Ein erstes Netzwerktreffen gibt der Bewegung für Postwachstumsökonomie ein Gesicht.von Anja Humburg, Vincent Liegey, Mildred Gustack Delambre, erschienen in Ausgabe #14/2012
An diesem Samstag hätte niemand mehr Platz gefunden im Café »Klaus Abendbrot« in Berlin Friedrichshain. Da wird von einem ungewöhnlichen Bauernhof erzählt, der zugleich Denkfabrik sein soll. Themen wie Selbstversorgung und Suffizienz machen die Runde. Man sympathisiert mit einer studentischen Gruppe aus Bayreuth, die sich »Generation Jetzt« nennt. Rund 40 Menschen aus der jungen Postwachstums-Szene kamen Ende März aus ganz Deutschland zu ihrem ersten Vernetzungstreffen zusammen. Postwachstumsökonomie – das bedeutet, statt die Wirtschaftskraft zu steigern, gemeinschaftlich organisiert das gute Leben innerhalb ökologischer Grenzen anzustreben. So breit wie die Debatte war das Spektrum der Teilnehmenden des Treffens: Wissenschaftlerinnen, Aktivisten und Praktikerinnen zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig vertraten gut ein Dutzend Initiativen und Organisationen.
Brücken zwischen Praxis und Forschung Boris Woynowski (28) stellte zum Beispiel die Idee einer permanenten »Think Farm« vor als Verbindung wissenschaftlicher Forschung und praktischer Umsetzung der Theorien einer Postwachstumsökonomie. Das Ganze soll an einem gemeinsamen Co-Working-Space geschehen, erklärt der Forstwissenschaftler, etwa auf einem Selbstversorger-Hof oder auch mitten in der Stadt. Brücken zwischen Forschung und Praxis sind für authentische Wachstumskritik zentral. Hinter dem Pragmatismus vieler Projekte, die ich hier kennenlerne, steht das Bedürfnis, neben analytischen vor allem praktischen Fähigkeiten mehr Raum zu geben. Ideen sind wichtig, Abschlüsse und Ausbildungen rücken in den Hintergrund. Volkswirtinnen, Umweltwissenschaftler, Handwerkerinnen und Physiker tauschen sich so selbstverständlich und auf Augenhöhe aus, als hätte es nie disziplinäre Barrieren gegeben. Transdisziplinarität, das Zusammenwirken akademischen und lebensweltlichen Wissens, gehört zum Standardvokabular dieses Tages. Wachstumskritik ist eigentlich ein alter Hut. Das Problem: Sie blieb bisher so gut wie folgenlos. Die Katastrophenszenarien internationaler Klimakonferenzen und Umweltskandale schwören eher Panik herauf als grundlegenden Wandel herbei. An den großen Wurf der Politik glauben vierzig Jahre nach der Veröffentlichung der »Grenzen des Wachstums« nur noch wenige. Das weiß die junge Community der Wachstumskritik, die von Monat zu Monat größer wird. Ihre Anhänger schöpfen aus positiven Visionen, haben Konkretes vor Augen; sie erzählen sich Geschichten von Pionieren und ihren »Halbinseln gegen den Strom« (Friederike Habermann).
Anschluss an eine globale Bewegung In der Keimzellen-Atmosphäre des »Klaus Abendbrot« stellt auch Jona Blobel (31) ihre Arbeit für den Verein »FairBindung e. V.« vor. Die Pädagogin arbeitet an einem Methodenset, um das sperrige Thema Wachstumskritik verständlich für junge Leute aufzubereiten. Hinter Jona Blobel und allen anderen Protagonisten des Treffens stehen noch viele andere Menschen, die sich zwischen Oldenburg und Jena, zwischen Freiburg, Halle und Dresden für ein Wirtschaften fernab der Wachstumszwänge einsetzen – der Beginn einer Bewegung? Ähnliches geschah bereits vor einigen Jahren in Italien, Frankreich und Spanien. Dort gibt es elegantere Begriffe für Postwachstum wie die italienische Decrescita, die spanische Decrecimiento, die französische Décroissance oder das englische Degrowth. Die Diskussionen – das war auf dem Vernetzungstreffen unübersehbar – sind frei von ideologischen Kämpfen. Ihre Stärke ist es, offen zu sein, die Perspektive immer wieder zu wechseln. Die Spontaneität der meist jungen Akteurinnen und Akteure beeindruckt und erreicht Menschen weit über die linken Zirkel hinaus. Der Austausch auch mit Mildred Gustack Delambre und Vincent Liegey, die ich im Sommer 2011 in Istanbul kennenlernte (siehe rechte Seite), bestätigt diese Offenheit immer wieder. Obwohl wir aus unterschiedlichen Ländern kommen, stellten wir beim Spaziergang in der Juni-Hitze des Bosporus fest, dass wir ganz ähnliche Ideen für neue Arten des Wirtschaftens haben, uns ähnliche Fragen bewegen und wir an ähnlichen Punkten ins Stottern geraten. Aus dem Wunsch, sich über Grenzen hinaus auszutauschen, entstand das »International Degrowth Network«. In Deutschland gibt es das Netzwerk »Wachstumswende«. Wer sich einbringen möchte, ist herzlich willkommen.
Anja Humburg (27) ist Umweltwissenschaftlerin und Zukunftspilotin der Bewegungsakademie Verden.
Haushalt des guten Lebens Mildred Gustack Delambre (28) fand über die französische Décroissance-Bewegung zu ihrem Permakulturprojekt in Brasilien. Auf einem Familiengrundstück in Süd-Brasilien realisieren wir das Projekt »Nova Oikos« als Verbindung von Methoden und Konzepten der Permakultur mit denen des Postwachstums. Um diese Verbindungen bekanntzumachen und auf die Probe zu stellen, setzen wir in dem Projekt auf Kurse, Dienstleistungen und größere öffentliche Veranstaltungen. Was als ein Traum einer kleinen Initiatorengruppe begann, wurde ein reales Projekt, als wir den Traum auf die vielfältigen Bedürfnisse des lokalen Kontexts herunterbrachen. Seit meinem Studium der nachhaltigen Entwicklung und solidarischen Ökonomie in Paris und Toulouse entdeckte ich die wachsende Ökodorf- und Postwachstumsbewegungen, was mich dazu bewegt hat, heute als unabhängige Wissenschaftlerin zu forschen. Ich gehe diesen Weg gemeinsam mit anderen Menschen, die mir helfen, meinen Platz als Bürgerin zu finden und eben nicht nur eine Konsumentin oder Produzentin zu bleiben. Meinen ersten bewegenden Kontakt zur Permakultur hatte ich während eines Freiwilligendiensts für die Association Brin de Paille im August 2009 in Frankreich. Während wir das erste französische Permakultur-Festival organisierten, hatte ich die Idee, Permakultur auch in meinem eigenen Land Brasilien bekanntzumachen. Ich sprudelte geradezu über vor Energie, genauso wie die anderen jungen Leute, die an ähnlichen Ideen spannen wie ich. Seither tausche ich mich mit jungen Leuten verschiedener Länder aus und sehe ihr großes Potenzial und ihre starke Motivation. Nichtsdestotrotz bremst uns Jungen der Mangel an Selbstbewusstsein und Orientierung. Er lässt uns vergessen, zu träumen und in den Tag hineinzuleben, weil das später als bedeutungsloses Herumhängen verurteilt werden könnte. Um träumen zu dürfen, aber auch ihrer fordernden Kritik wegen, wünsche ich mir den Austausch mit älteren Menschen. Meine Vision ist verbunden mit dem Bild einer reifen und weisen Gesellschaft, in der es keine Ängste mehr gibt – weder die Angst davor, zu lieben, noch die Angst davor, Ideale zu verteidigen, zu teilen, zu kooperieren, zu vertrauen oder ehrlich zu sein. Wenn es Elend und Hunger in Gesellschaften gibt, liegt das daran, dass eine kleine Elite die Macht über alle Ressourcen besitzt. Gibt es Konkurrenz und Ichbezogenheit, liegt das an den Ängsten, von denen wir eingenommen sind. Was mich ermutigt, im Sinn einer angstfreien Gesellschaft zu denken, zu fühlen und zu handeln, ist die Notwendigkeit eines Wandels. Andernfalls wartet auf mich, meine Familie, meine Freunde, mein Land und den Rest der Welt eine sehr traurige Zukunft. Ich bin nicht geboren, um nur zuzusehen. Das wird mir jeden Tag bewusster. ◆ nova.oikos_ät_gmail.com
Für eine offene Relokalisierung [Bild-3] Vincent Liegey (32) promoviert an der Universität der Ökonomie in Budapest. Als ich noch in Paris wohnte, half ich als Freiwilliger in einer selbstorganisierten Fahrradwerkstatt. Wir reparierten herrenlose Fahrräder und verschenkten sie, vor allem an arme Kinder und Arbeitslose. Jetzt, wo ich in Budapest lebe, setze ich mich für einen Gemeinschaftsgarten in meinem Stadtteil Zuglo ein. Doch die Stadtverwaltung stellt sich bisher quer. Dabei gibt es auch in Ungarn immer mehr Pilotprojekte dieser Art, und ich hoffe, dass wir es ihnen in Zuglo gleichtun können. Seit einigen Jahren engagiere ich mich für eine Postwachstumsökonomie. Ich sehe Alternativen des solidarischen, regionalen Wirtschaftens als eine Art Labor für eine andere Art des Zusammenlebens, basierend auf dem Prinzip der ökonomischen Schrumpfung. Solche Projekte stoßen Transformationsprozesse an und unterstützen die notwendige Repolitisierung der Gesellschaft. Mein Traum wäre der Aufbau einer alternativen Kooperative. Dort gäbe es Fahrradwerkstätten, Gemeinschaftsgärten, Strom aus lokalen Quellen, selbstorganisierte Restaurants, alternative Kneipen mit politischem, intellektuellem und kulturellem Programm. Insbesondere in Ungarn, wo die Armut wächst und die wirtschaftliche Entwicklung unklar ist, lässt sich schwer eine Zukunft vorstellen, die weiter reicht als nur ein paar Monate oder Jahre voraus. Immer mehr meiner Freunde denken darüber nach, Ungarn zu verlassen. Sie haben die Illusion, dass das Leben im Westen einfacher sei. Sicherheit und Vorhersehbarkeit sind für den Menschen sehr wichtig. Aber das gegenwärtige Gesellschaftsmodell kann genau das nicht garantieren, noch viel weniger in Zeiten der Krise. Wir müssen Beziehungen, Solidarität und lokale Wirtschaftskreisläufe wieder aufbauen und auch denen, die heute schrecklich abwertend als »ineffiziente Teile der Gesellschaft« bezeichnet werden, also Kindern, Behinderten und alten Menschen, ihren Platz in der Gesellschaft zurückgeben. Noch haben wir die Gelegenheit, Menschen zu treffen, die in einer anderen Zeit aufgewachsen sind, wo es noch die Regel war, sich von lokalen Produkten zu ernähren. Menschen, die noch in der Lage sind, ohne Handys und Computer zu »überleben«. Als Befürworter der Postwachstumsökonomie unterstütze ich die Idee der offenen Relokalisierung: Lebe im Hier und Jetzt gemeinsam mit anderen Menschen, aber sei frei und öffne dich für die anderen. Sei frei auch im kulturellen und psychologischen Sinn, reise, tausche dich aus, sei solidarisch mit anderen Gemeinschaften. Die offene Relokalisierung steht für eine Transformation, basierend auf einem offenen Netzwerk lokaler, nachhaltiger Gemeinschaften, die sich an den Prinzipien von Kultur, Vielfalt, Solidarität und Geselligkeit orientieren. ◆ vliegey_ät_gmail.com