Titelthema

Vom Leben Abschied feiern

Zusammen und berauschend! Ein Mosaik über einen selbst­gestalteten letzten Abschnitt.von Friederike Habermann, Ursula Kumeneker, Sotto Sotto, erschienen in Ausgabe #70/2022
Photo
© Ursula Kumeneker

Nachdem Minna erfahren hatte, dass sie sterben würde, war schnell klar, dass sie fortan Begleitung braucht. Sie zog in die Wohnung ihrer Tochter Niki, und wir haben gleich ein Team von fünf Leuten gebildet; jeden Tag war mindestens eine Person von uns dort. Uns war wichtig, dass Niki ihr Leben weiterlebt, dass sie zu ihren Yoga-Wochenenden und mal auf ein Konzert gehen kann; dass es so lange wie möglich für alle erträglich ist. Auch für die jeweilige Tagesbegleitung haben wir Essen gekocht. Es geht nicht nur um die Betreuung für die, die stirbt, sondern auch für alle, die mit ihr leben und leiden. Wir wussten, wir müssten durchhalten für uns alle, damit alle ihren Weg finden.

Für Minna war klar, dass sie keine Chemo machen und so lange wie möglich ihr Leben führen möchte. Ich erinnere mich an ihren Tisch, darauf sah bis zuletzt alles so aus wie immer. Minna hat irgendwann gesagt, sie fühle sich so geborgen, von uns allen da hindurchgetragen zu werden.  Ursula Kumeneker


Die Idee zu Minnas Lebensabschiedsparty kam in unserer gemeinsamen Performance-Gruppe auf. »Ich will, dass meine Beerdigung eine Party ist«, sagte Minna. Beim nächsten Mal, als ich sie sah, fragte ich sie: »Willst du nicht selber dabei sein?« – »Joaa ...« Minna war aufgrund des Morphiums nicht ganz auf den Punkt zu kriegen, wie sie es denn genau haben wollte. Das war schwierig, fand ich. Sie hatte allerdings Bilder, die im Grunde die Beerdigung schon vorwegnahmen: Mit ihr, lebendig in die Erde gelegt, Kerzen drumherum. »Und außen herum sitzt ihr …« Das war für mich zu krass. »Komm, wir tragen dich alle – wir halten dich alle«, sagte ich. Das gefiel ihr. Wir haben ihr dann einen Thron gebaut. In so einer Sänfte hin- und hergetragen zu werden – klar fand sie das gut, das passte zu ihr. Und es passte zu Minnas Kunst-Stil. So wie die ganze Party. Die Idee zum Fest entstand Ende Februar; Mitte März konnten wir für den letzten Sonntag im Monat die Location klarmachen: das B.L.O.-Ateliers-Gelände, in einem Gleisdreieck im Osten Berlins. Das war zugleich der Geburtstag ihrer Tochter – was es auch einfacher machte, es als Party zu gestalten. Erst dann bekamen wir ein Bild vom Fest selbst. Nikis Geburtstag hat es softer gemacht, einfacher einzuladen, als nur zur »Minna-Bye-Bye-Party«. Dann konnte man das so verpacken. Nicht Minna gegenüber. Aber anderen Leuten gegenüber. Doch bei der Textnachricht an die Leute vom Kesselberg habe ich mich getraut zu schreiben: »Kommt zur Minna-Abschiedsparty!«

Minna hatte nie Berührungsängste bei ernsten Sachen, keinen unnötigen Respekt. So war sie auch sehr frei in der Gestaltung dieses Abschiedsfests. Schließlich hat sie in einer gemeinsamen Performance ihre Tochter Niki nochmals geboren. Als Blut hatte ich rote Farbe besorgt. »Du hättest doch Ketchup nehmen können«, hat Minna hinterher gesagt. Stimmt, daran hatte ich nicht gedacht. Alle, die wollten, konnten sich von Minna noch ein Zeichen auf die Stirn machen lassen. Im Grunde war das ein Vorwand für Augenkontakt: damit ihr alle nochmal in die Augen schauten.

All dies ist sicher nicht nachmachbar. Aus jeder Person beziehungsweise der zu ihr gehörenden Gruppe müsste neu erwachsen, wie eine Lebensabschiedsfeier für sie aussehen kann.  Sotto


Als ich auf den Kesselberg zog, lernte ich Minna mit etwas Verzögerung kennen. Sie kam aus Südkorea zurück, wohin sie eine Einladung bekommen hatte wegen ihrer Kunst, Essbilder zu legen. Dass sie fast täglich über den Platz rief, war eine Institution: »Tee-Mobiiiiiil!«. Dann kam zusammen, wer gerade dort war und Zeit und Lust hatte, und wir tranken starken schwarzen Ostfriesentee mit Kluntjes und Sahne und klönten. Vor vielleicht zehn Jahren erzählte Minna bei einem dieser Anlässe von einem Arztbesuch: Der Doktor hatte sie vor die Wahl gestellt, mit dem Rauchen aufzuhören oder zehn Jahre länger zu leben. Sie hat sich für das Rauchen entschieden. Und so hat sie gelebt: intensiv. Schon als ganz junge Frau inmitten der Kreuzberger Szene und all die Jahrzehnte später als Künstlerin dort hat sie sozusagen alles mitgenommen. 

Ein Lebensabschiedsfest zu feiern, war wie die folgerichtige Weiterführung dieses satten Lebens. So, wie es war, war es absolut ihr Stil. Doch warum ist die Idee nicht verbreiteter? Mir ist es wichtig, von Minnas Abschiedsfest zu berichten. Denn dass wir so etwas nicht als gesellschaftliche Tradition haben, ist verständlich: Um den bald bevorstehenden Tod zu wissen, und trotzdem mit Hilfe von Morphium schmerzfrei leben zu können, das gab es früher nicht. Aber jetzt ist es möglich. Und dann ist es doch fast sarkastisch, wenn die Menschen, die der oder dem Sterbenden wichtig sind, erst nach deren Tod zusammenkommen, teilweise nach Jahren oder gar Jahrzehnten des Nicht-Sehens. Wie viel schöner ist es, wenn dies vorher geschieht!  Friederike Habermann


Zwei Tage nach der Party haben wir schon das nächste Event geplant: ein Essbild! Dabei war klar: Sie konnte es nicht mehr selber legen; also beschlossen wir, ein Essbild nach ihren Anweisungen zu legen, und zwar ein Porträt von ihr: »Eating Minna«. Es war geplant, dass sie dabei ist, aber da hat uns die Realität zum ersten Mal so richtig eingeholt – sie konnte an dem Tag einfach nicht. Also haben wir eine Internetverbindung aufgebaut und sie konnte mit den Leuten sprechen, sie konnte sehen, wie es ausschaut. Minnas Anweisungen wurden genau akzeptiert, weil alle Leute, die da waren, genau gewusst haben, wie Minna es haben möchte: dass ordentlich gearbeitet werden soll. Die Vorbereitung war schon mal ziemlich lustig, weil wir Essen nach Farben eingekauft haben. Und dann bekommt das bei diesen Essbildern immer so eine eigene Dynamik – es gibt die, die schneiden, und andere, die gut legen können. Ziemlich schnell hat uns Minna aus diesem Porträt angeschaut. Wirklich so: »Wow! Da ist Minna!« Sie war total happy, wie wir das legten. Anschließend haben wir den Salat gegessen und aus dem Rest noch eine Suppe gemacht. Und die nächste Performance geplant: Minna wollte dafür nur Tee trinken und kiffen und schweigen und dass wir sie zeichnen und dann wieder gehen. Auch, um auszudrücken: »Es ist alles gesagt. Es ist alles gut. Wir brauchen nicht mehr sprechen. Alle wissen eh, was los ist.« Und danach wollte sie noch eine Technoparty. Aber dann war sie doch schneller.  Ursula Kumeneker



weitere Artikel aus Ausgabe #70

Photo
von Andrea Vetter

Was gibt Sicherheit?

Wir sind es gewohnt, über Sicherheit und Unsicherheit in Gegen-satzpaaren nachzudenken: Krieg – Frieden, Angst – Vertrauen, Wohlstand – Armut, -Arbeitslosigkeit – Arbeitsplatz, Obdachlosigkeit – Behausung, Wandel – Verlässlichkeit. Aber stimmt das auch?

Photo
von Matthias Fersterer

Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart/Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats (Buchbesprechung)

Allen, die den Abschnitt »Wir betreten eine verbotene wissenschaftliche Zone und diskutieren die Möglichkeit jungsteinzeitlicher Matriarchate« in Kapitel sechs von David Graebers und David Wengrows wegweisendem Buch »Anfänge« gelesen haben und mehr erfahren wollen;

Photo
von Jochen Schilk

Urin – Flüssiges Gold für den Garten (Buchbesprechung)

Eine schöne Vertiefung zu Frank Hofmanns Artikel über die Verwendung von Urin als Nährstofflieferant im Gartenbau (»Düngerproduzent Mensch«, Oya 66) bietet das 2020 im Ökobuch-Verlag erschienene »Urin – Flüssiges Gold für den Garten«.

Ausgabe #70
Was gibt Sicherheit?

Cover OYA-Ausgabe 70
Neuigkeiten aus der Redaktion