Die Evangelische Schule Berlin Zentrum steht für den Wandel der Lernkultur.von Margret Rasfeld, erschienen in Ausgabe #12/2012
Das Umfeld für zukünftiges Lernen wird von wachsender Vernetzung gekennzeichnet sein – global, regional, lokal –, von wachsender Gefährdung – ökonomisch, ökologisch und sozial – und von damit einhergehender wachsender Unsicherheit. Der bisher praktizierte Weg einer verschärften Konkurrenz gegeneinander auf allen Ebenen erweist sich zunehmend als nicht tragfähig. Unverzichtbar sind vielmehr Gemeinsinn und Verantwortung, um die gemeinsamen Lebensgrundlagen und das friedliche Zusammenleben zu sichern. Lernen braucht verbindliche und vertrauensvolle Beziehungen. Vertrauen, Ermutigung und Wertschätzung sind daher zentrale Elemente einer Lernkultur, in der sich Potenziale entfalten können. Dies gilt für formalisierte Bildungseinrichtungen ebenso wie für andere Lernorte. Wer diesen Lernprozess begleitet – Mann oder Frau – ist Dialogpartner, ermutigender Unterstützer, herausfordernder Begleiter. Er oder sie glaubt an die Fähigkeiten derer, die ihnen anvertraut sind – egal ob Erwachsene oder Heranwachsende. Der Schlüssel zum Lernen ist Begeisterung, und Begeisterung braucht das Gefühl von Sinnhaftigkeit, wie der Hirnforscher Gerald Hüther aufzeigt. Unsere Gesellschaft aber ist eine Gesellschaft des Machbarkeitswahns geworden, der Menschen zu Funktionierern gemacht hat. Dabei ist die Begeisterung auf der Strecke geblieben. Wir haben kein Lernproblem, wir haben ein Begeisterungsproblem, ein Sinnproblem. Gemeinsinn und Verantwortung sind die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die dieser Herausforderung nicht gerecht wird, zerstört ihre eigene Basis. Gemeinsinn hat mit »Sinn« zu tun und damit, dass wir mehr sind als Individuen. Wir sind voneinander abhängig, wir sind verbunden. Gemeinsinnstiftende Erfahrungen geschehen nicht virtuell, sondern konkret vor Ort in der Auseinandersetzung mit Menschen, Anliegen, Situationen. Neben den Familien kommt den Bildungssystemen und der Kommune dabei besondere Bedeutung zu. Hier besteht in Deutschland noch hoher Entwicklungs- und Handlungsbedarf, denn Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist in unserem Land noch wenig ausgeprägt.
Die Potenzialentfaltungsgesellschaft Mit tradierten Mustern lassen sich die Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr bewältigen. Der Übergang von einer Gesellschaft der Ressourcenverwertung zur Potenzialentfaltungsgesellschaft bedeutet zentral auch für die Bildungssysteme einen Paradigmenwechsel. Bisherige Bildungslandschaften konzentrieren sich vor allem auf Wissensvermittlung, homogene Gruppen und Förderung kognitiver Fähigkeiten. Das sind Ausrichtungen auf arbeitsteilige Effizienzstrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft und Anpassung an überkommene Zwänge des Industriezeitalters. Wir kleben sklavisch an alten Mustern, an »mehr vom Gleichen«. Warum ist das so? Fehlt es an Vorstellungskraft, Visionen, Mut? Otto Scharmer spricht vom Gefängnis unserer kollektiven institutionellen Verhaltensmuster und von »Presencing«, der notwendigen Fähigkeit zu neuem Lernen, das nicht auf der Reflexion der Vergangenheit basiert, sondern auf dem Erfühlen, Erspüren und dem In-die-Gegenwart-Bringen von zukünftigen Möglichkeiten, um daraus aus der Gegenwart zu handeln. Heute will an die Stelle von Vorstellungen über »Bildungsbürger«, »Pflichterfüller« oder »Ressourcen im Konkurrenzkampf« ein Menschenbild treten, bei dem der Mensch als einzigartiger »Potenzialträger« Würde erfährt und Wirksamkeit erlebt. Wir brauchen Innovationen, um die Probleme zu lösen. Unsere Gesellschaft braucht unternehmerische Initiativen, die nicht immer neue Bedürfnisse herauskitzeln, sondern auf vorhandene Herausforderungen mit ökologischer, ökonomischer und künstlerischer Fantasie antworten. Doch woher sollen die kommen? Innovationsgeist und Kreativität sind uns abhandengekommen, wie allseits beklagt wird. Ich bin überzeugt davon, dass ein zentraler Faktor dafür im Bildungssystem liegt: Diese Qualitäten sind uns deshalb abhandengekommen, weil alle die Schule mit ihrem heimlichen Lernziel der Anpassung zehn, zwölf oder dreizehn Jahre durchlaufen haben. Wir haben nicht nur ein quantitatives Bildungsproblem (rund 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreichen keinen Abschluss), sondern auch ein qualitatives. Auch die im System Erfolgreichen, auch die Eliten, werden bei der vollen Entfaltung der in ihnen schlummernden Potenziale im System der vorrangigen Wissensvermittlung gedeckelt.
Beispiel einer neuen Lernkultur Wir brauchen einen radikalen Wandel der Lernkultur, eine Transformation unserer Bildungseinrichtungen, vor allem der Schulen. Deshalb: Keine weitere Reparatur am alten System! Wir mögen die Schulen der Zukunft noch nicht kennen, aber ihre Keime müssen heute entstehen. Und es gibt hoffnungsvolle Anfänge überall in Deutschland. Einen solchen Anfang macht auch die Evangelische Schule Berlin Zentrum, eine Gemeinschaftsschule mit individueller Förderung. »Kern aller menschlichen Motivation ist es, Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung zu finden und zu geben«, sagt der Psychologe Joachim Bauer. Eine wertschätzende Beziehungskultur ist deshalb ein Kern unserer Schulkultur. Jedes Kind hat eine Tutorin bzw. einen Tutor als Coach mit strukturell verankerten Zeiten für wöchentliche Gespräche. Tägliche »Klassenstunden« stärken die vertrauensvolle Beziehung in den Klassen. Vertrauen und Wertschätzung entstehen durch Freiheit, nicht durch Zwang. Deshalb steht das Kind als Subjekt der eigenen Lernprozesse im Zentrum. Das Lernen beginnt mit einem offenen »Lernbüro« für die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik sowie Natur und Gesellschaft. Individualisierung ist möglich in Bezug auf Zeitintensität pro Fach, Komplexität, Sozialform. Die Schülerinnen und Schüler bestimmen auch den Zeitpunkt für ihre Leistungsnachweise. Das bedeutet den mentalen Wandel von »du sollst« nach »ich kann«. Wer nicht weiterweiß, fragt zunächst einen anderen Mitschüler – so entsteht Solidarität. Auf diese »Lernbüro-Phase« folgt meist praxisorientierte Werkstatt- oder Projektarbeit oder eine der vier Wahlpflichtstunden, in denen die Kinder zwischen Französisch, Spanisch, Naturwissenschaften, Darstellendem Spiel und Praktischem Lernen wählen können. Aber die Struktur ist nicht das Ausschlaggebende, sondern der »Geist«. Jeder zählt, jeder ist einzigartig – das ist das Grundverständnis. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in Jahrgangsmischung sieben bis neun, und alle sind willkommen. Jeder entwickelt andere Stärken. Das Zusammenwirken von Unterschiedlichkeit ermöglicht Erfahrungen des Gelingens und des Über-sich-Hinauswachsens. Individualität und Gemeinschaft sind kein Gegensatz – beides braucht beständige Pflege: In der wöchentlichen Schulversammlung wird die große Gemeinschaft erfahrbar. Hier ist auch der Ort für das öffentliche Lob. Auch in der gemeinsamen Klassenstunde sagen die Kinder, worauf sie stolz sind. Sie ermutigen sich gegenseitig dazu und erfahren so Unterstützung aus der Gemeinschaft, um ihren ganz eigenen Weg zu gehen.
Mitten im Leben lernen Die entscheidenden Erfahrungen machen Menschen dann, wenn sie sich gemeinsam mit anderen um etwas Wichtiges kümmern. Deshalb ist zivilgesellschaftliches Engagement als Kernelement in der Schulkultur verankert. Im Schulfach »Verantwortung« übernehmen alle Schülerinnen und Schüler für zwei Jahre eine verantwortungsvolle Aufgabe im Gemeinwesen. Es ist Pflicht für alle, aber auch hier mit hoher Freiheit in der Wahl der Aufgaben. Verantwortung lernt man mitten im Leben. Die Kinder engagieren sich zum Beispiel in ökologischen Projekten, Kindergärten, Flüchtlingsheimen oder als Museums- oder Kirchenführer, sie helfen in Seniorenheimen oder unterstützen als Sprachbotschafter Schulen in sozialen Brennpunkten. Was ist Verantwortung? Was interessiert mich? Die Kinder sind hier eigenständig ihren ganz individuellen Fähigkeiten auf der Spur und erfahren sich als selbstwirksam. Im Schulfach »Herausforderung« meistern die Jugendlichen dreimal, nämlich im Jahrgang acht, neun und zehn, eine dreiwöchige, selbstgewählte Herausforderung außerhalb von Berlin, allein oder in einer Gruppe. Sie müssen mit 150 Euro auskommen, was bedeutet, dass sie sich keine Jugendherberge leisten können, sondern sich Unterkünfte organisieren müssen, Menschen ansprechen, Dienste anbieten. Für die meisten Jugendlichen ist die Herausforderung das wichtigste Fach. Warum? »Weil ich dort am meisten lerne, für mein Leben« – antworten sie. Hier werden Jugendliche auf den Umgang mit Unsicherheit und Risiko vorbereitet, erleben Scheitern als Innovationschance. Um mit Unsicherheit – das Merkmal der Zukünfte, in die wir und unsere Kinder hineinwachsen – souverän umgehen zu können, braucht es zweierlei: eine emotionale und soziale, früh sich stärkende Stabilität (Selbstwirksamkeitserfahrungen, »Sinn«) und ein Sich-erproben-Können in offenen Lernfeldern, in herausfordernden Lern-Landschaften. Ermutigung also und Auseinandersetzung mit Risiko und Scheitern. Lernen, zu handeln und Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für die Mitmenschen, für das Gemeinwesen, für das große Ganze – das vermitteln die Lernorte der Zukunft. Die Evangelische Schule Berlin Zentrum ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass neue Wege möglich sind. Haben wir den Mut, viele Schulen der Zukunft zu erfinden – Visionen Wirklichkeit werden zu lassen!
Margret Rasfeld (60) ist Leiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Ihre Vision ist eine begeisternde, wertschätzende Lernkultur. Sie arbeitet als Kernexpertin im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin »Wie wir lernen wollen«.