Ein Gespräch mit zwei Begleitern von Verstorbenen und Trauernden.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #11/2011
Als ich zwölf Jahre alt war, besuchte meine Großfamilie ein junger Mann namens Michael Kraft. Ich erinnere mich, wie er als schmale Gestalt am Esszimmertisch saß in einem seltsam altmodisch bestickten, hellen Kittel, und ich meinte, jemanden aus ganz alter Zeit zu sehen – einen Wandersmann aus einem Märchen. So unrecht hatte ich nicht. Michael war Archäologe. Schon vor seinem Studium hatte er in Griechenland intensiv an Ausgrabungen mitgearbeitet. Doch über das Graben in der Vergangenheit war ihm der Sinn für die Gegenwart abhanden gekommen. »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?« Dieser Satz aus der Osterpredigt war ihm in die Knochen gefahren. Er hängte die Archäologie an den Nagel und landete als Croissant-Verkäufer im Stuttgarter Hauptbahnhof doch nur wieder im Untergrund. »Gib mir irgendeine Arbeit«, sagte er damals zu Johannes Heimrath, einem der Gründer der Familie. Die Arbeit, die im Jahr 1986 auf den richtigen Menschen wartete, war die Leitung unseres kurz vor seiner Eröffnung stehenden Bioladens »Naturhaus im Bachhuber« in Egling, dem ersten modernen Naturkostladen im bayerischen Voralpenland. Über Nacht wurde Michael zum Pionier der Naturkost-Bewegung – und der »Bachhuber« mit ihm ein Ort der Wärme und der Suche nach einer helleren Zukunft. Das Oya-Gespräch mit Katharina Ceming und Gert Scobel (Seite 22) im Münchener Stemmerhof, an dessen Aufbau Michael mitgewirkt hat, gibt Johannes und mir Gelegenheit, ihn und seine Frau Susanne zu besuchen. In den letzten Jahren haben sich unsere Wege kaum gekreuzt. Aber jetzt möchten wir wissen, wie er die Lebendigen bei den Toten gefunden hat, denn er hat von Susanne das Handwerk des Bestatters gelernt. »Jetzt bin ich vom Ausgräber zum Eingräber geworden«, lacht Michael, als wir in ihrer Küche im oberbayerischen Mooseurach Tee trinken. »Was hat dich damals an der Archäologie so fasziniert?« »Mein Großvater war ja der bekannte Archäologe Ernst Buschor. Er starb, als ich ein Jahr alt war, und mit 14 Jahren habe ich angefangen, fasziniert seine Bücher zu lesen. Ernst Buschor war einer der ersten, der in der sogenannten archaischen Zeit Griechenlands nicht eine primitive Vorstufe der klassischen Blütezeit, sondern etwas sehr Reiches gesehen hat: Diese Epoche konnte Seinsweisen und Ebenen des Lebens ausdrücken wie später keine andere mehr. Viele kulturelle Entwicklungen beginnen sehr klar, rein und groß, setzen unmittelbar ein und verflachen dann. Am Anfang steht eine unglaubliche Qualität, wie vom Himmel gefallen in ihrer Klarheit und Präzision. Dann kommt die Wiederholung, und irgendwann kommen nur noch Schnörkel. Offenbar sucht da etwas immer wieder neu eine Erscheinung auf der Erde – Ideen, bestimmte Ausdrucksweisen, das Menschenbild –, ein Impuls der von alten Kulturen bis in meine Gegenwart reicht.« »Und was ist das, was Ausdruck sucht?« »Da bin ich immer schnell an der Grenze der Worte. Kann man überhaupt von einem ›Etwas‹ sprechen das sich ausdrücken will?«
Was wird in mir angerührt? An die Grenze der Worte wollen wir heute Abend zusammen gehen. Das haben wir vier uns zu Beginn des Gesprächs vorgenommen. Der Smalltalk war nach wenigen Minuten abgehandelt, jetzt geht es ins Abenteuer des Unaussprechlichen. »Das Schöne ist, als ich Susanne kennengelernt und ihre Bilder gesehen habe, da musste ich nicht mehr nach Worten suchen. Ihre Bilder waren eine sichtbare Form für das, wo mein Suchen nach wirklich stimmigen Worten sonst Halt gemacht hat.« Susanne ist Malerin und Kunsttherapeutin. Johannes und ich kennen sie noch nicht lange und fragen nach ihrer Geschichte. »In der 5. und 6. Klasse hatten wir einen besonderen Zeichenlehrer. Ich war mit seiner Tochter befreundet und oft in seinem Atelier auf dem Dachboden eines alten Bauernhauses. In seinen Bildern habe ich etwas gesehen, das auch ich ausdrücken wollte. Er malte zwar Figuren, aber eigenlich waren es Seelen, nicht Körper. Das hat irgendetwas in mir angerührt.« »›Irgendetwas‹ in dir. Geben wir uns mal nicht zufrieden mit ›irgendetwas‹. Vielleicht ist es lokalisierbar oder umschreibbar?« Susanne überlegt. »Dazu erzähle ich eine Geschichte. Vor einem Jahr ungefähr, nach einer ziemlich verzweifelten Nacht, war ich auf der Suche nach diesem ›Irgendetwas‹. Ich bin in den frühen Morgenstunden weit übers Land gelaufen. Alles war nur noch dunkel in mir. Lange war da nichts, nichts, nichts. Und dann kam etwas, das hat die Welt wahrgenommen. Plötzlich hat etwas in mir bemerkt, wie das Licht durch die Blätter scheint und wie die Vögel singen. Das war ein stecknadelspitzengroßes Etwas, vielleicht hier in der Brust, das die Welt wahrnahm. Von diesem Moment an war alles gut, war alle Verzweiflung verflogen – Verzweiflung darüber, wie furchtbar ich bin und was ich alles in den Sand gesetzt habe. Etwas blieb übrig, nachdem scheinbar alles zusammengebrochen war, und begann, wieder neu zu leben. Manchmal komme ich auch in meinen Bildern zu diesem Punkt, und der Weg dorthin führt oft durch das Chaos. Die Alltags-Susanne ist dann nicht mehr präsent, und dieses andere kommt, was nicht mehr mit einer Ausdehnung vebunden ist.« »Ist das keine Susanne?« »Doch. Es ist eher so, als sei dann der Mantel ausgezogen.« »Ob sich in diesen Momenten der Klarheit oder der Eindeutigkeit dieses Nicht-Ausgedehnte oder auch unendlich Ausgedehnte erfährt, selbst erkennt? Vielleicht ist es das ›Gemeinte‹, das großgeschriebene ICH, das nicht mit dem Ego verwechselt werden darf.« »Ja. Das Ego ist eher der Mantel. Diesen nicht-ausgedehnten, gewichtslosen Punkt in mir erfahre ich als ein ›Erlebendes‹. Im Moment des Erlebens weiß es nichts von sich selbst, aber hat diese ganz tiefe Gewissheit, als etwas Eigenständiges präsent und zugleich verbunden zu sein, indem es einen Baum oder ein Bild erlebt.« »Erleben« ist ein schönes Wort, finden Johannes und ich. Es beschreibt weder nur Zustand noch Prozess, noch einen Beobachter oder etwas Beobachtetes, sondern das Lebendige. War es wohl dieses Lebendige, das Michael in Susannes Bildern angerührt hat? »Noch bevor ich sie und ihre Bilder gesehen hatte, las ich ihre Briefe. Und als ich sie und ihr Tun und ihre Bilder zum ersten Mal erlebt hatte, dachte ich: Ja, das ist ein stimmiger Ausdruck für das, was auch ich in die Welt bringen möchte. Darin lag so eine große …« »… Aufgabe?« »Ein Dienst. Das gefällt mir besser als Aufgabe. Die Stelle, die spürt, wo der Sinn liegt, die sehr genau weiß, worum es geht, in welche Richtung dein Weg verläuft und wo die Abzweigungen liegen. Ich bin Susanne in einem Moment meines Lebens begegnet, in dem ich auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen war. Nach 18 Jahren Aufbauarbeit in allen Sparten der Ökobranche schien es an der Zeit, mir neue Werkzeuge zurechtzulegen, dem ›Dienst‹ ein neues Antlitz zu geben. Und dann kam in der intensiven Begegnung mit Susanne und ihrer Kunst diese Gewissheit: So ist es wahr. So ist es in einer Weise gesagt, wie ich es liebe, wie es den Dienst, der mir vielleicht zu leisten möglich ist, ausdrückt. Was ich an Susanne vom ersten Moment an so lieben gelernt habe und bis heute liebe, ist dieses Sich-den-Dingen-Zuwenden, auch dem Unerwarteten, von mir noch nirgendwo Gelesenen, nie Gedachten, Neuen. Sie hat einen Zugang dazu.«
Die Lebenden und die Toten Susanne war eine der ersten, die ein »alternatives Bestatten« gewagt haben. Tod und Sterben waren schon Thema ihrer Diplomarbeit in Kunsttherapie, und es blieb ihr treu. Während eines Praktikums in der Klinik Witten/Herdecke übte sie abends im Kunsttherapie-Raum Cello. Das hörte eine Frau, die bei ihrer sterbenden Mutter wachte, und sie fragte Susanne, ob sie sie nicht am Sterbebett und bei der Totenwache mit dem Cello begleiten könne. Wenig später bat die Klinikleitung Susanne, die Fenster des neuen Aufbahrungsraums zu gestalten. Ihre Freundin Marly brachte ihr aus Holland einen schlichten Sarg mit, den Susanne bemalte, auch wenn sie nicht wusste, was sie in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung damit anfangen sollte. Doch als die Eltern eines in der Kinderstation verstorbenen Kindes den Sarg für ihr Kind bemalen wollten, meinte die Krankenschwester, da sei Susanne die Richtige. »Die hat Särge zu Hause und malt sie immer an.« Marly und Susanne erlebten mit Bestürzung, wie die liebevoll aufgebahrten Toten aus der Klinik von routinierten Bestattern abgeholt wurden. So machten beide in Holland eine Ausbildung zur Bestatterin, auch wenn sie den Beruf zunächst noch nicht ausüben wollten. Aber eine krebskranke Kollegin wünschte sich, von ihnen beerdigt zu werden. Da mussten sie ein Gewerbe anmelden, und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Auch heute bemalt Susanne in ihrem Atelier im Dachboden des Mooseuracher Hauses mit einer trauernden Familie den Sarg. »Das sind ganz schlichte, unbehandelte Kiefernholz-Särge. Jedesmal stellt sich die Frage: Was malen wir drauf?« »Was fragst du die Familie in diesen Momenten?« »Ich frage zum Beispiel: Was möchtet ihr diesem Menschen schenken? Was stimmt für ihn, das ihr jetzt geben wollt? Dafür gibt es keine Worte, aber auf dem Sarg sieht man es.« »Da haben wir wieder ein ›Es›. Was wird da sichtbar? Es ist ja ein großer Unterschied, ob du durch Fragen die Menschen dazu bringst, etwas zu erkennen, oder ob du wie ein Prediger sagst, was richtig sei.« Michael antwortet. »Mein Dienst besteht darin, dass ich versuche, eben nicht zum Prediger zu werden. Offen bleiben, zuhören – dann kommt ›es‹. Wenn ich eine Biografie-Rede halte, ist es oft so, als trete ich ein Stück beiseite. Meine eigenen Befürchtungen und Absichten und alles, was ich über den Tod und das Jenseits gelesen und gedacht habe, machen Platz, und dann kommen die stimmigen Worte. Jede Beerdigung hat eine ganz andere Handschrift, als ob der, der gegangen ist, sich noch einmal eingeschrieben, ausgedrückt hätte.« »Was sagt ihr, wenn euch jemand direkt fragt: Wo ist meine verstorbene Mutter, meine verstorbene Freundin jetzt?« »Oft spüren alle deren Anwesenheit. Jemand kommt in den Raum der Totenwache, und die Züge des Verstorbenen scheinen sich völlig zu verändern, die Atmosphäre im Raum ändert sich stark. Oder da brennt eine Kerze drei Tage lang, und in dem Moment, wo wir den Verstorbenen zur Tür hinaustragen, geht sie aus«. »Euer Ritual stellt vermutlich eine Verbindung her, aber womit? Wie fasst man das in Worte, damit es so offen bleibt, wie ihr es fühlt, und keine Schablonen darüber gelegt werden? Als was lassen sich Verstorbene begreifen? Als Wirbel im Informationsfeld, mit dem wir in Resonanz sind? Offenbar löst ihr mit der Trauergemeinde noch eine Menge Information aus, die die verstorbene Persönlichkeit zu Lebzeiten vielleicht gar nicht so intensiv transportieren konnte.« Susanne lächelt: »Ich erlebe so oft, dass sich in der Woche zwischen Tod und Begräbnis die Kraft eines Verstorbenen stärker als zu Lebzeiten zeigt. Ein Beispiel: Nach dem Tod einer verunglückten Freundin, die ihr ganzes Leben Gemeinschaft gesucht, aber nie wirklich gefunden hat, versammelten sich zur Totenwache am ersten Abend 50, dann 80, dann 120 Menschen. Sie nahmen ihre Mutter, mit der manches schwierig gewesen war, in ihre Gemeinschaft auf, und es entstand, wovon diese Frau ihr ganzes Leben geträumt hatte.« Mag das vielleicht das »Gemeinte« sein? Wir sprechen an diesem Abend noch lange über unsere Erlebnisse mit Verstorbenen. Wie schön es trotz allem Schmerz ist, nach dem Tod eines Menschen, mit dem man verbunden ist, eine andere Nähe zu spüren. Ist es nicht unsere Aufgabe, diese Nähe auch unter Lebenden zuzulassen?