Die jüngste Zelle der Tempelhof-Gemeinschaft.von Pascal Suter, erschienen in Ausgabe #14/2012
Wenn du den Mainstream wählst, bleibt alles, wie es ist. Dann ist es, als ob dieser Artikel dir nie in die Hände gefallen wäre. Aber wenn du die Morphos wählst, lernst du möglicherweise etwas ganz Neues kennen, und dein Leben könnte sich ziemlich auf den Kopf stellen. Aber der Reihe nach: Wer oder was ist Schloss Tempelhof? Das 31 Hektar große Gelände im schwäbischen Hohenlohe, das früher als Kinderheim gedient hat, umfasst neben 27 Hektar Landwirtschaftsfläche auch vier Hektar Baugrund. Der Gebäudebestand erstreckt sich über zwei Hektar. Auf dem Gelände befinden sich neben Wohngebäuden und einem »Schloss« auch ein Werkstattgebäude, eine Turnhalle und eine Großküche. Die neueren Gebäude sind inzwischen renoviert worden und werden von insgesamt 72 Menschen bewohnt, darunter sind sieben Kinder, und auch ich lebe in der Gemeinschaft. Weitere Familien werden bald hinzukommen. Die Neubauten dafür sind bereits geplant und werden im Lauf des Jahres verwirklicht werden. Im Oktober letzten Jahres schwemmte das Universum drei junge Menschen zu uns. Zwei von ihnen waren auf der Durchreise und wollten eigentlich nur für einen Tag bleiben. Heute sind sie immer noch da und bilden einen erfrischenden Teil unserer Gemeinschaft. Zwei weitere junge Leute vom Peace-Projekt der Sinn-Stiftung stießen kurz darauf dazu. Mit uns drei Alteingesessenen sind wir nun eine Gruppe von acht Personen. Unsere Vision ist es, einen Platz zu schaffen, an dem junge Menschen die Chance haben, hautnah ein alternatives Lebensmodell kennenzulernen und sich darin auszuprobieren. Nicht das intellektuelle Durchdringen sondern das »Reinspringen«, das konkrete Tun, steht im Vordergrund. Dabei lassen persönliche Prozesse nicht lange auf sich warten und sind das stärkste und wichtigste Element dieses Experiments. Es geht uns um das Erkennen und ernsthafte Hinterfragen eigener Muster, Werte und Verhaltensweisen. Und mehr noch um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensentwurf, irgendwann sogar um die Möglichkeit, aus eigener Erfahrung zwischen verschiedenen Lebenswegen zu wählen. Unterm Strich: Wir wollen uns und anderen jungen Menschen die Möglichkeit geben, mehr Handlungsfreiheit zu erlangen für einen verantwortlichen Umgang mit dem Leben und der Welt.
Ein Haus und eine Kasse Unsere Truppe entwickelte eine unglaubliche Initiativenergie, und es war schnell klar, welches das Objekt unserer Begierde ist: eines der älteren Gebäude, für das eine sinnvolle und finanzierbare Nutzung von der Tempelhof-Gemeinschaft noch nicht angedacht war. Die Gemeinschaft war bereit, unserer Gruppe so viel Vertrauen zu schenken, dass nach nur kurzer Diskussion sowohl ein Okay für das »Besetzen« des Gebäudes ausgesprochen, als auch ein Etat bereitgestellt wurde. Diese Unterstützung hat uns nicht nur finanziell geholfen, sondern gab uns auch das Gefühl, dass unser Einsatz von der Gemeinschaft geschätzt wird. Der Etat deckte nicht nur die Kosten der Instandsetzung und Sanierung des Gebäudes, sondern sollte uns Morphos auch in die Lage versetzen, ein eigenes tragfähiges und nachhaltiges Modell der weiteren Existenzsicherung zu entwickeln. Nach anfänglichen Ausrichtungsprozessen in der Gruppe, die teils bis tief in die Nacht gingen, war der Weg für den ersten großen und mutigen Schritt bereitet: das Bilden einer eigenen Einkommensgemeinschaft. Damit sollte in gemeinsamer Verantwortung jedem eine Existenzgrundlage gesichert werden. Dies bedeutet, dass die Morphos nun finanziell in einem Boot sitzen, einander vertrauen und gemeinsam Ideen für ihre Finanzierung finden müssen. Um diesen Schritt gehen zu können, ist die Transparenz der persönlichen Geldflüsse nötig. Uns ist dabei aufgefallen, mit wievielen Werten und Ängsten Geld behaftet ist. Einige haben zum ersten Mal realisiert, welche Ausgaben ihr Lebensstil wirklich produziert, wie stark sie bisher getragen wurden und wie das Misstrauen wachsen kann, wenn man plötzlich finanziell voneinander abhängig ist. Ganz neue Fragen stellten sich uns: Wieviel gönne ich mir noch, wenn ich in einer Einkommensgemeinschaft bin? Mehr oder weniger? Wieviel gönne ich anderen, wenn ein Teil meines verdienten Geldes dafür verbraucht wird? Wieviel bin ich bereit, für mich und die Gruppe zu arbeiten, und welche Tätigkeiten will ich ausüben? Nach einer anstrengenden und außerordentlich lehrreichen Phase waren wir dann tatsächlich so weit. Inzwischen haben wir einen Safe, aus dem jeder seinen Bedarf nehmen kann. Praktisch heißt das: Wenn ich Geld benötige, laufe ich zu unserer »Bank«, hoffe, dass noch etwas drin ist, und trage mich ins Kassenbuch ein. Am Monatsende gibt’s dann einen Kassensturz. Gemeinsam reflektieren wir, wie der Monat gelaufen ist und fragen uns, wie es weitergehen soll. Es hilft uns sehr, Teil eines Gemeinschaftsprojekts zu sein, in dem zeitgleich, vor oder auch nach uns von anderen die gleichen Schritte getan werden. Daher auch unser Name »Morphos«, der meint: miteinander verbundene Teile eines großen morphogenetischen Felds. Manchmal arbeiteten wir den Nachmittag über an einer Frage, und abends im großen Plenum war plötzlich das gleiche Thema an der Reihe. Somit befruchten sich unsere Gruppe und die Gemeinschaft gegenseitig, durch Unterstützung bei ähnlichen Prozessen und Konflikten. Als Gruppe müssen wir nun Projekte und Möglichkeiten finden, uns zu finanzieren. Das bedeutet: kreativ werden, um- und anders denken. Das Abenteuer kann weitergehen. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie wir die Vision unserer Gruppe im Alltag umsetzen. Wer als junger Mensch Lust und Interesse bekommen hat, uns Morphos zu beschnuppern und ein paar Dinge mitzutun, ist herzlich zu unseren Kennenlern-Wochenenden eingeladen. Termine und Infos sind auf der Homepage zu finden.
Pascal Suter (31) Lehrer, seit Herbst 2010 am Tempelhof, Mitinitiator der Junge-Leute-AG »Morphos«.