Partizipative Medizin bedeutet Offenheit und Selbstbestimmung.von Silke Helfrich, erschienen in Ausgabe #10/2011
In einer polarisierten Welt spalten sich die Dinge. Es heißt Staat versus Markt, Kooperation versus Konkurrenz, Traditionalisten versus Modernisten, Monopol versus Vielfalt oder Einschluss versus Ausgrenzung. Was sich dem einen oder anderen nicht zuordnen lässt, wird abgespalten. Diese desintegrierende Wahrnehmung der Welt spiegelt sich auch in der Gesundheitsdebatte: Gesundheit versus Krankheit, Laien versus Profis, Salutogenese versus Pathogenese, konkurrenzgetriebene Versicherungssysteme versus Gesundheitsversorgung für alle. Bei Gemeingütern (englisch: commons) denken wir zunächst an Gemeinressourcen wie Gewässer und Parks, Weiden und (Heil-)Pflanzen. Im globalen Horizont gesellen sich Fischbestände, Biosphäre und Atmosphäre hinzu. Gemeingüter sind an Gemeinschaften gebunden. Erst diese Bindung ermöglicht, dass die Dinge da draußen (Erde, Wasser, Raum) oder die Dinge in uns (Ideen, Sprache, Kultur) Eingang in eine kulturelle Praxis finden, die sie eben zu Gemeingütern machen und die der Historiker Peter Linebaugh als »Commoning« bezeichnet. Commoning – das gemeinsame Tun – realisiert sich nach weitgehend selbstbestimmten Regeln, die aus den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer resultieren.
Gemeingüter brauchen Kümmerer Die Logik der Gemeingüter ist eine Logik der Fülle durch Teilen und Aufmerksamkeit. Das Projekt »Nestwärme« legt davon beispielhaft Zeugnis ab: In Deutschland leben etwa 950 000 Familien und Alleinerziehende mit behinderten oder chronisch kranken Kindern. Die damit einhergehenden besonderen Belastungen müssen die Erziehenden oft allein tragen. 1999 gründeten daher Petra Moske und Elisabeth Schuh den Verein »Nestwärme«.Er versteht sich als »unabhängige, sozialunternehmerisch denkende Gemeinschaft von Menschen«, die sich dafür einsetzt, dass »Familien mit besonderen Kindern auf allen Ebenen der Gesellschaft die Geborgenheit und das Gefühl von ›Nestwärme‹ erfahren und in unserer Gesellschaft willkommen sind.« Es geht um »unbürokratische, praktische und ideelle Hilfe« von Fachleuten aus dem Sozial-, Medizin- und Gesundheitssektor, von Laien und Nachbarn. Mittlerweile gibt es 700 aktive «Nestwärmler«, die betroffenen Familien ehrenamtlich Zeit und Aufmerksamkeit schenken und so jenen mehr Lebensqualität ermöglichen, denen hochtechnisierte Medizin im Alltag nur wenig nützt. Die Eltern können Energie tanken, die Kinder – gerade auch die Geschwisterkinder – begegnen »ausgeruhten« Erwachsenen, der Kreis der vertrauten Ansprechpartner erweitert sich. Auch Nachbarschaftshilfe wird gefördert, eine Nestwärme-Kinderkrippe entstand in Trier. In solchen Projekten wird erfahrbar, wie wir Lebensqualität durch die Praxis des Commoning selbst herstellen können.
Gemeingüter brauchen stärkende Strukturen Das derzeitige Gesundheitswesen mag man als öffentliches Gut verteidigen oder als öffentliches Übel verloren geben. Festzuhalten bleibt, dass es nur eine Art ist, zum Erhalt von Gesundheit und zum Gelingen einer heilsamen Kultur beizutragen. Gegenwärtig lassen sich die Probleme, die das öffentliche Gesundheitswesen beseitigen soll (und an denen es selbst leidet), mehr denn je auf den weite Lebensbereiche beherrschenden Marktfundamentalismus zurückführen. Anders gesagt: Die gesundheitlichen Leiden der Gegenwart resultieren auch daraus, wie wir Dinge herstellen und verbrauchen. Wir produzieren und konsumieren uns krank, meint der Autor Jonathan Rowe in einem Beitrag über die »Gesundheitskrise, die nur wenige anerkennen«. Falsche Ernährung, Fernsehkonsum, durch Werbung befeuerte Konsumgewohnheiten – immer mehr Menschen und vor allem Kinder sind in den OECD-Staaten von Fettleibigkeit, Asthma, Depression oder Konzentrationsstörungen betroffen. Diese Krankheiten sind meist Folgen schlechter Ernährung und Luftqualität, mangelnder Stressbewältigung und mangelnder Sensitivität für die Grenzen des einzelnen. Gemeingüter zu beleben heißt, sich dieser unheilvollen Dynamik zu entziehen. Es geht um Strukturen des täglichen Lebens, die Verbundenheit und Vielfalt, Freiheit und Kooperation ermöglichen. Das kann Einfaches sein, etwa Bewegung in unseren Alltag einzubauen durch fußgänger- und fahrradfreundliche Städte in engmaschigen Versorgungsnetzen. Das belebt Beziehungsstrukturen und hält fit. Es weitet öffentliche Räume, in denen kommerzfreie Begegnung florieren kann. Es kann auch heißen, die Ernährung in ein soziales Ereignis zu verwandeln und mit der ganzen Familie zu lernen, was die Vielfalt des Saatguts mit der Vielfalt auf unseren Tellern und was beides mit Lebensqualität zu tun hat. Die Perspektive der Gemeingüter bevorzugt regional angepasste, kleinräumige ökologische Landwirtschaft vor pestizidreicher, global strukturierter Produktion. Gelingende Gemeingüter bedürfen natürlicher Umgebungen, in denen wir auch weiterhin geldlos bekommen können, was uns am Markt per Fitnesskurs, Laufband, Stretching-Lehrbuch, Wellness-Urlaub oder Schlankmacher verkauft wird. Vitale Gemeingüter brauchen beziehungsreiche Netze, die uns tragen.
Was allen zusteht: Zugang zu gesundheitswichtigen Ressourcen Drei Aspekte spielen in der Debatte um Gemeingüter eine zentrale Rolle: Zugang, Nutzungsrechte und Kontrolle der Gemeinressourcen, die für unser Leben wichtig sind (siehe Artikel von Elinor Ostrom auf Seite 60). In der Gesundheitsdebatte geht es dabei um Zugang zu lebendigen Lebenswelten, zu Aufmerksamkeit, Forschungsergebnissen, ver- und fürsorgenden Infrastrukturen sowie zu Medikamenten. Eine an Gemeingütern orientierte, gesundheitsfördernde Kultur folgt »Commons-Prinzipien« wie Zugangsgerechtigkeit, Transparenz, Selbstbestimmung, Partizipation, Nachhaltigkeit, Freiwilligkeit und Offenheit. Dass täglich mehr als 35 000 Menschen an für Entwicklungsländer spezifischen »vernachlässigten Krankheiten« sterben, liegt wesentlich an mangelnder Zugangsgerechtigkeit. Der Malaria fallen jährlich rund eine Million Kinder unter fünf Jahren zum Opfer, so war in der ZEIT online im Jahr 2009 zu lesen. Der Markt bietet nur wenig Anreiz, Medikamente für die in Ländern des Südens vorherrschenden Krankheiten zu entwickeln. Die Betroffenen dort verfügen nicht über die entsprechende Kaufkraft. Die daraus resultierende Vernachlässigung der Forschung für die Krankheiten der Armen hat dramatische Konsequenzen. Oft entsprechen die verfügbaren Medikamente nicht den Bedürfnissen der Menschen. Zudem werden die Kosten durch Patente in die Höhe getrieben, das heißt: lebenswichtige Forschungsergebnisse werden in Eigentumsformen gesperrt, mit denen auch die Verfügung über Neuentwicklungen in der Maschinen- oder Raketenproduktion geregelt ist. Obwohl sich das Patentwesen inzwischen als innovationsfeindlich erwiesen hat, wird auch im Pharmabereich daran festgehalten – schließlich ermöglicht es den Herstellern langjährige Verwertungsmonopole. Das Gesundheitswesen hat sich vor der bestehenden ökonomischen Ordnung bis in den Straßenstaub verneigt und Gemeinwohlbelange hintangestellt. Die institutionellen Innovationen kommen indes aus der Gesellschaft. Der Bedarf an Neuentwicklungen für Aids-Medikamente beispielsweise ist enorm, denn viele Patientinnen und Patienten zeigen Resistenzen. Hilfsorganisationen wie »Ärzte ohne Grenzen« und »Unitaid« schlagen ein uraltes Rezept vor: Wissen zu teilen. Am 15. Dezember 2009 wurde der Weg für einen Patent-Pool freigemacht, der Kombinationspräparate mit Wirkstoffen verschiedener Patentinhaber ermöglicht. Die Initiative von »Unitaid« bietet Patentinhabern eine Möglichkeit, ihre Rechte anderen Herstellern für ärmere Länder zur Verfügung zu stellen. »Mit Hilfe dieser Patente können lebensnotwendige Medikamente entwickelt und zu erschwinglichen Preisen als Generika (Präparate, die in ihrer Wirkung teuren Marken-Medikamenten entsprechen), produziert werden«, so Oliver Moldenhauer von »Ärzte ohne Grenzen«. Ein interessanter Weg ist auch die direkte Kooperation mit Generikaherstellern im Süden, wie von der Firma Boehringer Ingelheim praktiziert. Sie hat sich verpflichtet, den Zugang zu HIV-Medikamenten nicht durch Patente zu behindern. Generikahersteller können sich bei der Firma um die Nutzung des Nevirapin-Patents bewerben. Das ist noch nicht der Königsweg, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Man kann Patente teilen, statt über Patente zu herrschen. Dafür gibt es viele gute Gründe, wie auch das folgende Beispiel zeigt. Das Prinzip: Ressourcen zusammenbringen und gemeinsam nutzen. »Ein Arzt aus Sambia erzählte mir: ›Wenn ein Patient mit geschwollenen Lymphknoten zu mir kommt, kann ich die Ursache nicht erkennen. Ich kann sie auch nicht herausfinden. Also gebe ich ihm normalerweise ein Medikament gegen Tuberkulose. Wenn er sich erholt, war es TBC. Wenn er stirbt, war es etwas anderes‹«, so Agostino Faravelli in seinem Vortrag »Warum Telepathologie?« im September 2009 auf dem zweiten World Commons Forum Salzburg. Der Erfolg einer Behandlung hängt von der Qualität der Diagnose ab, und für eine gute Diagnose braucht man gute Pathologen. In Tansania leben etwa 30 Millionen Menschen, neun von ihnen sind Pathologen. Im Kongo sind es ebenfalls neun für 70 Millionen Menschen. In Deutschland arbeiten 1500 Pathologen, die sich im Schnitt drei Minuten mit einer Gewebeprobe befassen. Der Blick auf die Zahlen zeigt: Die meisten der dringend notwendigen Diagnosen werden gar nicht erst erstellt. Die Privatwirtschaft wird dieses Problem nicht lösen. Doch es gibt das Internet, dessen aktive Nutzung zwar die Ausbildung von Pathologen in den Herkunftsländern nicht ersetzen, aber dazu beizutragen kann, den Zugang zum Luxusgut »Pathologenexpertise« gerechter zu gestalten. Entsprechend bringt die in Italien beheimatete Organisation »patologi oltre frontiera« unter der Leitung von Professor Agostino Faravelli eine Idee voran, die das Fachwissen der Pathologen als Gemeingut begreift. Sie »poolen« das verfügbare Wissen und ermöglichen den Zugang zu Technologien, um das Wissen der Fachleute auch für jene Ärzte und Patienten nutzbar zu machen, die in afrikanischen Dörfern leben. So eröffnet sich eine Chance, dass ein Patient aus Sambia, der sich auf der Gesundheitsstation mit geschwollenen Lymphknoten vorstellt, Zugang zur geteilten Pathologenexpertise und zum richtigen Medikament bekommt.
Selbstbestimmung: Wer betroffen ist, soll mitentscheiden Gesundheit in die eigenen Hände zu nehmen, bedeutet selbstredend mehr, als Forschung zu beschleunigen und Foschungsergebnisse besser zugänglich zu machen. Ein weiterer Weg weist in Richtung »partizipative Medizin«. Der Begriff ist seit gut zehn Jahren im Umlauf und stellt den Patienten in den Mittelpunkt des Heilungsprozesses. Partizipative Medizin geschieht beispielsweise da, wo man lieber »Patienten wie mir« vertraut als den Institutionen. Partizipative Medizin ermöglicht es dem einzelnen, seine Diagnose mit anderen abzugleichen, das eigene Wissen schnell zu erweitern, sich über das Internet unabhängig vom eigenen Standort über alternative Behandlungsformen zu informieren (Medizin 2.0) und Unterstützung unter Gleichgesinnten oder gleicherart Betroffenen zu organisieren. In selbstorganisierten Gemeinschaften wird im Netz das »Wissen der Menge« angezapft; auch neue Formen der Zusammenarbeit werden möglich. Die traditionelle Selbsthilfe erfährt ein digitales Upgrade. Auf der Plattform www.patientenwieich.de findet man zum Beispiel Patienten, die sich gegenseitig mit Informationen unterstützen. Ein weiteres Beispiel ist »Caring Voices«, eine kanadische Plattform für Menschen, die Krebs überlebt haben. Selbsthilfe-Initiativen existieren vor allem dort, wo die Schulmedizin nicht weiter weiß oder der Staat nicht mehr hilft, weil die Krankheit zu teuer, zu chronisch und zu komplex wird. Da gibt es beispielsweise eine Tinnitus-Liga, Netzwerke für Betroffene Multipler Chemikalienunverträglichkeit, die sich im »Chemical Sensitivity Network« (CSN) zusammengeschlossen haben, eine Stiftung für Wachkoma-Patientinnen und -Patienten und vieles mehr. Mit der Nationalen Informationsstelle zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), des Fachverbands der Selbsthilfeunterstützung und -förderung, existiert seit 1984 eine bundesweite Aufklärungs-, Fortbildungs-, Service- und Netzwerkeinrichtung für Selbsthilfe. Eine der Grundüberzeugungen all dieser Initiativen ist, dass kein einzelner optimale Heilungschancen herstellen kann. Einige Patientengruppen fordern gar Mitsprache in der Festlegung von Forschungsagendas. Solche patienteninitiierte Forschung hat im Vergleich zur professionellen Forschung den großen Vorteil, dass ihre Ergebnisse sofort zur Verfügung stehen. Diesen Realitäten entsprechend, hat die Forschungsgruppe »Public Health« am Wissenschaftszentrum Berlin den Partizipationsbegriff im Ergebnis des Forschungsprojekts »Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten« wie folgt definiert: »Partizipation bedeutet in unserem Verständnis nicht nur Teilnahme, sondern auch Teilhabe, also Entscheidungsmacht bei allen wesentlichen Fragen der Lebensgestaltung. Dazu gehört die Definitionsmacht und somit die Möglichkeit, die Gesundheitsprobleme (mit-)bestimmen zu können, die von gesundheitsfördernden bzw. präventiven Maßnahmen angegangen werden sollen. »Dieses Prinzip entspricht der zentralen Forderung der Ottawa-Charta, Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger als Kern der Gesundheitsförderung zu realisieren. Selbstbestimmung ist Voraussetzung, dass Gemeingüter funktionieren – die Arbeit der Forschungsgruppe zielt präzise darauf ab, diese zu stärken – im Alltag, in den Wohnvierteln, im Arbeitsumfeld, in der Stadtgestaltung, um mittelbar die Bedingungen zur Gesunderhaltung in der konkreten Lebenswelt zu verbessern. Partizipative Medizin heißt somit nicht, das eine gegen das andere zu setzen, also Laien versus Profis, Apparatemedizin versus alternative Heilmethoden, sondern beides so zusammenzubringen, wie es sich für die Menschen als sinnvoll erweist. Dafür können wir die Erkenntnisse der Partizipationsforschung, die Funktionsweise sozialer Netzwerke und die neuen Technologien fruchtbar machen. Das stärkt Menschen in ihren sozialen Netzen. Und darum geht es.
Silke Helfrich (44) ist seit Beginn der 1990er Jahre in der Entwicklungspolitik engagiert und war langjährige Mitarbeiterin der Heinrich Böll Stiftung für Zentralamerika, Mexiko und Kuba. Sie arbeitet als freie Publizistin und betreibt das Gemeingüter-Blog www.commonsblog.de.