immer getan hat. Jetzt kann der Regen zur Katastrophe werden. Auf die Ratschläge unserer Behörden können wir nicht mehr hören, denn sie sprechen von »Überschwemmungen, die nur alle 100 Jahre auftreten«. Aber wir hatten in den letzten fünf Jahren drei oder vier »Jahrhundert-Hochwasser«. Es ist unsinnig geworden, über Erfahrungen aus der Vergangenheit zu sprechen, die vorhersehbare Ergebnisse in der Gegenwart oder in der Zukunft bringen. Wir befinden uns jetzt in einer sehr unsicheren Zeit.


Ein Beispiel für ein anderes neues Wort ist »Öko-Agnosie«. Was meinen Sie damit? 
Unsere Kinder wachsen in einer Welt auf, die im Vergleich zu der Welt, in der ihre eigenen Eltern aufgewachsen sind, sehr verarmt ist. Und das gilt umso mehr im Vergleich zur Lebenswelt der Großeltern. Der Ursprung des Worts »Agnosie« bezeichnet eine Art von »Unwissenheit«, so wie im Begriff des »Agnostikers«. Wir brauchen ein Wort, das beschreibt, was wir alles nicht mehr wissen und kennen, das also unserer gegenwärtigen Unwissenheit und Ignoranz Ausdruck verleiht.


Sie haben auch das Wort »Terrafurie« geprägt, um die Gefühle zu beschreiben, die aus unserer Wahrnehmung und Beobachtung entstehen. Was ist Terrafurie? 
 Die grobe Übersetzung lautet »Erdzorn«. Wir sind wütend über den schlechten Zustand der Erde und die Rolle, die die Menschen bei ihrem Niedergang gespielt haben. Ich denke, wir brauchen Worte, um die berechtigte Wut zu beschreiben, die Menschen jetzt darüber empfinden, dass diejenigen, die angeblich die Kontrolle haben, nicht genug tun, um die Bedingungen, die wir jetzt erleben, zu lindern.


Wir haben jetzt in Deutschland Bewegungen wie die »Letzte Generation«, die Autobahnen blockieren. Oder wir haben weltweit »Extinction Rebellion« (XR), die eine sehr viel emotionalere Art des Widerstands anstrebt als frühere Widerstandsbewegungen. Gibt es einen Begriff, der diesen Verlust an Vertrauen in das Leben, den die junge Generation erfährt, in Worte fassen kann?  
Die konventionelle Politik und das kaum veränderte Gebaren in der Wirtschaft halten nichts auf. Wenn überhaupt, dann wird der Fuß aufs Gaspedal gesetzt. Diese Leute von Extinction Rebellion würde ich als Vertreter der »Generation Symbiozän« bezeichnen. Das »Symbiozän« ist ein künftiger Zustand, in dem sich die Menschen wieder in das übrige Leben integrieren – im Gegensatz zum »Anthropozän« oder der Periode der menschlichen Dominanz auf diesem Planeten. Ich habe mit Extinction Rebellion zusammengearbeitet und habe dadurch das Gefühl, dass ich meinen Teil zur Systemstörung beitrage. Ich bin jetzt 69 Jahre alt und habe bislang nicht vor, meinen Hintern mit Sekundenkleber an den Fahrbahnbelag der Autobahn zu kleben. Als junger Mann habe ich mich an vielen Protestaktionen beteiligt, etwa gegen Atomtests, gegen den Vietnamkrieg oder dagegen, dass in Australien Wälder zur Herstellung von Toilettenpapier abgeholzt wurden.


Wir haben hauptsächlich über die negativen Gefühle gesprochen. Können Sie noch ein Beispiel für einen positiven Begriff nennen?
 »Uterrarie« ist ein »gutes Erdgefühl«. U- bedeutet »gut«, terra ist die »Erde« und die Endsilbe -ie bezeichnet einen »bedingten Zustand«. Dieser Zustand wird von Menschen in vielen verschiedenen Situationen beschrieben. In der Terminologie Siegmund Freuds und des Christentums wird er oft als »ozeanisches Gefühl« bezeichnet. Der Begriff beschreibt diesen Moment der Einheit zwischen dem Selbst und der Welt. Ich glaube, Surfer kennen das gut als das ekstatische Gefühl, wenn sie die perfekte Welle erwischen.

Oder »Endemophilie«. Das ist die Liebe zu dem, was an einem bestimmten Ort einzigartig oder unverwechselbar ist. Ich bin in Australien aufgewachsen, das einen sehr hohen Grad an Endemismus aufweist: Koalas, Kängurus, Beuteltiere, all diese Wesen. Um die Liebe zu dem zu beschreiben, was man nur dort findet, wo man ist, gab es bislang kein Wort im Englischen.


Vielen Dank für die vielen Wort-Geschenke – mögen sie auf fruchtbaren Boden fallen! //


Glenn A. Albrecht (69) erforscht, wie sich rapide klimatische
Veränderungen und ausbeuterische Weltvernutzung auf Menschen
auswirken, und prägt dazu passende Begriffe. 2019 erschien sein Buch »Earth Emotions. New Words for a New World«. 
glennaalbrecht.com

Geseko von Lüpke (64) ist Journalist, Buchautor, internationaler
Netzwerker und Leiter von Tiefenökologie- und Wildnis-Seminaren
sowie Visionssuchen. Er lebt in der Gemeinschaft Sulzbrunn im Allgäu.


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