In der Domstadt formiert sich eine neue politische Bürgerbewegung.von Christoph Schlee, erschienen in Ausgabe #10/2011
Politisches Engagement jenseits der Parteien hatte in den letzten Jahrzehnten häufig mit Störfällen zu tun, denkt man an Brokdorf, Tschernobyl, Harrisburg oder die Chemiekatastrophe des Konzerns Sandoz mit dem Fischsterben im Rhein. Oder man protestierte gegen große Bauprojekte, wie die legendäre Startbahn West des Frankfurter Flughafens und, ganz aktuell, den geplanten Bahnhof »Stuttgart 21«. In Köln bedurfte es schon einer Kombination aus Störfall und Bauprojekt, um den Widerstand der Bürger wachzurütteln. Vor nunmehr gut zwei Jahren ist das Stadtarchiv eingestürzt, weil der U-Bahn-Bau aufgrund vorheriger Personalstreichungen nicht ordentlich durchgeführt wurde. Der in Sachen U-Bahn unerfahrene Bauherr, die Kölner Verkehrsbetriebe, kontrollierte sich gewissermaßen selbst. Zwei Menschen fanden den Tod, historische Werte wurden vernichtet. Fünfzig Jahre wird es dauern, die Schäden einigermaßen zu reparieren. Wie im letzten Jahr bei der noch viel schrecklicheren (soweit man das vergleichen kann) Katastrophe während der Duisburger Loveparade fällt auf: langwierige Recherchen nach den Ursachen, aber kaum Verantwortliche. Der Duisburger Oberbürgermeister blieb im Amt. Auch der damalige Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma lehnte die Übernahme jeglicher Verantwortung ab. Während der Protest in den 70er und 80er Jahren eher den »Muff in den Talaren« aufs Korn nahm oder fundamentalistische Kritik von Autoritäten und ihrer Ideologie übte, geht es heute offensichtlich mehr darum, dass der Politik die Steuerungsfähigkeit nicht mehr zugetraut wird – sie scheint ganz praktisch zur Führung nicht mehr in der Lage. Wo klassische Kommunalpolitik – hier »Kölner Klüngel« genannt – sich im Verschleiern und Vernebeln übt, versuchen engagierte Bürger, statt zu opponieren, die Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen.
Für Kultur und Transparenz Der Archiv-Einsturz markierte den Start der Initiative »Köln kann auch anders«. »Wir haben uns ganz spontan abends im Freundeskreis getroffen und uns gefragt: Kann man denn wirklich nichts dagegen machen?«, so Initiator Frank Deja. Private Mailverteiler wurden genutzt, um im Schneeballverfahren zu einer Kundgebung aufzurufen. Daraus entstand der regelmäßige Montagstreff um 18 Uhr vor dem Kölner Rathaus, um sich gegen Missstände in der eigenen Stadt zu engagieren. Konkret bemängeln die Bürger, die sich als parteiunabhängig bewusst von der Tradition linken oder rechten Protests absetzen, »Fahrlässigkeit, Verantwortungslosigkeit, Inkompetenz und undurchsichtige Interessenverflechtung; achtlosen Umgang mit öffentlichem Raum und öffentlichem Eigentum; Skandale und Postenschieberei nach Parteibuch statt nach Fachkompetenz«. Wer will, mag hinzufügen: und die Schlechtigkeit der Welt. Aber »Köln kann auch anders« wurde in den zwei Jahren ihres Bestehens mehr als eine Protestgruppe und blieb nicht ohne Erfolg: Mit der neu entwickelten Initiative »Mut zur Kultur« wurde der teure Abriss und Neubau des Kölner Schauspielhauses verhindert, ein Bau des bekannten Architekten Wilhelm Riphahn aus den 50er Jahren. Die Abgeordneten zogen wegen des massiven Bürgerprotests ihre Abriss-Entscheidung zugunsten einer günstigeren Sanierungslösung zurück. »Köln kann auch anders« fordert einen verständlichen kommunalen Haushaltsplan – bisher steht der Haushalt nicht im Netz –, der auch Alternativen transparent macht. Neben dem Kleingedruckten befasst man sich mit undurchsichtigen Großprojekten, die den Haushalt auf Jahrzehnte belasten, wie mit dem Bau von vier Messehallen, der ohne ordentliche Ausschreibung zugunsten des Oppenheim-Esch-Fonds erfolgte. Der Europäische Gerichtshof rügte kürzlich den Fall, der zur Blamage der Stadt neu aufgerollt werden muss. Doch solche Erfolge sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Wirkungsvoller Protest müsste wesentlich größer ausfallen. Dass die Stadt in ihrem Haushalt jedes Jahr draufzahlt, fällt den meisten Bürgern eben nicht auf. Allerdings wird inzwischen der milliardenschwere U-Bahn-Bau der Kölner Nord-Süd-Strecke hinterfragt, der einen Zeitgewinn von rund 8 Minuten verspricht. In einer Zeit knapper Kassen – Köln hatte Ende 2010 einen Schuldenstand von 4,32 Milliarden Euro – erscheint das absurd. Während dieses Projekt vorangetrieben wird, regnet es in Schulgebäude hinein, verwahrlosen Sanitäranlagen und Turnhallen. Der diagnostizierte Sanierungsstau in Köln beläuft sich auf 1,1 Milliarden Euro. Mit Initiativen wie »Köln kann auch anders« gewinnt der Bürgerprotest eine neue Qualität. Aber handelt es sich dabei überhaupt noch um Protest? Schon soziologisch betreten wir Neuland. Weniger Alternative, Arbeitslose oder Künstler, sondern eher Architekten, Ärzte, Stadtplaner oder freie Berufe prägen die neue Bürgerbewegung – Frank Deja ist im Berufsleben ein gefragter Übersetzer. Auffällig ist, dass wie in vielen anderen politisch aktiven Gruppierungen die Köpfe eher grau sind: Jugendliche und Studenten sind deutlich unterrepräsentiert.
Die sogenannte Alternativszene Anders auch als in den 70er und 80er Jahren zielt der neue Bürgerprotest weniger darauf, Freiräume für alternative Projekte zu fordern, wie bei der in Köln schon legendären »Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim« (SSM). Diese Initiative musste sich vor dreißig Jahren ihren Platz im Gemeinwesen noch erstreiten, und heute ist sie ein der Stadt willkommenes soziales Projekt. Ihre Selbstbeschreibung im Netz liest sich geradezu klassisch: »20 Menschen, die anders arbeiten und leben« und »auf dem Arbeitsmarkt schlechte Chancen hatten: Arbeitslose, Obdachlose, Behinderte, psychisch Kranke, ehemals Drogenabhängige und Querdenker. Die Mitglieder der SSM wohnen und arbeiten auf einem ehemaligen Fabrikgelände.« Auf dem Gelände der alten Schnapsbrennerei existiert nach Besetzung und langen Verhandlungen schon lange ein selbstverwalteter Betrieb, der Wohnungsauflösungen und Transporte durchführt. Auf Hartz IV verzichten die Mitglieder der SSM bewusst. Auch andere antikapitalistische Initiativen und Einzelkämpfer prägen seit Jahrzenten die alternative Szene Kölns. Einer von ihnen ist Ottmar Lattorf. Schon vor dreißig Jahren organisierte er Seminare zur Aufklärung über Kernkraft. Mittlerweile hat er im Kölner Süden eine Bürgerinitiative gegründet, die in den Verein NaBiS – Natur, Bildung und Soziales, Bürger informieren Bürger – mündete. Er widmet sich der Pflege eines großen innerstädtischen Naturschutzgebiets, der Raderberger Brache, und kämpft gegen Baumfällaktionen der Stadt. Auch Lattorf engagiert sich gegen den U‑Bahn-Bau, hinter dem er die Erschließung eines neuen Stadtteils für Investoren vermutet – auf dem Gelände des alten Kölner Großmarkts. Lattorf befürchtet, dass ein Großteil der Raderberger Brache ebenfalls den Investoren in die Hände fällt, sei es für Bebauungen oder für Parkplätze. Vor Ort führt Ottmar Lattorf Nachbarschaftstreffen durch, säubert mit seiner Initiative die Brache von Müll und berät die Nachbarn in Bildungs- und Sozialfragen. Engagement für das Allgemeinwohl, für die »Allmende«, hält er für eine Sache der Aufklärung: Viele Bürger wüssten nicht, dass der zunehmende private Zugriff auf öffentliche Räume in der Geschichte nicht selbstverständlich war. An solchen Beispielen zeigt sich, dass der »alternative« und der »bürgerliche« Bereich der Gesellschaft heute nahtlos ineinanderfließen. Auch das macht die neuen Bürgerbewegungen aus.
Privat heißt geraubt Schließlich geht die Problematik der fortschreitenden Privatisierung von öffentlicher Versorgung und Land alle an. Ein gutes Beispiel für diese privaten Eingriffe – privare heißt lateinisch »rauben« – sind die ehemals der Bahn gehörenden Brachen, die profitsteigernd umgenutzt werden, und zwar weitgehend am Bürger vorbei. Auf der Internetseite der »Aurelis Real Estate« heißt es über den bis vor kurzem der Bürgerschaft gehörenden Raum lapidar: »Aurelis verfügt bundesweit über ein Portfolio von rund 20 Millionen Quadratmeter citynaher Flächen. […] In enger Abstimmung mit den Kommunen entwickelt Aurelis für ihre Areale marktorientierte Nutzungskonzepte.« Also bitte keine unrentablen Parks oder Spielplätze, keinen günstigen Wohnraum oder Flächen für Kleingewerbe, sondern Baumärkte und Shopping-Malls. Mit ähnlichem Hintergrund tobt im Kölner Szenestadtteil Ehrenfeld der Streit um das »Heliosgelände« mit seinen Ateliers, Werkstätten und Handwerksbetrieben. In den Helioswerken wurden bis 1930 Generatoren und Glühbirnen produziert. Der jetzige Eigner träumt von einem – ja wovon wohl? – Einkaufscenter mit 20 000 bis 30 000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Und wieder ein Schauplatzwechsel: Die Initiative »Sürther Aue« mobilisiert seit Jahren gegen den von der Stadt geplanten Ausbau des Godorfer Hafens, der das wertvolle Naturschutzgebiet am Rhein zerstören könnte. Immerhin 130 000 Bürger beteiligten sich am 10. Juli an einer Bürgerbefragung zum Thema; eine klare Mehrheit sprach sich gegen den Hafenausbau aus. Das erforderliche Quorum für einen Bürgerentscheid wurde allerdings verfehlt. Nach einer polarisierenden Debatte bekommt die Politik den Schwarzen Peter wieder zurück. Für Schlichtungsrunden à la Geißler ist der Protest nicht entschieden genug. Doch eine andere Parallele zu »Stuttgart 21« ist auffällig: Für echte Bürgerbeteiligung sind die Hürden zu hoch. Solange Bürgerabstimmungen noch kommunalwahl-ähnliche Beteiligungen verlangen, bleiben sie symbolisch. Wie kann die neue Gestaltungslust aus der Mitte des Bürgertums zu einem echten Faktor werden? Fast alle Initiativen stellen die Forderung nach mehr Transparenz an die Spitze. Es geht mehr um das »Wer« und das »Wie« als um das »Was«. Kristallisationspunkte der neuen Debatte sind nur noch scheinbar die geplanten Gebäude oder die Belastung der Natur, sondern die Frage, wie die Allgemeinheit über die Nutzung der Räume, die als öffentlich wahrgenommen werden, mitbestimmen kann.
Die neue Gestaltungslust Fast alle öffentlichen Konflikte in Köln kreisen also um Partizipation und Transparenz. Die tiefergehende Frage, was der Allgemeinheit und was dem Privaten zugehörig sein soll, schwingt im Hintergrund immer mit. Wenn mehr Menschen unmittelbar entscheiden sollen, benötigen sie auch das Herrschaftswissen, also umfassende Informationen zu allen betroffenen Aspekten. Darum veröffentlichen viele Initiativen im Internet bisher unzugängliche Informationen und Hintergründe. Was in der Rheinmetropole derzeit noch fehlt, sind neben dem neuen Gewimmel der diversen Internetseiten der Initiativen regionale Medienplattformen im Netz, die das kommunalpolitische Hintergrundwissen und Abstimmungsmöglichkeiten übersichtlich bereitstellen. Für die Gedanken der engagierten Bürger Kölns und die Informationen, wo sie aktiv werden können, braucht es öffentliche Foren, im Netz und anderswo. Damit würden die Aktivitäten der vielfältigen neuen Initiativen über die eigene Seite hinaus einem breiteren Publikum bekannt. Was in Jena seit vier Jahren durch das Portal »Jenapolis.de« gelungen ist, wollen wir in Köln durch »buergerstadt-koeln.net« neu etablieren: ein unabhängiges redaktionelles Format im Netz, offen für Schreibende und für die Initiativen. Die Ziele von »Bürgerstadt Köln« weisen über die Domstadt hinaus. Es geht um die Entwicklung rationaler politischer Diskurse, die einen Großteil der Bürger in den demokratischen Prozess einbinden. Diese neue demokratische Kultur organisiert sich nicht mehr in Parteien. Man spricht vom »Kümmern« um eine Sache und von »Gemeinschaft«. In den 70er Jahren hätte man wohl Gemeinschaft und Gemeinwohl mit »Establishment« assoziiert. Gemeinschaft, so dachte man damals, entstehe vielleicht für eine obskure nationale Sache oder sei nur möglich durch disziplinarische Anordnung. Nein, für Gemeinwohl und Gemeinschaft setzt sich heute ein, wer etwas Neues will.
Christoph Schlee (45) arbeitet nach einem Germanistik- und Philosophiestudium in Freiburg und Berlin seit 1996 als Fernsehjournalist. Er gründete die Kölner Initiative Grundeinkommen und den AllgemeinGut e. V. und dokumentiert filmisch Projekte in Brasilien und Kenia zum Grundeinkommen und zur Stärkung der lokalen Autonomie durch ökologische Landwirtschaft.