Es kommt nicht oft vor, dass Philosophen über den Boden unter ihren Füßen nachdenken. Intellektuelle beschäftigen sich derzeit lieber mit dem Gehirn – auch das ein Symptom für den verlorenen Bodenkontakt von Wissenschaft heute. Umso fruchtbarer ist dieses Buch, das aus der Beobachtung moderner Bodenlosigkeit Beiträge für eine »Philosophie des Bodens« sammelt. Die Impulse in diesem Band kommen aus dem Freundeskreis um Ivan Illich – einen der interessantesten Querdenker der Nachkriegszeit. Erfahrungsberichte stehen hier direkt neben akademischen Aufsätzen und inspirierten Texten zum Thema und befruchten sich gegenseitig. Das Buch handelt von vielerlei Arten, wie der moderne Mensch den Bodenkontakt verloren hat. Zunächst ganz körperlich: Seit wir unsere Füße überflüssig gemacht haben und uns durch die Welt transportieren lassen, hat auch der Boden zunehmend seine Bedeutung für uns verloren. Davon handelt Charlotte Jurks kleine Geschichte der Entfremdung von Füßen und Boden. Mit welchen Verwüstungen dieser Verlust des sinnlichen Bezugs zum Boden in der Landschaft, vor allem aber in Gesellschaft und Seele der Menschen einhergeht, lässt sich in den anderen Beiträgen des Bands nachlesen. Was geschieht, wenn die Menschheit von einer Agrarindustrie ernährt wird, die den Boden lediglich als etwas sieht, das es profitabel auszubeuten gilt? Reimer Gronemeyer beschreibt, wie diese Mentalität vom reichen Norden in den Süden exportiert wird, wo in der Folge Kleinbauern von ihrem Land vertrieben werden. Es geht also nicht nur um Bodenlosigkeit als Entfremdung oder Vertreibung von einem Stück Erde, sondern vor allem um eine gesellschaftliche Bodenlosigkeit, die mit der ersten eng verbunden ist: die Auflösung von sozialen Bindungen und Gemeinschaftssinn im Zug der Individualisierung. Wie Bodenerosion mit der Erosion gesellschaftlicher Beziehungen zusammenhängt und was umgekehrt die Qualität des sozialen Felds mit Bodenfruchtbarkeit zu tun hat, das beleuchtet Christian Hörl, der hofft, dass Menschen besser mit Ressourcen umzugehen lernen, »wenn die Qualität ihrer Gemeinschaft eine weitere Dimension erreicht«. Lesenswert auch, wie sich die soziale Bodenlosigkeit in Medizin oder Wohnkultur niederschlägt: Da üben Menschen in Hightech-Küchen täglich Lebensformen der Entwurzelung und Vereinzelung, lassen sich in gepflegter Distanziertheit auf keinen Ort ein. Dass ein Zusammenhang besteht zwischen sterilen Einbauküchen, die nie eine erdige Möhre gesehen haben, und der Vertreibung afrikanischer Kleinbauern von ihren Feldern, all das ahnt man beim Lesen dieses Buchs.
Bodenlos Vom Verschwinden des Verlässlichen. Charlotte Jurk, Reimer Gronemeyer (Hrsg.) Brandes Apsel, 2011, 286 Seiten ISBN 978-3860996904 29,90 Euro