Titelthema

Das Lebendige ist nicht erklärbar

Geseko von Lüpke sprach mit dem Quantenphysiker und ­Friedensnobelpreisträger Hans-Peter Dürr, für den die Quantenphysik die »Einheit der Wirklichkeit« zeigt.von Geseko von Lüpke, Hans-Peter Dürr, erschienen in Ausgabe #11/2011
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Geseko von Lüpke Hans-Peter, in deinen Vorträgen gibst du den Menschen viel mit, wenn du, oft vor vollbesetzten Hallen, über ein anderes, ganzheitliches Weltbild sprichst. Wonach sind sie alle auf der Suche, wenn sie zu dir kommen?

Hans-Peter Dürr Das ist ganz schwer zu beurteilen, weil sie oft sagen: »Ich hab nicht wirklich viel verstanden davon, aber es hat mich in eine Richtung gelenkt, wo ich immer schon Fragen gestellt habe, die ich selbst nicht beantworten kann. Und Sie haben mir einen Hinweis gegeben.« Und ich antworte ihnen dann: »Auch wenn ihr’s nicht verstanden habt, dann seid ihr nah dran.«

GVL Das heißt, es geht gar nicht ums Verstehen?

HPD Ich glaube, dass wir eine andere Art unseres Denkens brauchen, in der wir nicht darauf drängen müssen, alles erklären zu können. Wir müssen auf das Ganze gucken! Das bedeutet, dass ich nicht erst alles in Teile zerlege und es dann wieder zusammenbastle. Stattdessen suche ich nach einer Orientierung, die nicht an das Zerlegen gebunden ist.

GVL Das klingt so, als wären deine Vorträge so etwas wie die Bestätigung eines intuitiven Wissens jenseits von reiner Rationalität.

HPD Ja. Das stimmt mit meiner persönlichen Erfahrung von Lernen überein. Ich erinnere mich an meinen Lehrer Werner Heisenberg, der sagte immer: »Hier ist ein Problem, das ich überhaupt nicht verstehe. Wir sollten uns doch mal darüber unterhalten.« Es ist nicht schlimm, wenn man etwas nicht versteht oder nicht ausdrücken kann. Sich jenseits der reinen Rationalität auszudrücken, heißt ja, über die Gefühle zu sprechen angesichts des Problems, mit dem ich nicht fertig werde. Mir ist klar geworden, dass reines Erklären gefährlich ist. Wenn man aber ausdrückt, was man gefühls­mäßig erlebt hat, ist die Kommunikation viel einfacher.

GVL Das klingt wie der Unterschied zwischen Sprache und Musik.

HPD Der große Physiker Heisenberg war ja ein sehr begabter Pia­nist. Er sagte öfters: »Was mich am glücklichsten gemacht hat, war, wenn auf einmal der Physiker und der Pianist derselbe waren.« Und dann ergänzte er: »Eigentlich ist es immer so gewesen, dass zuerst der Pianist etwas erkannt hat und dann der Physiker.« So ist es auch mit unserer Wahrnehmung der Welt: Zuerst hört man ein Lied, kann es aber noch nicht aufschreiben. Einmal aufgeschrieben, ist es nicht mehr genau das, was man sagen wollte. Dann muss ich die aufgeschriebenen Noten am Klavier spielen, und erst, wenn ich sie auf eine gewisse freie Weise spiele, kommt das Lied zurück.

GVL Das heißt also: Zuerst steht da das emotionale Erfassen der Welt. Und dann die Sprache, um sie sozusagen in Schubladen und Formen zu gießen, was allerdings die Ganzheit wieder zerstört.

HPD Ja. Die Frage ist, ob man das »etwas Emotionales« nennen kann. Aber ganz bestimmt ist es etwas, das nicht auf Exaktheit orientiert ist. Sondern es kommt darauf an, wie es mit anderen Vorstellungen verbunden ist. Wenn man sagt: »unscharf«, klingt das wie ein Mangel an »Schärfe«. Aber ich will damit keinen Mangel ausdrücken, sondern die Schönheit des Ganzen. Die Unschärfe hat in der Exaktheit eben ihr Pendant. Je unschärfer ich gucke, desto verbundener wird etwas, so dass ich am Schluss die Orientierung bekomme, die für mich wichtig ist. Das ist dann allerdings kein Handwerkszeug, mit dem ich etwas in der Realität umsetzen kann. Wenn wir handeln wollen, müssen wir fixiert sein.

GVL Welche Rolle nimmst du gegenüber dem Publikum ein, wenn du solche Sachen sagst? Die des Weisen, die des Ältesten oder die des alten Narren in der Normalwelt?

HPD Die eines Menschen, der mehr erlebt, als er begreift. Letzten Endes brauche ich keine Erklärung. Eine Erklärung heißt, eine Sprache zu finden, mit der ich dann handwerklich umgehen kann. Aber ich will nur eine Orientierung! Wenn jemand zu mir kommt und fragt: »Kannst du mir erklären, was Liebe ist?«, antworte ich: »Nein, das kann ich nicht! Weil es etwas ausdrückt, das mit Beziehung zu tun hat. Und eines Tages wirst du verstehen, dass es ganz unnötig war, dass du diese Frage gestellt hast.«

GVL Da bist du nicht mehr der Naturwissenschaftler und auch nicht der Philosoph. Da changierst du zwischen diesen Rollen.

HPD Ich meine, da bin ich selbstverständlich der moderne Naturwissenschaftler! Die Unschärfe sagt uns: Man kann nie sagen, was ist, sondern nur, wie es miteinander verknüpft ist. Wie im Beispiel »Was ist Liebe?«. Wenn der andere eines Tages kommt und mir berichtet: »Ich hab mich verliebt!«, dann frage ich: »Kannst du es mir erklären?« Darauf lacht er nur und sagt: »Ja, jetzt habe ich es verstanden!« – Die Welt ist größer als das, was man begreifen kann.

GVL Du bist als Naturwissenschaftler und politischer Aktivist bekannt, aber nimmst heute viel mehr die Rolle eines alten Weisen ein, der neue Kriterien von Denken und Handeln und Werten einbringt. Hast du das Gefühl, dass die Konjunktur deiner Ideen steigt?

HPD Ja, den Eindruck habe ich. Aber auch hier gilt, dass die Menschen etwas Neues suchen, ohne es schon zu verstehen und zu erfassen. Wir haben alle unsere eigene Interpretation. Der eine ist am Meer aufgewachsen und hat Gleichnisse, die sehr viel mit Bewegung zu tun haben. Der andere ist in den Bergen aufgewachsen und ist davon geprägt, dass man sich im Gebirge festklammern muss, damit nichts passiert. Wenn die beiden miteinander reden, stellen sie fest: »Ich verstehe dich nicht!« Dann geht es darum, die Gemeinsamkeiten im Detail herauszufinden. Die kommen zutage, wenn man Gleichnisse verwendet.

GVL Welche Rolle spielt in dieser Vermittlung neuer Welten, neuer Weltbilder die Metapher, die Analogie, die Geschichte?

HPD Ich müsste nach jedem Satz sagen: »Das ist nur ein Gleichnis! Nehmt es nicht als die reine Wahrheit, denn es ist meine Metapher. Ihr seid gefordert, eigene Metaphern zu finden.« Wir brauchen Metaphern. Wenn man etwas verabsolutiert, macht man es kaputt.

GVL Das wäre, wie wenn man die Landkarte mit der Wirklichkeit verwechselte …

HPD Ja. Aber wir sind diejenigen, die handlungsfähig sind. Als Handelnder sehe ich aus der Vielzahl der Möglichkeiten nur noch die eine Sache, ich kann nur schwer gleichzeitig das große Bild vor Augen haben. Wenn ich handle, dann weiß ich: Es ist mein Finger, der diese Taste drückt, dafür bin ich verantwortlich. Wenn man handelt, ist man exakt, dann fallen die unendlichen Möglichkeiten des großen Zusammenhangs in die eine Verwirklichung zusammen. – Was dann? Wir müssen alle lernen, zwischen dem Exakten und dem »unscharfen« Zusammenhang hin und her zu schaukeln.

GVL Wie wird die Wirklichkeit denn dann erfasst?

HPD Damit müssen die Menschen dort anfangen, wo sie nicht mehr reflektieren. Die wenigsten wissen, was das heißt. Das ist ein Zustand, in dem du kein Urteil mehr hast. Das ist ein Zustand der Hingabe, das sind Situationen, in denen du sehr beglückt bist. Du verlierst auf einmal die Reflexion und bist vollkommen offen für das, was dir entgegenkommt. Bei mir spielt zum Beispiel Musik eine große Rolle. Sie kann mich in einen Raum versetzen, in dem sich durch diese zusätzliche Empfindsamkeit das Innenleben erweitert.

GVL Seit Jahren reist du immer wieder nach China und findest in diesem großen Land offenbar mehr Zustimmung als bei uns. Warum ist das so?

HPD Die Chinesen verstehen aufgrund ihrer alten Weltsicht einen ganzheitlichen Ansatz besser. Sie haben eine 6000 Jahre alte Kultur und beschreiben nicht, was ist, sondern wie es sich bewegt. Sie schauen auf die Veränderung, an die man sich anpassen muss. Ihre Sprache und ihre Symbolik bauen auf Beziehungen, nicht auf Dinge. Sie sagen: Euer Problem ist, dass ihr die Dinge fixiert, obwohl es das ja eigentlich gar nicht gibt. Sie verstehen, was es heißt, unscharf hinzuschauen, aber alle Beziehungen im Blick zu haben. Da sind sie uns voraus.

GVL Heißt das, wir dürfen nicht mehr in der absoluten Exaktheit des Entweder-Oder, des Schwarz-oder-Weiß denken?

HPD Das Lebendige ist ja nicht nur sehr vielfältig, sondern es verändert sich; die ganze Entwicklung des Lebendigen ist bewegt. Das ist etwas Kreatives, eine neue Dimension. Für mich bedeutet das letztlich, dass der Schöpfer und das Schöpfen das Gleiche ist. Ich brauche den Schöpfer gar nicht, weil die Schöpfung selbst das kreative Element enthält. In der konventionellen Physik nennen wir die Schöpfung »Big Bang«. Mit dem bin ich überhaupt nicht einverstanden. Für mich gibt es nicht den einen großen »Bang«, den Urknall. Es knallt ununterbrochen. Und wir sind die, die knallen. Das Zusammenwirken dieser »Knalle« ergibt die weitere Entwicklung. Du musst nur deine Fähigkeiten entwickeln und sie ins Ganze einfügen, um auch einer dieser »Bangs« zu werden.

GVL »Das Lebendige lebendiger werden lassen« ist ja der Titel deines jüngsten Buchs. Geht der Begriff des »Lebendigen« über »Nachhaltigkeit« hinaus?

HPD Genau das ist es. »Nachhaltigkeit«, »Sustainability«, ist die Bemühung, die Dinge zu lassen, wie sie sind. Da spricht man eigentlich nur vom Toten. Bei den Worten »nach« und »halten« schlafen mir die Füße ein. Ich sage den jungen Leuten: »Wenn ihr euch ins Grab legt, dann könnt ihr die Nachhaltigkeit sofort erfüllen.« Nein. Wir wollen, dass sich etwas ändert. Du bist selber derjenige, der kreativ sein kann, und das gibt dann dem Leben einen Sinn. Das hat auch etwas damit zu tun, dass du sagst: »Ich liebe es, zu leben!«

GVL Wenn der Physiker sagt, alles ist miteinander verbunden und das, was Materie ist, ist nur verklumpte Beziehung – wie lebt man das im Alltag?

HPD Das sind zwei unterschiedliche Leben. Ich weiß selbstverständlich, wie Beziehung ist. Ich habe ja diese Begriffe eingeführt: Statt Teilchen sage ich »Passierchen«, statt von Atomen spreche ich von »Wirks«. Das gelebte Leben ist das eine, die Potenzialität des »unscharfen« Zusammenhangs das andere. Du fragst, wie ich damit umgehe? Ich gehe um mit etwas, das Billionen mal Billionen Wirks, auf einen Haufen geschmissen, insgesamt nach außen zeigt. Das ist das Leben, in dem ich mit meinen Sinnen lebe.

GVL Muss man dich als einen modernen Mystiker verstehen?

HPD Als Mystiker müsste ich die Liebe in Spiritualität übersetzen. Das ist bei mir ganz anders. Ich habe nie meditiert, weil das bei mir alles kaputtmacht. Wenn ich mir Mühe gebe, ist schon der Kopf dabei. Aber wenn ich mich fühlend in eine Situation hineinbegebe, dann entsteht eine Erweiterung, dann ist die Liebe konkret da.

GVL Du bist jetzt 82. Was ist das Fazit deiner Arbeit?

HPD Für mich war es das Eindrucksvollste, nach den Schrecken des Kriegs wieder bei Null angefangen zu haben. Und zu erkennen, wie wunderbar eigentlich ein Mensch ist. Dann Hannah Arendt, die mir gesagt hat: »Misch dich in alles ein! Und wenn du etwas nicht verstehst – frag!« Du hörst dann etwas, was du vorher noch nicht gehört hast. Mittlerweile sehe ich das Leben als einen ungeheuren Zuwachs an Raum. Deshalb macht für mich der Tod nichts aus: Während ich lebe, bin ich ja nicht nur ein Ego-Leben, sondern Teil vom großen Hintergrund, der das ganze Leben formt. Und wenn ich mal weg bin, ist das ja immer noch da. Mein Name spielt keine Rolle, weil ich ja nur ein »Bang« bin von etwas, was sozusagen diese ganze Schöpfung ausmacht.

GVL Du sagtest mal: »Es gibt noch viel zu viel zu tun, um abzutreten.« Fürchtest du, die nächsten »Bangs«, die du noch zu leisten hast, nicht mehr zu schaffen?

HPD Ich habe immer noch die Hoffnung, dass ich unsere Kultur überzeugen kann. Je freier du dich fühlst, desto größer wird deine Verantwortung in dem, was du tust. Wir sitzen alle auf einem Ast, die ganze Menschheit, und wenn der abgesägt ist, dann fallen alle runter, und leider auch diejenigen, die gewarnt haben. Ich sehe mich als Welle in einem Ozean, in den ich viele Steine geworfen habe. Aber da steht nicht »Hans-Peter« drunter. Was gemacht werden muss, ist mir klar. Ob es klappt, weiß ich nicht.

GVL Wenn du analytisch sprichst, höre ich den Skeptiker und den Pessimisten. Und wenn ich dich über das Ganze sprechen höre, sehe ich dich als Optimisten.

HPD So ist das. Es ist wichtig, zu begreifen, dass das, was wir empfinden, richtiger ist als das, was wir Realität nennen. Realität ist die dingliche Auffassung der Welt, und die ist nicht das, was überleben wird.

GVL Vielen Dank für das hoffnungsvolle Gespräch. 


So bleiben Sie dem Weisen auf der Spur
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www.gcn.de.

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