Ein Besuch in der Demokratie der Zukunft.von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #10/2011
So also sieht eine gut bürgerliche Versammlung in Deutschland jetzt aus: Stimmengewirr, Leidenschaft, Gerüche und Farben wie auf einem orientalischen Basar. Die Moderatoren erklären uns, dass der Wahnsinn Methode hat und auch einen Namen: Open Space. Es erinnert mich an meinen ersten, wilden Bio-Garten, und ich fühle mich zu Hause. Jetzt erklingt ein Glöckchen – Stille. Die Moderation fragt uns: Wie willst du leben? In fünf Jahren, hier in diesem Stadtteil? Jetzt die eigenen Ideen nicht gleich wieder verwerfen … Da ist er, der Moment, auf den ich lange gewartet habe. Die erste Bürgerversammlung in meinem Stadtteil mit Beschlusskompetenz. Und jetzt ich: Wie will ich leben? Ich lebe gerne in dieser Stadt. Hier das vibrierende Chaos, dort die Einsamkeit der Hinterhöfe, in denen nachts die Grillen zirpen. Hier die Partys, die wilde Multikulti-Mischung, dort der Diskurs, die Revolte. Doch den öffentlichen Raum haben wir verloren. Seit meiner Jugend träume ich von autofreien Städten, die wieder den Menschen gehören. Damals tüftelte ich an einem System, wie es heute in der Masdar Ecocity in Abu Dhabi realisiert ist: Kleine, solargetriebene Eierschalen, in die man sich setzt, sein Ziel eintippt und unterirdisch dorthin gebracht wird. Und die Stadt von oben? Alle haben jetzt Vorfahrt! Es gilt, über 20 Millionen Verkehrsschilder (alle 28 Meter eines!) zu verschrotten. Anything goes, road revolution - von den Planern des Unplanbaren auch »shared space« genannnt. Die Rückkehr des Unvorhersehbaren, der Stadt als Wildnis, in der gegenseitige Achtsamkeit die einzige Regel ist. Schnell, wie berauscht, zeichne ich auf meinem Skizzenblock die Vision einer mobilen, ekstatischen, grünen Stadt, bis mich das Moderatoren-Glöckchen zurück in die Jetztzeit holt. Denn nun kommt die Stunde der Wahrheit. Wir sollen unseren Traum einem Nachbarn erzählen. Ich erstarre, als ein schwergewichtiger Herr in Schlips und Anzug auf mich zukommt: Er ist der Leiter der Bankfiliale, residiert in einem Gebäude mit spiegelnden Glaswänden. Ich beiße mir auf die Lippe, dann erzähle ich ihm von Eierschalen und Gemüsegärten. Er hört mir zu und – das ist die Spielregel! – verzieht keine Miene. Geschafft. Jetzt ist er dran. Er erzählt von seiner Bank als Teil des Kiezes. Er will nicht länger wie ein Außerirdischer durch den Kiez gehen und das gläserne Raumschiff besteigen, um Milliarden auf den Mond zu schießen, so seine Worte. Er träumt von einer Nachbarschaftsbank, die bevorzugt Kiezprojekte finanziert. Das Raumschiff soll geöffnet werden, ein Innenhof entstehen, mit Brunnen, Bäumen, einem Café und Ausstellungen über die finanzierten Projekte … Wow! Wir bedanken uns gegenseitig für das Gespräch, und ich klappe meinen Mund wieder zu. Meine nächsten Gesprächspartner sind ein Verwaltungsbeamter (welche Vorschriften wird er vorzubringen haben?) und eine Supermarkt-Verkäuferin (was hält sie von regionalen Gemüse-Tauschbörsen?). Nach den Gesprächen geht es mir erstaunlicherweise besser als vorher. Doch jetzt kommt die nächste Hürde: In Kreisen von zehn Personen sollen wir aus unseren individuellen Träumen kollektive Vorschläge erarbeiten. Die Spielregeln: Zuhören, Ergänzung suchen, nicht Konkurrenz. Mein Traum schafft es – leicht gestutzt, aber bereichert – in die nächste Runde. Ich stelle ihn dem Plenum vor. Abstimmung: Zweidrittelmehrheit, angenommen. Jetzt in die Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung und dann ins Netz. Schließlich wohnen noch mehr Menschen hier. Zwei Wochen lang können sie ergänzen, verwerfen. Erst dann, auf der nächsten Versammlung, kann »mein« gewachsener, geschrumpfter, bestandener, größenwahnsinniger Traum angenommen werden. Hier im Stadtteil jedenfalls. Die nächste Stufe ist die Bürgerwerkstatt, wo der Haushalt beschlossen wird. Wer soll uns dort vertreten? Menschen werden vorgeschlagen, und es wird erläutert, was sie für diesen Job qualifiziert, warum sie z. B. vertrauenswürdig, kompetent, durchsetzungsfähig sind. Auch ich werde vorgeschlagen. Als verschiedenste Stimmen meine Fähigkeiten beschreiben, werde ich erst knallrot, dann knallheiß, und dann kommen mir fast die Tränen. Das soll ich sein? Und so viele Menschen würden mir vertrauen? Dann abends das Fest. Erfolge müssen gefeiert werden. Menschen kommen auf mich zu und gratulieren mir zu meiner Wahl in die Bürgerwerkstatt. Es ist wie mein Geburtstag, und in gewisser Hinsicht stimmt das ja auch. Ich werde jetzt vor dem Stadtparlament meinen Haushaltsposten vertreten. Die Stadträte sind mächtig, denn sie verfügen über das Geld. Ich bin mächtig, denn ich verfüge über einen Traum, hinter dem mein ganzer Stadtteil steht. Sie können mir meinen Traum nicht nehmen, höchstens verkleinern. Damit andere Träume auch entstehen können. Und das ist in Ordnung, finde ich. Schließlich ist das der neue Traum: Das Volk regiert – nein, das Volk träumt gemeinsam. Auf und ab im ganzen Land. Das ist ein gutes Gefühl. In meiner Jugend stand ich da, ballte die Fäuste und sang mit »Ton Steine Scherben«: »Der Traum ist aus!« Wir schreiben das Jahr 2015. Ich habe meine Fäuste geöffnet und bin immer noch ein etwas anderer Bürger - und doch bin ich mittendrin und dabei.