Die Kraft der Vision

Eingeboren werden

Wie wir heimisch und in der Landschaft wiedergeboren werden können.von Gary Snyder, erschienen in Ausgabe #12/2012
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© Beth Nakamura/The Oregonian

­Die kleinen Nationen der Vergangenheit lebten in Territorien, die sich einer Reihe von natürlichen Kriterien anpassten. Die Kulturgebiete der bedeutenderen Eingeborenengruppen in Nordamerika deckten sich, wie zu erwarten, fast exakt mit den grob definierten größeren Bioregionen. Jene alte menschliche Erfahrung einer fließenden, unscharfen, aber natürlichen Heimat wurde – quer durch Eurasien – allmählich durch die willkürlich gezogenen und häufig gewaltsam aufgezwungenen Grenzen aufstrebender Nationalstaaten ersetzt. Diese aufgenötigten Grenzen durchschneiden nicht selten biotische Bereiche und ethnische Zonen. Die Bewohner büßten ökologisches Wissen und die Solidarität der Gemeinschaft ein.
In alten Gebräuchen sind Flora und Fauna ebenso wie Landschaftsforma­tionen Teile der Kultur. Die Summe der Kräfte eines Feldes wird zu dem, was wir gemeinhin den »Geist des Orts« nennen. Kennt man den Geist eines Orts, begreift man, dass man ein Teil eines Teils und dass das Ganze aus Teilen zusammengesetzt ist, von denen wiederum jeder für sich genommen ganz ist.
Mitte der siebziger Jahre, auf einer Konferenz von Führern der amerikanischen Ureinwohner in Bozeman, Montana, hörte ich von einem Stammesältesten der Crow-Indianer: »Wissen Sie, ich glaube, wenn Menschen lange genug an einem Ort bleiben – und das gilt genauso für Weiße –, werden die Geister zu ihnen sprechen. Es ist die Kraft der Geister, die aus dem Land heraufsteigt. Die Geister und die alten Kräfte sind nicht verlorengegangen, sie brauchen bloß Menschen, die sich lange genug dort aufhalten.«
Bioregionales Bewusstsein schult uns auf besondere Art und Weise. Es genügt nicht allein, »die Natur zu lieben« oder »in Harmonie mit Gaia leben« zu wollen. Unsere Beziehung zur natürlichen Welt findet an einem Ort statt, und sie muss auf Information und Erfahrung gegründet sein. Zum Beispiel spüren »wirkliche Menschen« schnell eine starke Vertrautheit mit den Pflanzen der Umgebung. Viele Amerikaner wissen heutzutage nicht einmal, dass sie »Pflanzen nicht kennen« – was tatsächlich ein Anzeichen von Entfremdung ist. Wüssten wir nur ein wenig Bescheid über die Pflanzenwelt, könnten wir Gefallen finden an Fragen wie: Wo treffen sich Alaska und Mexiko? Es wäre irgendwo an der kalifornischen Nordküste, wo sich Kanada-Eichelhäher und Sitkafichte mit Manzanita und Blaueiche treffen.

Wiedergeboren werden in der Landschaft
Wozu dient eine solche Visualisierung des Landes? Sie bereitet uns darauf vor, in dieser Landschaft heimisch zu werden. Es gibt Millionen von Menschen in Nordamerika, die physisch hier geboren sind, aber nicht wirklich hier leben, nicht intellektuell, nicht in ihrer Vorstellung und nicht im ethischen Sinn. Eingeborene Amerikaner, die Ureinwohner, haben einen vorrangigen Anspruch auf die Bezeichnung »eingeboren«. Aber da sie dieses Land lieben, werden sie die Umwandlung der Psyche von Millionen von Einwanderern in »eingeborene Amerikaner« willkommen heißen. Der nicht-eingeborene Amerikaner muss, um hier heimisch zu werden, in dieser Hemisphäre wiedergeboren werden, auf diesem Kontinent, der genaugenommen »Schildkröteninsel« heißt.
Das bedeutet, dass wir bei vollem Bewusstsein akzeptieren und erkennen müssen, dass wir hier leben, und wir müssen begreifen, dass unsere Nachkommen in den nächsten Jahrtausenden hier leben werden. Zudem müssen wir das hohe Alter dieses Landes und seine Wildheit würdigen – sie erlernen, sie verteidigen – und uns dafür einsetzen, dass wir es in seiner Artenvielfalt und unversehrt an die künftigen Kinder (aller Lebewesen) übergeben. Europa, Asien oder Afrika ist dann der Ort, von dem unsere Vorfahren stammen. Doch »Heimat« – in einem tiefen, spirituellen Sinn – muss hier sein. Diesen Ort »Amerika« zu nennen, bedeutet, ihn nach einem Fremden zu benennen. »Schildkröteninsel« lautet der Name, den die amerikanischen Ureinwohner diesem Kontinent einer alten Schöpfungslegende zufolge gaben. Die Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko sind vorübergehende politische Rechtsinhaber, sie besitzen zu ihrer Sicherheit Legitimationen, aber sie werden ihr Mandat verlieren, wenn sie das Land weiter missbrauchen. »Der Staat ist zerstört, aber die Berge und Flüsse bleiben bestehen.«
Diese Arbeit ist nicht nur von den Neuankömmlingen in der westlichen Hemisphäre oder in Australien, Afrika und Sibirien zu leisten. Es gibt einen Ruf nach weltweiter Reinigung des Geistes: nach der Übung, die Oberfläche des Planeten als das wahrzunehmen, was sie ist – ganz natürlich. Mit solchem ­Bewusstsein tauchen Menschen in öffentlichen Anhörungen oder vor Planier­raupen und Lastwagen auf, um das Land und die Bäume zu ver­teidigen. Indem sie Solidarität mit einer Region zeigen! Bioregio­nalismus ist der Eintritt des Orts in die Dialektik der Geschichte. Wir können auch sagen, dass lange Zeit übersehene »Klassen« – Tiere, Flüsse, Berge und Gräser – jetzt in die Geschichte eintreten.

Wir sind von Natur aus friedfertig und kooperativ
Diese Gedanken erwecken vorhersehbare und gewöhnlich uninformierte Reaktionen. Die Menschen fürchten die enge Gesellschaft und die Kritik am Staat. Wenn man in ihm aufwuchs, begreift man nur schwer, dass der Staat selbst bereits machtgierig, destabilisierend, entropisch und illegitim ist. Man beruft sich auf Provinzialismus, regionale Zwietracht, auf inakzeptablen Ausdruck kultureller Vielgestaltigkeit und anderes mehr. Unsere Philosophien, Weltreligionen und Geschichtsschreibungen sind auf Uniformierung, Verallgemeinerung und Zentralisierung ausgerichtet – mit einem Wort, auf die Ideologie des Monotheismus. Gewiss lebten benachbarte Gruppen unter bestimmten Bedingungen Jahrhunderte lang im Zwist – unauslöschliche Erinnerungen, die wie radioaktiver Müll vor sich hin köchelten. Im Nahen Osten geschieht das noch immer. Das weiter anhaltende ethnische und politische Unheil in Teilen Europas und des Nahen Ostens geht teilweise bis in die Zeit des Römischen Reichs zurück. Man kann es nicht per se einer kriegerischen »menschlichen Natur« zuschreiben. Vor der Expansion der frühen Imperien war der gelegentliche Zwist zwischen Stämmen und natürlichen Nationen beinahe familiär. Mit dem Aufstieg des Staats nahmen Destruktivität und Bösartigkeit der Kriegskunst sprungartig zu.
In Zeiten, als die Menschen kaum Überschuss erwirtschafteten, war die Versuchung nicht groß, in andere Regionen zu ziehen. Ich möchte ein Beispiel aus meinem Teil der Welt geben. Ich beschreibe meine Gegend so: auf dem westlichen Gefälle der nördlichen Sierra Nevada im Einzugsgebiet des Yuba River gleich oberhalb des südlichen Flussarms an einer tausend Meter hohen Erhebung gelegen, in einer Gemeinschaft von Färber-Eiche, Fluss­zeder, Menzies-Erdbeerbaum, Douglasie und Goldkiefer. Auf der Westseite der ­Sierra Nevada gibt es Winterregen und Schneefall, und es wächst hier eine andere Gruppe von Pflanzen als auf dem Osthang. Vor Ankunft der Weißen bestand für die auf der Bergkette lebenden Ureinwohner wenig Grund, sich hinüber auf die andere Seite zu wagen, da ihre Fertigkeiten besonders auf ihr eigenes Gebiet ausgerichtet waren, und in unvertrauter Umgebung konnte es sein, dass sie Hunger litten. Es bedarf langer Ausbildung, essbare Pflanzen zu kennen und zu wissen, wo man sie findet und wie man sie zubereitet. Deshalb tauschten die Washo vom Osthang ihre Pinienkerne und ihren Obsidian gegen Eicheln, Eibenbögen und Seeohrmuscheln der Miwok und Maidu des Westens. Die beiden Seiten trafen sich und zelteten wochenlang gemeinsam auf den sommerlichen Wiesen der Sierra, ihrer gemeinschaftlichen Allmende.
Es gibt überall in der Welt zahlreiche Beispiele für relativ friedliches Zusammenleben von kleineren Kulturen. Schon immer waren mehrsprachige Menschen über große Entfernungen und durch große Gebiete friedlich unterwegs und trieben Handel. Unterschiede wurden häufig gemildert durch gemeinsame spirituelle Perspektiven und zeremonielle Einrichtungen und durch die Vielzahl von Mythen und Geschichten, die über Sprachgrenzen hinweg erzählt werden. Was ist mit den von Religionen verursachten tiefgehenden Spaltungen? Man muss feststellen, dass religiöse Exklusivität hauptsächlich eine unverständliche Besonderheit des jüdischen, christlichen und islamischen Glaubens ist, eine neuzeitliche und – insgesamt gesehen – minderheitliche Entwicklung in der Welt. Asiatische Religion, die ganze Welt der Volksreligionen, Animismus und Schamanismus schätzen die Vielfalt oder tolerieren sie zumindest.
Kultureller Pluralismus und Mehrsprachigkeit gelten als Norm auf diesem Planeten. Wir suchen nach dem Gleichgewicht zwischen kosmopolitischem Pluralismus und einem starken lokalen Bewusstsein. Wir versuchen, die Frage zu lösen, wie die ganze menschliche Rasse ihre Selbstbestimmung vor Ort zurückerlangen kann, nach Jahrhunderten der Entrechtung durch Hierarchien und/oder die jeweilige Zentralgewalt. Man sollte diese Übung nicht mit »Nationalismus« verwechseln, der das genaue Gegenteil ist – der Hochstapler, die Marionette des Staats, das grinsende Gespenst der verlorenen Gemeinschaft. Insofern ist dies eine Art Neubeginn. Die bioregionale Bewegung bedeutet nicht bloß ein ländliches Programm: Sie steht genauso für eine Erneuerung des nachbarschaftlichen Lebens in den Stadtvierteln und für die Begrünung der Städte.

Die bioregionale Perspektive
Auf der ganzen Welt arbeiten Gruppen mit Menschen aus der Dritten und Vierten Welt daran, die alten Territorien wieder sichtbar zu machen und angemessene, passende Namen für die erneut verwirklichten alten Regionen zu finden. Die ursprünglichen Züge der Blaueiche werden beginnen, die Politik umzuformen. Die Erfordernisse eines nachhaltigen Wirtschaftssystems und einer ökologisch einfühlsamen Landwirtschaft, ein starkes und lebhaftes Gemeinschaftsleben, naturbelassene Lebensräume – und der zweite Satz der Thermodynamik – alles zielt in diese Richtung. Möge all das die weitere Dekonstruktion der Supermächte beschleunigen. Das »Surre(gion)alistische Manifest« von Max Cafard sagt hierzu:
»Regionale Politik findet nicht in Washington, Moskau oder in anderen ›Regierungssitzen‹ statt. Regionale Macht ›sitzt‹ nicht. Sie fließt überall und überallhin. Durch Wasserscheiden und Blutströme. Durch Nervensysteme und Nahrungsketten. Die Regionen sind überall & nirgends. Wir sind alle illegal. Wir sind Eingeborene, und wir sind ruhelos; wir besitzen kein Land, wir leben in ihm. Wir sind vom Kurs abgekommen. Die Region ist gegen das Regime – ­gegen jedes Regime. Regionen sind anarchisch.«
 

Gekürztes Kapitel aus: Lektionen der Wildnis. Matthes & Seitz, Berlin 2011.
 (Weiterverwendung nur mit Genehmigung des Verlags 
Matthes & Seitz Berlin.)


Gary Snyder (81) wurde in San Francisco geboren und wuchs auf kleinen Farmen in den Bundesstaaten Oregon und Washington auf. Er verdingte sich als Matrose, Holzarbeiter, Waldaufseher und Wegebauer, bevor er Anthropologie und fernöstliche Sprachen an der Universität Berkeley studierte und bald mit Essays und Lyrik hervortrat. Dort lernte Snyder Jack Kerouac und Allen Ginsberg kennen, neben denen er als zen­trale Figur der Beat-Generation gilt. Im Mittelpunkt seiner Dichtung steht eine Metaphysik, die sich von der ungezähmten Natur in und um uns leiten lässt. Nach ausgedehnten Aufenthalten in Japan wandte er sich dem buddhistischen Denken zu. Für den Lyrikband »Turtle Island« (»Schildkröteninsel«) erhielt er 1975 den Pulitzer-Preis für Dichtung. Er beeinflusste die tiefenökologische Bewegung maßgeblich. Seine Poetik beschrieb Snyder selbst als von frühsteinzeitlichen Werten geprägt: der Fruchtbarkeit des Bodens, der Magie der Tiere, der Kraft der in Einsamkeit gefundenen Vision, der Herausforderung von Initia­tion und Neugeburt, tänzerischer Ekstase, der Stammesgemeinschaft. Er lehrte als Gastdozent an der University of California und wurde 2003 zum Kanzler der Academy of American Poets gewählt. Gary Snyder lebt zurückgezogen in der Sierra Nevada.

www.poetryfoundation.org/bio/gary-snyder

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