In weiter Ferne so nah liegt unter unseren Füßen ein lebendiger Kosmos von unendlicher Weite und Vielfalt. Eine Annäherung.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #12/2012
Auf dem Ackerboden knieend, ziehe ich Unkrautbüschel aus der Erde. Den Wurzelstecher habe ich zur Seite gelegt, will lieber mit den Händen graben. Habe ich die Wurzeln der Quecken und Melden gelockert, rüttele ich erst sachte, dann kräftiger an den Pflänzchen. Ich stecke meine Hände in die Erde und fühle die trockene Wärme der gelockerten Krume und die kühle Feuchte des Erdreichs darunter. An den Enden der dünnen Wurzelfäden begegnet mir mancher Wurm, gelegentlich ein Tausendfüßer. Durch mein Schütteln purzeln sie zu Boden und graben sich flink wieder ins Erdreich. Mein Blick schweift auf die Wiese jenseits der Ackerkante. Dort ragen mehr Maulwurfshügel aus krümelig dunkler Erde aus dem Boden hervor, als ich zu zählen vermag. Wie ausgebeult wirkt das Land rings um den kleinen Allmendeacker und die nahegelegene Streuobstwiese. Inmitten einer lebensfeindlichen Wüste aus hochverdichteten, monokulturellen Agrarflächen muss dieser Boden den Maulwürfen wie eine Oase erscheinen. Sie sind unter uns, aber sind sie uns auch nahe? Eine bewegende Begegnung zwischen Mensch und Maulwurf notierte Franz Kafka im November 1914 in sein Tagebuch: Im Schützengraben hatte sein Schwager das Graben eines Maulwufs als Omen gedeutet, weshalb er zur Seite und somit aus der Linie jener Kugel gewichen war, die einen Augenblick darauf den nachrückenden Hauptmann traf. Würden wir die Zeichen der Maulwürfe heute zu deuten wissen? Oder würden wir uns wie der Hauptmann blindlings in die Schusslinie stürzen? Kaum besser ergeht es den Regenwürmern, denen ich beim Graben begegne. Wäre die verbreitete Mär vom unbegrenzten Regenerationsvermögen dieses Wurmes wahr, dass er nämlich, entzweigehauen etwa von Pflugscharen, weiterleben könne als Zwei, dann würde es ringsum nur so wimmeln vor regen Würmern. Dochunter einem Quadratmeter konventionell bewirtschafteten Bodens graben im Schnitt gerade mal sechzehn Würmer, in gesundem Acker- oder gar Waldboden hingegen vierhundert und mehr. Der Regenwurm zählt zu den Riesen des Bodenlebens – hier tummeln sich Myriarden größtenteils unerforschter Klein- und Kleinstlebewesen. Um, wie Wiliam Blake schrieb, »die Welt in einem Sandkorn zu sehn«, muss man dieses nicht unters Mikroskop legen, doch es mag helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass eine Handvoll gesunden Bodens mehr Leben birgt, als es Menschen auf der Erde gibt: Darunter so poetische Wesen wie Springschwänze, mit bloßem Auge gerade noch erkennbar, die besonders gerne Blätter zersetzen – zu Lebendwurzeln fressenden »Schädlingen« werden sie erst in Monokulturen. Oder zarteste Wimperntierchen, Geißeltierchen und Horden des fleißigen Fäulnisbakteriums Bacillus subtilis, das mit Zucker- und Protein-abbauenden Enzymen soeben Verstorbenes dem großen Lebenskreis zurückschenkt. Auch altehrwürdige, Photosynthese betreibende Cyanobakterien, die zu unseren ersten Ahnen zählen und denen wir Himmel und Erde, die Atmosphäre und den Boden verdanken. Oder die ordnungsliebenden detrivoren Bakterien und Pilze, die seit Urzeiten organische Materie zersetzen und das erzeugen, was auch ich werde, wenn ich einmal nicht mehr bin: Nährstoff, der neues Leben birgt. Die Erde, in die ich meine Hände stecke und auf der ich stehe, ist so ein beständiges Memento mori, eine Erinnerung an meine eigene Sterblichkeit. Dass die Erdmutter alter Mythen nicht nur für Fruchtbarkeit, sondern auch für die Welt der Toten steht, ist bezeichnend. Der Zugang zur Unterwelt liegt nicht nur in einem neapolitanischen Vulkansee, wie bei Vergil und Dante zu lesen ist, sondern auch in der gewöhnlichen Ackerkrume. Und doch ist sie kein Totenreich, denn nichts in ihr ist nicht lebendig. Ich unterbreche mein Jäten und greife nach einer Handvoll Erde. Sie scheint schwerer als zuvor zu wiegen. Ich meine, erahnen zu können, welch gewaltiger und zugleich winzig kleiner Kosmos sich unter mir auftut. Die Wesen, die dort leben, können, was uns nicht möglich ist, die wir die Welt der Oberflächen aus eigener Kraft gar nicht oder nur um die Nuance eines Luftsprungs verlassen können: Sich nach allen Richtungen frei durchs Erdreich bewegen wie Fische durchs Wasser, wie Vögel durch die Lüfte, wie Licht durch dunkle Nacht, wie Klang durch ferne Weiten. Ob diese Unterwelt unendlich klein oder unendlich groß ist, ist eine Frage des Blickwinkels, denke ich. Während ich, Erde in der Hand wiegend, auf dem Acker sitze, beginne ich, eine Welt zu fühlen, in der das Keckern der Maulwürfe durchdringend wie einst der Ruf des Wollhaarmammuts ist, in der Asseln wie überdimensionierte Gürteltiere die Erde durchpflügen und Regenwürmer so behend und geschwind durchs Erdreich gleiten, wie chinesische Drachen den Himmel durchwühlen. Es ist ein Kosmos aus verborgenen Galaxien, in der unendlich viele Mikroben einander umkreisen, umtanzen, umgarnen, und dabei Gesetzmäßigkeiten folgen, die nicht weniger komplex sind als die Ordnung, die den Lauf der Gestirne über den Nachthimmel lenkt. Mitunter mag es scheinen, als trennten uns Welten, dabei verbindet uns das Leben.