Die Kraft der Geburt
Hausgeburten sind immer noch selten. Ein mutiger Schritt von eigenständigen Frauen.
Am Rand des kleinen Örtchens Niederfinow in der Schorfheide bauen zwei junge Familien seit etwa zwei Jahren ihren gemeinsamen Lebensort auf. Ihr Grundstück, ein Südhang des Finow-Tals, überwuchert mit alten Obstbäumen, ist ein Traum. Ein kleines Häuschen mit Bad und Küche haben sie schon bewohnbar gemacht, und in Bauwägen entstanden gemütliche Nester, einmal für Anna, Moritz und ihren siebenjährigen Sohn Noel und einmal für Janana und Sascha. Viele Freunde haben überlegt, sich den Neusiedlern anzuschließen, aber als Anna und Janana Anfang des Jahres schwanger wurden, war deutlich, dass die Familie zunächst einmal aus sich heraus wachsen will. Im August 2011 kam Annas Sohn Vitus zur Welt, im September Jananas Tochter Kamila, beide zu Hause, im Bauwagen.
»Sie sind jetzt echte Eingeborene«, sinniert Anna, als Johannes Heimrath und ich die Niederfinower Mitte Oktober besuchen. Der Wunsch, mit ihnen über die Geburten zu sprechen, entstand nach dem Besuch bei unseren Bestatter-Freunden (siehe Seite 20).
Unsere Ankunft hat sich verspätet, über dem Platz glitzern schon die Sterne. Am abgeräumten Esszimmertisch schaut Noel noch einen Dick-und-Doof-Film an. Dann schläft er auf dem Sofa ein, während wir Erwachsenen uns ins Gespräch vertiefen. Die Babys hängen über den Schultern ihrer Eltern. Vitus schenkt uns dann und wann ein hinreißendes Lächeln, Kamila ihren zutiefst staunenden Neugeborenenblick.
»Vor den Geburten waren wir alle zusammen zwei Monate lang nur am Platz«, erzählt Janana. Das war etwas Besonderes. Janana, Heilpraktikerin und Tänzerin, ist als Luft- und Feuerartistin viel mit Sascha, der Religions- und Musikwissenschaftler, Musiker und ebenfalls Artist ist, auf Festivals und Märkten unterwegs. Auch Moritz ist wegen seiner Filmprojekte häufig auf Reisen, wie auch an diesem Abend. Anna hat als Lehrerin an einer nahegelegenen Freien Schule Arbeit gefunden und hütete bisher am meisten von allen den Platz.
»In dieser Zeit haben wir verstanden, was die Redewendung ›ein Kind erwarten‹ bedeutet. Jeden Tag haben wir Annas Kind erwartet. Und irgendwann, als wir innerlich ganz hier angekommen waren, begann die Geburt«, erzählt Janana.
»Es war eine malerische Caspar-David-Friedrich-Nacht, der Mond hing voll über dem Land, die Wolken machten sich rar und schwebten in Schwaden vorbei, Nebel stieg vom Fluss auf – wunderschön«, fährt Sascha fort. »Wir haben Geburtssuppe gekocht und am Feuer Musik gemacht. Es war eine unglaublich kraftvolle Atmosphäre.«
Leben passiert von selbst
Kraftvoll. Was ist das, diese Geburts-Kraft? »Es fühlt sich an, als werde dein Körper wie Ton geformt, es zerrt ihn auseinander, der Rücken wölbt sich, das Steißbein muss aus dem Weg. Du bist zugleich der Ton und zugleich die Hände, die da formen«. Anna sucht die richtigen Worte. »Diese Kraft kommt einfach, die Schöpfung nimmt dich mit. Ich glaube, es ist sehr prägend für dich und das Kind, wenn dieser Kraft nichts in den Weg gestellt wird. Sie kann natürlich auch beängstigend sein. Nach einer ersten leichten Phase ist die Geburt etwas ins Stocken gekommen, das hat uns gewundert. Vitus hatte sich nämlich eine nicht ganz übliche Position als Sterngucker ausgesucht. Aber unsere Hebamme Cordula hat so viel Ruhe ausgestrahlt und mir zu jeder Zeit vermittelt, dass ich das schaffe.«
Cordula Exner ist eine der wenigen Hebammen, die noch Hausgeburten begleiten. Viele Kolleginnen haben wegen massiv erhöhter Versicherungsbeiträge diesen Beruf bereits aufgegeben. Den freien Hebammen wirft das staatliche Gesundheitswesen derzeit Steine in den Weg, wo es nur geht.
»Weil das Wachsen eines Embryos und die Geburt Prozesse sind, über die man keine Kontrolle hat«, meint Anna, »tut sich unsere Gesellschaft so schwer damit.« Durch die Geburt von Vitus ist ihr noch einmal neu bewusst geworden, welch ein kollektiver Verlust es ist, wenn sich diese Kraft der Geburt in unserer Gesellschaft nur selten frei entfalten kann.
»Du hast auch das Gefühl: Das ist nicht nur deine Kraft«, ergänzt Janana. »Die Geburt von Kamila hat ja 19 Stunden gedauert. Von der Artistik her bin ich so stark darauf trainiert, alles festzuhalten, wahrscheinlich konnte ich deshalb so lange Zeit nicht ganz loslassen. Nach 18 Stunden sah es so aus, als würde mich die Kraft verlassen. Also doch ins Krankenhaus? Aber da wusste ich plötzlich, jetzt schaffen wir das! Sascha hat ein Ritual begonnen und alle guten Kräfte zur Unterstützung gerufen. Und ich habe all meinen Willen zusammengenommen und mich in diese letzte Phase gestürzt. Auf der einen Seite ging es um den Willen, auf der anderen Seite ums Loslassen. Cordula saß zeitweise hinter mir, ihr Körper hat mir vermittelt, was dieses völlige Sich-Überlassen bedeutet. Sie war mir so nah in diesem Moment, wie eine Mutter. In keinem Krankenhaus in Deutschland hätte man diesen Prozess 19 Stunden laufen lassen. Aber Cordula hat immer wieder Kamilas Herzschlag abgehört, so hatten wir keine Angst.«
Wer ist »mein« Kind?
Wenige Tage nach ihrer Geburt haben Johannes und ich Kamila schon einmal sehen dürfen. Im Schlaf wirkte sie damals wie eine verzauberte Prinzessin aus einem fernen, östlichen Land – ihr Vater hat schließlich russische Vorfahren.
»Als sie auf die Welt kam«, erzählt Sascha, sah sie aus wie eine ›Person‹, wie ein ›Charakter‹. Als wäre da etwas ganz Starkes, aber auch ›Festgehaltenes‹ gekommen. Mir schien, als könnte sich das lösen, indem wir sie so annehmen, wie sie ist. Die ganze zweite Nacht hindurch hat sie geweint, und wir haben sie getröstet. Danach war dieses Festgehaltene verschwunden, und sie war ein richtiges ›Baby‹ geworden. Zuerst war ich fast erschrocken über den Charakter, der mir da begegnet ist. Wo kommt sie her?«
Janana erzählt, dass sie während der Schwangerschaft diesen »Charakter«, der nach der Geburt aus Kamilas Gesicht und den so »alt« wirkenden Händen und Füßchen sprach, nicht sonderlich stark gespürt hat, viel intensiver sei das Gefühl einer großen Verbundenheit und Einheit gewesen. »Die hatte nicht nur mit mir und dem Kind zu tun, sondern mit dem ganzen Universum.« Anna erzählt, dass sie gar nicht so genau wissen wollte, wer da komme, sondern das Kind einfach willkommenheißen wollte. »Aber vielleicht hat da auch etwas gefehlt«, meint sie nachdenklich. »›Warst du in Kontakt mit ihm?‹ hat mich Cordula zu der schwierigen Schlussphase gefragt. Vielleicht hat Vitus sich schräggestellt, damit mich diese heftige Körperlichkeit so aufweckt, dass ich wirklich mit ihm in Kontakt trete.«
Die Verbundenheit zu einem kleinen Wesen, das noch nicht »Ich« zu sich sagt und aus dem eigenen Körper kommt, aber doch ein eigener Mensch ist – das ist wohl die Ur-Polarität von Gemeinschaft und Individualität. An diesem Abend erscheint mir dieses scheinbar so schwierige Spannungsfeld als etwas ganz Einfaches. Beide Mütter sprechen viel vom Respekt gegenüber ihren Kindern. Dass Säuglinge eben nicht immer angegrinst und gehätschelt werden, sondern auch mal nur versonnen dreinschauen wollen. »Es geht darum, zu unterstützen und nicht im Weg zu stehen«, meint Anna. »Ich muss mir nicht pausenlos überlegen, wie ich das Potenzial meiner Kinder entfalten kann, sondern ich will das Leben geschehen lassen, wie auch bei der Geburt.«
»Da gibt es noch etwas Drittes, glaube ich«, meldet sich Sascha zu Wort.« Das hat mit Vision zu tun. Für welche Visionen brennt wohl die kommende Generation? Das wissen wir nicht. Wir können nur einen Raum öffnen für unsere eigenen Visionen und ahnen, dass die unserer Kinder weit darüber hinausgehen werden.«
Ja, dieser Raum ist wichtig, das meine ich aus meiner eigenen Kleinkindzeit behalten zu haben. Es war nicht nur die liebevolle Nähe der Eltern, es war auch ihr freier Visionsraum, der mir das Gefühl von Geborgenheit und Willkommensein auf der Erde gegeben hat – ein Gefühl für das Ganze.
Bevor wir fahren, wacht Vitus noch einmal auf und beantwortet mein Lächeln. Kein Zweifel, er weiß schon alles, was in dieser Welt wichig ist.
Sanfte Geburten und Engagement für Hebammen
Kontakt Niederfinow: Anna Siegenthaler, annalog ÄT gmx.net
Hebammen: www.dfh-hebammen.de, www.greenbirth.de
Literatur
• Willi Maurer: Der erste Augenblick des Lebens. Drachen Verlag, 2009
• Michel Odent, Vivian Weigert: Geburt und Stillen. Beck Verlag, 2006
• Gerald Hüther, Inge Krens: Das Geheimnis der ersten neun Monate. Unsere frühesten Prägungen. Beltz, 2011
Hausgeburten sind immer noch selten. Ein mutiger Schritt von eigenständigen Frauen.
Das Zusammensein mit Sterbenden und Verstorbenen ist heute aus dem Alltag verbannt. Dabei ist es eine Brücke zum Sinn des Lebens.
Wenn von »nachhaltiger Entwicklung« die Rede ist, ist fast immer »nachhaltiges Wachstum« gemeint. Auf Wachstum zu verzichten, würde die sozialen Sicherungssysteme, wie Gesundheitswesen und Altersvorsorge, ins Wanken bringen, die auf ständigem Wachstum