Gerta Stählin und Dudije Gashi haben eine ungewöhnliche Wahlfamilie gegründet. Bei Himbeertorte und Tee erzählten sie Sylvia Buttler, wie Krieg, Flucht und der Wunsch nach Wärme sie zusammengeführt haben.von Sylvia Buttler, Gerta Stählin, Dudije Gashi, erschienen in Ausgabe #13/2012
Sylvia Buttler Vielen Dank, dass ihr mich eingeladen habt und mit mir über eure Wahlfamilie sprechen wollt. Gerta, du bist 82 Jahre alt und hast dich vor einiger Zeit entschlossen, dein Leben umzukrempeln und mit Dudijes fünfköpfiger Familie zusammenzuziehen. Andere denken in diesem Alter über den Umzug in ein Seniorenheim nach. Gerta Stählin Das habe ich nach dem Tod meines Mannes auch getan. Ich war plötzlich alleine und habe mich in einem Heim angemeldet. Da sind Dudije und ihr Mann auf die Idee gekommen, dass wir zusammenziehen könnten. SB Ihr kanntet euch zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre. Wie seid ihr euch begegnet? Dudije Gashi Vor zwölf Jahren haben mein Mann Kujtim, unsere Kinder und ich in einem Asylbewerberheim in München gewohnt. Gerta hat ehrenamtlich im Kindergarten des Heims gearbeitet. Unsere Tochter Vesa wollte unbedingt auch in diesen Kindergarten, war aber erst zwei Jahre alt. Gerta hat durchgesetzt, dass sie trotzdem hingehen durfte. GS Später habe ich dann eine Frauengruppe ins Leben gerufen. Ich dachte, für die Kinder wird so viel getan, die Männer gehen aus dem Haus, aber die Frauen sitzen in den kleinen Zimmern und haben keinen Kontakt zur Außenwelt. Wir haben mit den Frauen Handarbeiten gemacht und ein wenig Deutsch gelernt. DG Damals konnten wir uns noch nicht unterhalten, ich habe kein Wort Deutsch gesprochen. Manchmal haben zwei Mädchen etwas gedolmetscht, aber die meiste Zeit haben wir mit Händen und Füßen geredet. Gerta und ich haben keine Worte gebraucht, wir haben uns auch so verstanden. Wir haben uns von Anfang an sehr nah gefühlt. GS Ja, ich habe das auch so empfunden. Zu Dudije ist schnell eine Freundschaft entstanden. Ich habe der Familie dann geholfen, Bewerbungen zu schreiben und eine Wohnung zu suchen. Alle möglichen Behördengänge haben wir zusammen erledigt. Ich mache diese Sachen heute noch. DG Das war eine schwierige Zeit für uns. Wir wussten nie, wie lange wir in Deutschland bleiben können. Unsere Duldung ist immer nur für drei oder vier Monate verlängert worden. Erst nach fünf Jahren haben wir ein unbefristetes Bleiberecht bekommen. Gerta hat uns beigestanden und unter anderem dafür gesorgt, dass Vesa auf ein Gymnasium gehen durfte. SB Inwiefern habt ihr dabei Gertas Unterstützung gebraucht? GS Der Lehrer meinte, es wäre für Migrantenkinder besser, gar nicht erst aufs Gymnasium zu gehen. In seinen Augen würden sie es sowieso nicht schaffen, da sei es besser, ihnen die Enttäuschung zu ersparen. Ich habe ihn schließlich davon überzeugen können, dass ich Vesa bei den Hausaufgaben helfen und mit ihr Deutsch lernen würde. Daraufhin hat er eingewilligt. Heute ist Vesa 14 Jahre alt und macht alles, was die Schule betrifft, ganz allein. SB Das heißt, wenn Vesa keine Unterstützung durch Gerta hätte vorweisen können, wäre sie nicht aufs Gymnasium gekommen? DG Ja. Sie hätte zur Realschule gehen sollen, obwohl sie in der Grundschule eine der besten war. Unser Sohn Albin kommt in der Schule auch sehr gut zurecht, er möchte eine Lehre als Bürokaufmann machen. SB Gerta, ihr habt dann gemeinsam ein Haus gekauft und seid dort eingezogen. Wie war das für dich? GS Kujtim hat mir geholfen, die Praxis meines Mannes aufzulösen. Er und Dudije träumten von einem eigenen Haus, die Wohnung der Familie war sehr klein und teuer. Irgendwann ist dann die Idee entstanden, gemeinsam etwas zu kaufen. Ich hatte das Startkapital, und Kujtim konnte als selbständiger Handwerker einen Kredit aufnehmen. Wir haben zwei Jahre lang nach einem Haus gesucht, das zwei Wohnungen hat und jedem seinen Bereich bietet. Dudije will sich um mich kümmern, wenn ich Pflege brauchen sollte. Das wollten wir alles notariell absichern. Die Notarin hat uns zu einer Adoption geraten. So bin ich im höheren Alter doch noch zu einer Tochter gekommen. SB Dudije, deine Mutter lebt im Kosovo. Wie ist es für dich, zwei Mütter zu haben? DG Das ist ein schönes Gefühl. Ich habe schon bald, nachdem ich Gerta kennengelernt hatte, meine Mutter angerufen und ihr gesagt, ich hätte jetzt auch eine deutsche Mutter. Sie hat sich gefreut und macht sich seitdem viel weniger Sorgen um mich. GS Ja, und für mich ist es ein tolles Gefühl, zu wissen, dass ich nicht in ein Heim muss. Für Dudije ist es selbstverständlich, dass sie sogar ihre Arbeit aufgeben würde, wenn es sein müsste. Hätte ich eigene Kinder, wäre das vielleicht nicht so. Bei der Adoption mussten wir zum Amtsgericht, um nachzuweisen, dass unsere Beziehung wie die zwischen Mutter und Tochter ist. Offenbar waren wir sehr überzeugend. DG Ich würde gerne mehr für Gerta tun. Aber sie ist sehr selbständig und betreut außerdem unseren jüngsten Sohn, wenn ich arbeite. Ich weiß gar nicht, wie ich ihr zurückgeben soll, was sie für uns getan hat. GS Ach, das kommt noch früh genug. Ich will jedenfalls noch lange gesund bleiben. SB Das alles hört sich so an, als ob es keinerlei Schwierigkeiten gäbe. Habt ihr auch Konflikte? GS In Dudjies Kultur hat die Familie einen hohen Stellenwert, insbesondere der Respekt vor Älteren. Das ist sehr schön. Sie ist aber auch harmoniebedürftiger als ich … Ich sage klar heraus, was mir nicht passt. DG Die beiden älteren Kinder sind im Moment vielleicht etwas schwierig. Sie sind in der Pubertät und wollen ihren eigenen Weg gehen. Früher hatten sie mehr Kontakt mit Gerta. Sie hat ihnen vorgelesen, mit ihnen gespielt oder gebacken und hat sie mit ins Museum genommen. GS In letzter Zeit haben sie sich sehr von mir zurückgezogen, ich bin ihnen wohl zu preußisch. Ich war streng, was die Hausaufgaben betraf. Strenger als ihre Eltern. Ich glaube, sie meinen, ich würde Dudije und Kujtim in Erziehungsfragen beeinflussen. Es gibt auch die typischen Generationskonflikte. Zwischen uns liegen immerhin mehr als 60 Jahre. Ich bin in einer anderen Welt aufgewachsen und mache mir Sorgen wegen des Medienkonsums der Jugendlichen. Aber unser Verhältnis wird sicher auch wieder besser. Schwierig war für mich immer, dass die Familie untereinander albanisch spricht und ich nur sehr wenig verstehe. Ich fühlte mich dann ausgeschlossen. DG Ja, das ist mir bewusst. Aber ich habe das Bedürfnis, mit meinen Kindern in unserer Muttersprache zu reden. Ich fühle mich im Deutschen unsicher, weil ich Fehler mache. Aber Gertas und meine Beziehung belastet das nicht, wir fühlen uns sehr eng verbunden. SB Ihr habt Schreckliches erfahren, das eint euch. Ihr habt beide Kriege erlebt und musstet eure Heimat verlassen. Dudije, du bist vor dem Krieg im Kosovo nach Deutschland geflohen, dein Vater wurde verfolgt, mehrmals verhaftet und gefoltert. Er ist danach gestorben. Gerta musste im Zweiten Weltkrieg Berlin verlassen und nach Hinterpommern, heute Polen, flüchten … DG Nur jemand, der so etwas selbst durchgemacht hat, kann nachvollziehen, wie schlimm das alles war. Psychisch ging es mir sehr, sehr schlecht, als wir nach München kamen. Aber ich habe sofort gespürt, dass Gerta weiß, wie ich mich fühle. Da war so ein Einverständnis. GS Deswegen habe ich mich auch im Flüchtlingsheim engagiert. Ich dachte mir, ich war selbst einmal ein Flüchtling, also helfe ich. Durch die vielen Umzüge und neuen Menschen in meinem Leben fällt es mir leicht, Veränderungen zuzulassen. Dazu gehört auch der Schritt zu diesem gemeinsamen Haus. DG Es war aber schwer für dich, hierher nach Dachau zu ziehen. Als wir nach langer Suche das Haus gefunden hatten, wolltest du es zuerst nicht. GS Das stimmt. Ich habe mit dem Ort gehadert. Nach dem Krieg haben die Dachauer das Thema Konzentrationslager ganz weit von sich gewiesen. Meine Mutter war leidenschaftliche Hitler-Hasserin, und wir hatten jüdische Freunde, die fliehen mussten. Ich dachte, man hätte doch etwas dagegen tun müssen. Als wir hierher gezogen sind, habe ich mich mit der Lokalgeschichte beschäftigt und herausgefunden, dass die Dachauer gar nichts unternehmen konnten. Wer nur am Lagerzaun stehenblieb, konnte erschossen werden. Ich glaube, wenn jemand keine Chance hat, sich gegen den Terror zu wehren oder anderen zu helfen, dann muss er sich nachher auch nicht schuldig bekennen. Ich bin mit dem Thema versöhnt. Und mittlerweile wird hier viel getan, um die Erinnerung wachzuhalten. SB Dudije, ihr habt doch sicherlich manchmal Sehnsucht nach eurer Heimat. Habt ihr mal daran gedacht, nach Kosovo zurückzugehen? DG Ich vermisse meine Familie, aber zurückzugehen ist keine Alternative für uns. Die Zustände dort sind immer noch schlimm, und wir sehen für unsere Kinder keine Zukunft. Meine Schwägerin ist Lehrerin im Kosovo und verdient 250 Euro im Monat. Dabei kosten Lebensmittel soviel wie hier. Die Häuser sind immer noch zerstört …Jetzt sind wir hier zu Hause. GS Und die Verwandten meiner Tochter und meines Schwiegersohns besuchen uns regelmäßig. Dann ist das Haus voll, das ist schön. Wir feiern auch gemeinsam Bayram, das Fest zum Ende der muslimischen Fastenzeit, und Weihnachten. Gerade im Moment sind wieder Gäste da. DG Weißt du noch, Gerta, wie du meine Mutter eingeladen hast, weil Kujtim und ich das nötige Einkommen für ein Visum nicht nachweisen konnten? GS Ja, da habe ich sie kennengelernt. Wir mögen uns sehr und bedauern, dass wir uns nicht besser verständigen können. SB Ich habe das Gefühl, hier bei euch ist sehr viel Wärme. Ein bisschen davon nehme ich mit nach Hause. Ich danke euch für das Gespräch!
Gerta Stählin (82) arbeitete bis zur Pensionierung als selbständige Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in München. Sie engagiert sich seitdem in mehreren Ehrenämtern.
Dudije Gashi (41), verheiratet, drei Kinder, floh 1999 vor dem Krieg im Kosovo nach München. Heute arbeitet sie in einer Metzgerei. Ihr Mann führt einen Handwerksbetrieb.
Sylvia Buttler (43) ist Landwirtin und Autorin. Sie lebt im Bayerischen Wald und züchtet bedrohte Haustierrassen, darunter die seltenen Alpinen Steinschafe. www.am-schimmelbach.de
Bücher über Geschichten von Flüchtlingen • Renate Sova, Ursula Sova, Folgert Duit (Hrsg.): Dorthin kann ich nicht zurück: Flüchtlinge erzählen. Verlag Promedia, 2012 • Pro Asyl mit einem Vorwort von Ilija Trojanow: Aufnehmen statt abwehren. Flucht, Asyl und zivilgesellschaftliches Engagement. Loeper Literaturverlag, 2011