Die Rattenfängerstadt Hameln auf dem Weg zur Transition Town.von Marion Hecht, erschienen in Ausgabe #12/2012
Ein sonniger Oktobersonntag. Kinder schlagen Purzelbäume im Garten des ehemaligen Pfarrhauses in Flegessen, einem Dorf nahe bei Hameln. Es duftet nach frisch gebackenen Apfelpuffern, und im Hintergrund ertönen zwischen dem Gemurmel der Besucherstimmen verträumte Akkordeonklänge, gespielt von einer Musikerin. Eine junge Frau sitzt mit ihrem kleinen Sohn am Tisch und fädelt mit ihm Apfelringe auf – es ist ein bisschen wie in Bullerbü. So oder so ähnlich hatte ich es mir vorgestellt, als ich vor drei Jahren, Ende 2008, das Buch »Energiewende – Ein Handbuch. Anleitung für zukunftsfähige Lebensweisen« von Rob Hopkins in den Händen hielt. Selten zuvor hatte mich ein Buch so gefesselt wie diese Anleitung zu einem anderen Leben. Das schien der Weg zu sein, eine lebenswerte Welt zu gestalten, die mit der Natur und nicht auf ihre Kosten funktioniert. Voller Enthusiasmus warb ich für die Gründung einer »Transition Town Initiative«, wie sich diese Gruppen weltweit nennen. Alle fanden es toll – aber keiner hatte Zeit. Dabei kann eigentlich niemand auf Dauer wegschauen, wenn er sich einmal mit den Themen »Peak Oil« und »Klimawandel« beschäftigt hat. Das merkte ich schnell an meiner eigenen Situation. Wie wird es sein, wenn kein billiges Öl mehr zur Verfügung steht? Nahezu alle Gegenstände aus meiner Umgebung wären dann nicht mehr da: Zahnpastatube, Computer, ein Großteil meiner Kleidung, und natürlich Heizung, Auto und die Lebensmittel aus dem Supermarkt, die ja meist von weither kommen. Weitgehende Veränderungen stehen an, auf die wir alle nicht vorbereitet sind. Panik machte sich in mir breit. Wenn keiner mitmachen wollte, würde ich eben bei mir selber anfangen. Es begann mit vielleicht lächerlich scheinenden Kleinigkeiten, wie: »Ich wasche mir die Haare nur noch alle vier Tage und bringe meine Kinder mit dem Fahrrad zum Kindergarten«. Das war ein Anfang, aber irgendwie wollte ich mehr. Denn was mich in dieser Zeit meiner eigenen kleinen Transformation am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass ich gar keinen Verlust oder Verzicht empfand, sondern eine Freude und Erfülltheit, eine Intensität des Lebens, die so spannend und aufregend war wie noch keine Phase meines Lebens. Was für eine Bereicherung war das, wenn ich auf dem Rückweg vom Kindergarten einen Abstecher durch den Wald machte! Am Bach entlang und, wenn es die Zeit zuließ, einen kurzen Storchengang durch die Wassertretstelle – und schon kannte ich sofort meine Antwort auf die allabendliche Frage, was unser schönstes Tageserlebnis gewesen sei.
Gemeinsam ist vieles möglich Heute weiß ich, dass sich immer Wege finden werden, eine Absicht nach außen zu transportieren. Wenn erst einmal das innere Bedürfnis da ist, fügt sich vieles wie von selbst. Ich ging intuitiv drei Wege, um meine Gedanken in die Außenwelt zu tragen. Zum einen trat ich dem 2008 neu ins Leben gerufenen »Anti-Atom-Plenum Weserbergland« bei. Als nächstes machte ich im Dezember 2009 beim »Training for Transition« in Bielefeld mit. Dort traf ich auf viele verwandte Seelen, und die ersten Vernetzungsmöglichkeiten ergaben sich. Außerdem riefen mein Lebensgefährte und ich 2010 in unserem Dorf eine Einkaufsgemeinschaft ins Leben, um mit möglichst vielen Bürgern regionale und ökologisch unbedenkliche Lebensmittel zu beziehen oder herzustellen. Und plötzlich war öffentliches Interesse vorhanden, es gab neue Kontakte und Ideen für konkrete Projekte. Über das Anti-Atom-Plenum traf ich auf den umweltpolitischen Sprecher des Hamelner BUND, der sofort begeistert war. Im März hielt ich dort einen Vortrag über Rob Hopkins’ Handlungsanleitungen. Der Funke sprang bei einigen über, und im April begannen wir mit einer kleinen, kreativen Wandelgruppe und trafen uns erst einmal nur zum Kennenlernen und Philosophieren. Wie nah wir uns innerhalb weniger Monate kamen, wurde mir an einem Sommerabend schlagartig bewusst, als wir auf einen Berg mit wundervollem Blick über Hameln spaziert waren. Wir lagen in der noch warmen, untergehenden Sonne auf einer großen Decke. Lange sprach keiner, und wir fühlten alle diesen besonderen Ort und die Verbundenheit und Liebe zur Welt, die Geborgenheit untereinander und das Verständnis füreinander. Alles, was wir bis dahin erlebt und getan hatten, war aus den Ideen von uns allen erwachsen. Gegenseitiges Zuhören und respektvolles Miteinander haben wir bewusst gepflegt. Es schien zu gelingen, als eine Gruppe zusammenzuwirken, die sich freimacht von Hierarchiedenken und lernt, gemeinschaftlich zu handeln. Wir schauten auf die anderen Initiativen in der Nähe, besuchten Veranstaltungen der Transition-Gruppe Hannover und reisten zum »Lebensgarten Steyerberg«, um mehr über Permakultur und gemeinschaftliches Leben zu erfahren. Auch ein »Dragon-Dreaming«-Seminar gab uns wichtige Inspirationen zur Realisierung unserer Visionen. »Weserbergland im Wandel – Transition Town Hameln« war geboren!
In die Lösungen hineinträumen Über das Frühjahr und den Sommer entwickelten sich immer konkretere Vorstellungen von dem, was wir als Initiative eigentlich wollen. Um als Stadt widerstandsfähig und flexibel, also resilient, auf die kommenden Veränderungen zu reagieren, brauchen wir möglichst viele aktive Mitgestalter. Grundsätzlich benötigen die Bürger Aufklärung über die Lage, in der unsere Welt steckt. Lange überlegten wir, wie es uns gelingen könnte, eine wahrheitsgetreue Informationsmöglichkeit für andere zu finden. An unterschiedlichen Orten wie Kulturzentren, Schulen oder Gemeindehäusern wollen wir nun Filme mit Lösungsmöglichkeiten zeigen und im Anschluss darüber diskutieren. Die Themenbereiche sind vielfältig: Nahrung, Energie, Gesundheit, Mobilität, Bildung, Wohnen … Jeder Bereich regt zu vielfältigen Aktionen an. So hat sich zum Thema »Nahrung« schon die Idee formiert, einen Permakultur-Gemeinschaftsgarten anzulegen und die Schulmensen möglichst mit Nahrungsmitteln der Biobauern aus der Umgebung zu versorgen. Außerdem wollen wir einen Solar-Dörrofen bauen, um kostbare Lebensmittel über den Winter haltbar zu machen. Ich habe bei unseren Treffen die Kraft der Visionierung schätzen gelernt. Nie hätte ich gedacht, dass das Träumen von einer besseren Welt eine solch positive Wirkung entfalten kann. Vor allem das Aussprechen bzw. Aufmalen einer Vision ist ein wunderbares Werkzeug der Motivation. Wenn wir also in den Gruppen feststellen, wie sich heute der Ist-Zustand zu einem bestimmten Thema darstellt, werden wir uns erträumen, wie der Soll-Zustand in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren aussehen wird. Und daraus ergibt sich später ein Energiewende-Aktionsplan als konkrete Handlungsanleitung für diese Stadt und ihre Umgebung. Kompliziert? Nein, nur gut durchdacht und wirklich umsetzbar. Wer Fragen hat, kann zu den regelmäßigen Info-Abenden kommen, die wir organisieren wollen. Und wer mit Gefühlen wie etwa Weltschmerz nicht alleine zurechtkommt, kann sich bei der »Herz-und-Seele«-Gruppe Hilfe holen. Im Moment basteln wir an unseren »Basics«: Brauchen wir einen Verein oder nicht? Wir formulieren unser Leitbild und gestalten eine Website. Auch dafür haben wir uns nach Interessen organisiert und treffen uns im Abstand von zwei Wochen. Die Ergebnisse tragen wir einmal im Monat zusammen. Die Gruppe ist mittlerweile auf acht angewachsen, weitere 20 Wandlerinnen und Wandler halten sich noch mehr im Hintergrund. Was uns antreibt, ist bei aller Verschiedenheit doch das Gleiche: Wir wollen unseren Kindern eine Erde hinterlassen, auf der es sich zu leben lohnt. Anfang Oktober hatten wir eine kleine Premiere, unser erstes Fest fand statt. Wir hatten Flyer verteilt und zum Apfelfest eingeladen. Zwei Wochen zuvor trafen wir uns zum lustigsten Apfelpflücken, das ich je erlebt habe. Mit Kindern und Anhängern, Planen und Kübeln ernteten wir die freien Apfelbäume in der Region ab, ließen leckeren Apfelsaft pressen und kochten Apfelmus. Schon das Einkochen war ein Fest, denn was alleine nach Arbeit anmutet, wird in der Gemeinschaft zum unvergesslichen Spaß. Beim Apfelfest konnten rund 100 interessierte Besucher diese Sinnesfreuden mit uns teilen. Wir zeigten den Film »In Transition 1.0«, und es gab einen Terra-Preta-Workshop zur Herstellung von Dauerhumus (siehe S. 38). Kinder fädelten Apfelringe zum Trocknen auf, und die Großen diskutierten darüber, wie man die Apfelringe trocknet, ohne dass sie von Fruchtfliegen belagert werden. Der Tag hatte eine ganz eigene Idylle. Bullerbü zum Anfassen eben. Und das passte gut in den Traum, den wir alle in uns tragen.
Marion Hecht (43) lebt mit ihrem Lebensgefährten und vier Kindern bei Hameln. Sie studiert Permakulturdesign.