Hier entstehen neue Aufgaben für alte Kompetenzen.von Thomas Waldhubel, erschienen in Ausgabe #11/2011
Im Sommer 2010 fasste ich eine Entscheidung: Ich will nun wissen, wie es mit mir und dem Thema Gemeinschaft ausschaut. Möchte ich weiterhin nur davon träumen und als Berliner Single alt werden, oder unternehme ich endlich konkrete Schritte in eine Gemeinschaft? Was auf diese Fragen folgte, erlebte ich so wundersam folgerichtig und stimmig, wie ich das aus meinem Leben bisher nicht kannte. Als ich schon dabei war, mich für das Sommercamp im Ökodorf Sieben Linden zu rüsten, erhielt ich eine Einladung aus dem Süden Deutschlands: Die Initiative »In Gemeinschaft Leben« lud mich ein, den Tempelhof bei Kreßberg in der Nähe von Dinkelsbühl kennenzulernen. Zu meiner Freude traf ich dort einen mir nahen, gleichgesinnten Freund, ansonsten waren mir alle anderen Menschen fremd. Dennoch fuhr ich mit einem tiefen Empfinden von Vertrautheit und Verbundenheit nach Berlin zurück. Die Entscheidung für dieses Gemeinschaftsprojekt und dann auch für mein Ankommen in diesem Frühjahr wuchs mir zu, geradezu mühelos. Es galt immer nur zu erkennen, dass die Entscheidung schon in mir war. Nun wohne ich hier mit fast 60 Menschen, von denen bereits 14 ein Bedarfseinkommen aus unseren eigenen Wirtschaftskreisläufen beziehen, erlebe dichte, intensive, anstrengende, beglückende Tage, darf mich an den frischen Köstlichkeiten aus dem eigenen Garten laben, genieße frischen Ziegenkäse, lass mir den Honig von unserem Imker munden – welch kaum vorstellbarer Kontrast zu meinem Berliner Stadtleben, in das ich nur noch einmal im Monat eintauche, um das nötige Kleingeld zu verdienen. Dennoch, schon fast wie selbstverständlich zu meinem Leben dazu gehörend, der Blick über die leicht geschwungenen Äcker, die geteilte Stille im täglichen Morgenkreis, die tägliche Reflexion des Geschehens im kleinen Kreis, die kleinen Fügungen, die immer neuen Begegnungen mit Gästen …
Licht und Schatten Mein Herzenswunsch hat mich hierher geführt, mein Traum von einem Leben, in dem wir frei sind, unser Bestes, unsere volle Kreativität hineinzugeben und so wirklich sinnhaftes Tun, tätige Liebe zu erfahren. Hier fand ich und finde ich täglich neu Gelegenheiten, zur Traum-Verwirklichung beizutragen. Mit den Kompetenzen meiner Beruflichkeit fand ich mich bald nach meinem Einstieg im Herbst mitten im Geschehen wieder. Geschult darin, Prozesse wahrzunehmen und zu gestalten, konnte ich beispielsweise die Findung der Wohngruppen für die zu renovierenden Mehrfamilienhäuser begleiten und manches Dorfplenum co-moderieren. Im Gelingen erfuhr ich eine so tiefe Beglückung wie nie zuvor in meiner professionellen Praxis: Ich konnte beitragen zu unserem gemeinsamen Anliegen, gehörte selbst dazu und musste mich nicht davon abtrennen, um wieder ins eigene Leben zurückzukehren. Und zugleich kam ich mit dem Risiko und der Unfreiheit in Berührung, nicht neutral sein zu können, sondern etwas Bestimmtes durchzusetzen. Ich wurde Teil eines Ringens um geteilte Macht, um transparente Entscheidungsprozesse. Und ich durfte erleben, wie ich auch mit 60 Jahren noch nicht frei davon war, in eine heftige Vaterübertragung zu geraten, schwankend zwischen der Suche nach Anerkennung und innerlichen Wutdramen. Gemeinschaft hilft offenbar, das jeweilig Beste von Menschen freizusetzen, stößt andererseits aber auch jeden auf seine Schattenseiten, bringt die ungelösten Themen ans Licht.
Gemeinschaftsbildung Im Februar dieses Jahres zeichnete sich eine Krise ab, hervorgerufen durch Ungleichzeitigkeiten einer aufbauenden, renovierenden Truppe vor Ort und einer virtuellen Gemeinschaft, die nur in Abständen zu einem Wochenende »einflog«, einem Entscheidungszentrum in München und einer überfordernden Führungsaufgabe vor Ort. Hilfreiche Krisenbegleiter aus der ZEGG-Gemeinschaft und dem Ökodorf Sieben Linden standen uns zur Seite, und wir fanden zu einem neuen Strukturmodell mit ineinanderspielenden, weitgehend autonomen Kreisen, die vom Dorfplenum beauftragt und mit einem Budget ausgestattet werden. Vertreter der Kreise bilden einen Koordinationskreis, der als erweiterte Geschäftsführung fungiert. Mit diesem Spiel von Beauftragung und rechenschaftspflichtiger Verantwortungsnahme haben wir einen guten Pfad gefunden, der uns zwischen den Gefahren von basisdemokratisch zermürbendem »Alle-entscheiden-Alles« und entmündigendem, demotivierendem, autokratischem Durchsetzen hindurchführen kann. Und dennoch müssen wir wohl noch manchen Schritt im Übergang von der visionären und tatkräftigen Pionier-Kultur zu einer Kultur lebendiger Demokratie wagen. Dieses Ringen hat uns alle nicht auseinandergetrieben, sondern Schritt für Schritt in eine tiefere Verbindung gebracht. Vertrauen konnte immer wieder wachsen. Geschuldet ist dies besonders zwei »Essentials« unserer werdenden Gemeinschaftskultur. Da ist zunächst einmal der Wir-Prozess aus dem Community Building nach Scott Peck zu nennen, wo wir im Kreis sitzen und lernen, einander aufmerksam und respektvoll zuzuhören und authentisch, vom Herzen her, zu reden. Und dann ist da auch der sechsstufige Konsens aus der Gewaltfreien Aktion als mittlerweile gut geübte Entscheidungsform: Ich kann eine »vorbehaltlose Zustimmung« zu einem Vorschlag äußern. Beim Votum »leichte« oder auch »schwere Bedenken« trage ich die Entscheidung mit und habe zudem die Chance, dass meine Bedenken gehört werden und in den Vorschlag aufgenommen werden. Bei »Enthaltung« lasse ich den anderen die Entscheidung und beim »Beiseitestehen« kann ich dem Vorschlag nicht zustimmen, lasse ihn aber passieren. Mit einem »Veto« blockiere ich den Konsens und fordere eine neue Lösungsfindung. Bemerkenswert finde ich, wie wir uns mit diesem Verfahren Schritt für Schritt aus dem gewohnten Feld von Misstrauen, Angst und Kampf um die Durchsetzung der eigene Position herausbewegen und Entscheidungen mit Kraft und Energie erzielen konnten.
Kollektive Weisheit Die Qualität unserer Entscheidungen hängt natürlich sehr vom gemeinsamen Informations- und Beratungsprozess sowie von der Klarheit der Zuständigkeiten der Kreise ab. So wertvoll mir diese Klarheiten sind, ahne ich zugleich doch immer mehr, dass dies nur eine – sehr rationelle – Möglichkeit ist, sich zu koordinieren. Mancher kennt die Erzählungen aus indigenen Kulturen über nahezu magische Verständigung in beratenden Kreisversammlungen: Scheinbar wurde über die Sache selbst nicht gesprochen, aber wenn alle Gehör gefunden haben, wissen anschließend alle, was zu tun ist. Wie würden Entscheidungsprozesse aussehen, wenn es uns Heutigen gelänge, uns bewusst in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen und die Sinne für unsere Aufgabe darin zu öffnen? Kürzlich bekam ich einen Geschmack davon, als wir im Sozialplenum eine Aufstellung machten. Anlass war Unruhe angesichts der Frage, ob wir eine Roteiche würden fällen müssen, weil sie durch einen Erweiterungsanbau der Kantine in Bedrängnis geraten war. Es war berührend, zu erleben, wie die Repräsentantin der Eiche einverständig werden konnte mit ihrem Weichen, als ein »Größeres« in die Aufstellung kam und der Eiche gegenübertrat. Dadurch, so schien mir, wurde das Geschehen auf einer tieferen Ebene wahrgenommen, und viele konnten besser mit der Entscheidung umgehen. Meine Aufmerksamkeit verschiebt sich weg von den Strukturen und Formen hin zu dem Feld, in dem Beratungen und Entscheidungen geschehen, erzeugt von der Situation und den Bewusstseinsverfassungen der Vielen. Wie können wir gemeinsam ein Feld erzeugen, das nicht nur kraftvolle und energiereiche Entscheidungen hervorbringt, sondern auch neue Wege, neue Qualitäten ermöglicht? Oder wie der Zukunftsforscher Otto Scharmer es mit dem Begriff »Presencing« fasst: Wie können wir lernen, »von der Zukunft her wahrzunehmen« und »von der entstehenden Möglichkeit her zu sprechen«? Und dies nicht nur bei den großen, visionären Fragen, sondern gerade bei den Themen des Alltags. Können wir wach dafür werden, dass uns allen offenbar unterschiedliche Bewusstseinsqualitäten und unterschiedliche Aufmerksamkeiten möglich sind, die je unterschiedliche Felder hervorbringen? Entsprechen diesen unterschiedlichen Feldern dann auch unterschiedliche Entscheidungsformen? Gehört zu einem Freund-Feind-Feld die Mehrheitsdemokratie von Gewinnern und Verlierern? Zu einem Win-win-Feld der sechsstufige Konsens? Wie könnten dann Entscheiden und Handeln von einem Größeren, vom Zukünftigen her geschehen, und wie erzeugen wir das Feld dafür?
Thomas Waldhubel (61) arbeitet als Supervisor, Berater und Trainer an Blockadelösungen, Kooperationsförderung, Konfliktbewältigung und kollektiver Intelligenz. www.con-vivio.de