Eine Soziale Skulptur fragt: Was ist unbezahlbar?von Joshua Groß, erschienen in Ausgabe #9/2011
Es hat etwas von einer Explosion. Das, was Kunst war, wird gesprengt, und während die einzelnen Teile durch die Luft fliegen, drückt jemand auf »Pause«. Doch es ist kein Stillstand. Es ist die Erweiterung der traditionellen Vorstellung, und in diesem Zustand kann ein weißer Tisch die Basis für eine Skulptur sein. Fünfzig Meter, um Gedanken sichtbar zu machen. Ich sitze mit Johannes Volkmann im Nürnberger »K4«, das Diktaphon läuft neben den Kaffeetassen, und draußen regnet es, wie es an einem Apriltag eben regnen kann. »Wenn man die Skulptur vom Materiellen löst«, sagt er, »können Gedanken in eine Skulptur verwandelt werden … Das ist vielleicht die spannendste Skulptur, die Gedanken, obwohl man sie nicht sieht.« Oscar Wilde formulierte einmal: »Es gibt Werke, die warten und lange unverstanden bleiben, weil sie die Antwort auf Fragen bringen, die noch nicht gestellt wurden. Die Frage kommt lange nach der Antwort.« Diese künstlerische Problematik dreht Johannes Volkmann um, indem er die Frage selbst zur Kunst macht.
Vom Wert des Unschätzbaren Ein langer, umhüllter Tisch wird mit Tellern und Besteck gedeckt, alles verhüllt in Papier. Die Passanten sollen mit Filzstiften auf Tisch und Teller schreiben, was für sie unbezahlbar ist. Die Idee zu diesem Projekt hatte Johannes Volkmann nach dem Beginn der Finanzkrise. (Wenn wir den Start des Kapitalismus kennen, kennen wir sein Maximum.) Er bemerkte eine »wachsende Bodenlosigkeit«. Und tatsächlich, wenn man gen Horizont schaut, sieht man eine Gesellschaft, die sich über den materiellen Gegenwert definiert und abhebt wie Gasballons, aber an den Schnüren hängen keine Wünsche, sondern Geldscheine. Sie haben die Schleifen in Trance gemacht, weil das Geld »nicht mehr unser Zusammenleben organisiert, wie es sein sollte. In Wahrheit organisieren wir uns nach dem Geld.« Der Tisch steht als Symbol in den Städten. Die weiße Umhüllung wird als ästhetisches Mittel betrachtet, um die Idee zu veröffentlichen. Der Tisch ist erkennbar, aber abstrahiert, unbeschrieben, also frei von Denkstrukturen, er ist eine neutrale Fläche, auf der »Unbezahlbar« Teil der gesellschaftlichen Skulptur wird. Trotzdem soll die Aktion auch Konfrontation mit den Konventionen provozieren. Sie ist ein Beitrag »auf der Suche nach einer lebenswerten Welt«. Die Menschen sollen die Unverhältnismäßigkeit hinterfragen und sich den Stellenwert des Geldes bewusst machen. Dabei wird sichtbar gemacht, welchen Wert wir den Dingen intuitiv geben. Eine Auseinandersetzung damit könnte eine neue Beziehung zu Leben und Gesellschaft entstehen lassen.
Gesellschaft als Skulptur Johannes Volkmann sieht sich als Initiator, aus dessen Idee eine Skulptur durch menschliches Zusammenwirken entsteht. Auch die Gesellschaft kann im erweiterten Kunstbegriff als Skulptur definiert werden. »Unsere Schritte auf der Erde sind ein Abdruck auf dieser Skulptur.« Das bekannte Beuys-Prinzip »Jeder Mensch ein Künstler« klingt auch bei Johannes Volkmann an: »Ich mache keine Kunst im klassischen Sinn, ich mache etwas Szenisches und Vergängliches.« Die Skulptur entsteht als Zusammenspiel vieler Akteure. Aufgabe der Kunst ist es, diesen Prozess bewusstzumachen. Eigentlich ist Johannes Volkmann Bildhauer. Die Gesellschaft als Plastik zu sehen, ist nur eine konsequente Fortführung seines Ansatzes. In einer leeren Fabrikhalle fragte er sich einst, wie eine materielle Skulptur im Verhältnis zu diesem Raum wirke. Mittlerweile betrachtet er die Welt als »ästhetisches Material«, das von der Gesellschaft geprägt wird. »Was sind wir als Menschen, die zusammen einen Raum prägen?« Was sind wir als Gesellschaft, die sich selbst gebildet hat? Neben seinen Skulpturen führt er in Nürnberg die Theatertruppe »Das Papiertheater«, deren Inszenierungen mit dem Medium Papier spielen, und den »Verlag erlesener Bücher«, dessen bibliophile Kleinkunstwerke die vielen Facetten dieses Werkstoffs erfahrbar machen. Obwohl »man einen kleinen Betrieb aufmachen könnte«, koordiniert und organisiert er seine Projekte in Eigenregie. Er möchte, dass sich seine Arbeiten entwickeln, ohne ökonomische Überlegungen über die Kunst zu stellen.
Das Reisen führt uns zu uns zurück Wie unterscheiden sich die unbezahlbaren Werte in verschiedenen Kulturen? Um diesen Vergleich machen zu können, reist Johannes Volkmann mit »Unbezahlbar« um den Globus. Überall geht es darum, »wie die Menschen die Welt betrachten«. In den westlichen Ländern zeigen die Antworten eine Gesellschaft, in der sich das Individuum selbst sucht. Der beschriebene Tisch verdeutlicht, dass es jenseits von materieller Zufriedenheit Sehnsüchte gibt, die mit Geld nicht bezahlt werden können. Georg Simmel hat es etwas kritischer beschrieben: »Das Glück ist nicht in den Dingen, die wir besitzen, sondern in den Dingen, die zu besitzen wir glauben.« Später baute Volkmann seinen Tisch in Mumbai, Indien, auf. Schnell merkte er, dass die Frage »Was ist unbezahlbar?« sehr westlich gestellt ist und in einem Drittweltland absurd erscheint. Obwohl er Angst hatte, mit seinem Projekt arrogant zu wirken, wurde die Frage in Indien auf den Kopf gestellt. Menschen bekommen plötzlich eine öffentliche Stimme und können sich zu den Problemen ihres Landes äußern. »Stop Corruption« steht auf einem Teller oder »Save Trees« und »You can’t buy family with money«. Der Fokus der Antworten verlagerte sich vom Individuum zu gesellschaftlichen Themen. Noch existenzieller waren die Antworten in Betlehem, Palästina und Akko, Israel. Es kamen Menschen an den Tisch, die politisch unterdrückt werden, ihre Familien durch Krieg und Terror verloren haben und mit permanenter Angst und Bedrohung leben. In dieser bedrückenden Stimmung und Anspannung formulierte sich der kollektive Wunsch nach Freiheit. »Da war jemand, dessen größter Wunsch es war, nach Jerusalem in die Moschee fahren zu dürfen, aber das ist ihm verwehrt.« »Unbezahlbar« soll sich frei weiterentwickeln. Gerade kehrte das Papiertheater aus Spanien zurück, demnächst wird die papierene Tafel in China und im Kosovo gedeckt werden. In einer Ausstellung und einem Buch sollen die Erfahrungen zusammengefasst und vorgestellt werden. Außerdem hat Johannes Volkmann mit dem Papiertheater ein Stück entwickelt, das als »Dokumentartheater mit Papier« über den aktuellen Stand informiert. Auf der Bühne spielt er sich selbst und erzählt die Geschichte von »Unbezahlbar«. Das Stück, das im Mai Premiere feierte, ist eine multimediale Collage aus Theater, Musik und Vortrag, die von Ausschnitten eines während der Reise gedrehten Dokumentarfilms begleitet wird. Abend in Betlehem. Weiße Lampen packen den Platz in ein leuchtendes Vakuum. Palmen stehen am Rand, sanft spiegelt sich das Licht in den abgelaufenen Pflastersteinen. Der Tisch ist voll, beschrieben von denen, deren Stimme ansonsten nicht gehört wird. Ein paar Kinder dürfen das Papier vom Tisch reißen und damit spielen. Sie wickeln sich ein und werfen es umher. Ein Junge rennt lachend über den Platz, er zieht eine Papierfahne hinter sich her ... und darauf die gesammelten Wünsche nach Freiheit.
Joshua Groß (22) lebt in Altdorf bei Nürnberg. Neben dem Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaft schreibt er Erzählungen und Romane.