»Was nottut, ist Wärme«, sagte Joseph Beuys. Als ich auf Schloss Tempelhof aus dem Wagen stieg, dachte ich an die klimatologische Komponente dieser Aussage. Ich sammelte Indizien und stellte fest, dass dieses Märzwetter aus einer November-Schablone gemacht war: Es war düster, und der Wind war geeignet, um Drachen steigen zu lassen. Es war nicht mehr so kühl, als ich Elena traf: Es war kein Zufall, so gesehen hatten wir eine Verabredung. Sie war während ihres Praktikums bei Project Peace auf Schloss Tempelhof, einem Ökodorfprojekt in Baden-Württemberg. Project Peace wird als »Studien- und Praxisjahr für Frieden und Ökologie« beschrieben. Praktisch könnte man es sich als Kombination aus Freiem Sozialem und Freiem Ökologischem Jahr vorstellen, doch der Impuls reicht weiter. Elena gehört zum Pilot-Jahrgang, zu den ersten 16 jungen Menschen, die im Project Peace aus einer Idee und einer Möglichkeit, etwas schaffen wollen, das vielleicht Veränderung bringt. Es gibt dafür wenige Vorgaben, die Teilnehmenden legen die Inhalte selbst fest. Sie planen und organisieren eigenverantwortlich und entscheiden, was ihnen wichtig ist. »Wir selbst können die Prozesse einleiten, die uns formen und durch die wir formen können«, erklärt Elena. In Schlehdorf am Kochelsee begann das Projektjahr mit einer gemeinsamen Erfahrung für die Pilot-Gruppe: »Ich kann dir erzählen, womit wir uns beschäftigt haben, zum Beispiel mit Achtsamkeitspraxis und empathischem Zuhören. Wir haben uns gemeinsam Gedanken über eine andere Ökonomie gemacht, aber auch Zeit für uns allein verbracht – auf eine Visionssuche gegangen.« Die Grundlage für das Zusammensein bildet das Konzept der gewaltfreien Kommunikation. »Ich glaube, wenn wir das nicht gelernt hätten, wäre es schlimm geworden mit Streit, oder es wären Leute ausgestiegen.« Die Einzelnen lernen, Unstimmigkeiten anzusprechen, sich ehrlich zu öffnen. »Ich wollte mit einer anderen Teilnehmerin den Brunch vorbereiten, sie kam aber verspätet vom Schwimmen zurück. Ich war genervt, aber statt es zu schlucken, habe ich es ausgesprochen. Mein Groll verging, und wir konnten gemeinsam bei Musik ein schönes Frühstück machen …« Nach der ersten Zeit in der Gemeinschaft verbringen die Teilnehmer sechsmonatige Praktika in einer selbstgewählten Einrichtung, verteilt um den Globus, einige in Deutschland, aber die meisten weiter weg, eine Teilnehmerin beispielsweise in Nepal als Betreuerin und Lehrerin in einem Kinderhaus, eine andere in Kolumbien. Nach ihrer Rückkehr wird die Gruppe mit ihren gesammelten Ideen und Eindrücken ein gemeinsames Friedensprojekt konzipieren und verwirklichen. »Ich fände ja die Idee genial, ein Peace-Camp zu veranstalten«, erzählt Elena, »da können sich Menschen als Menschen begegnen und nicht als verfeindete Staatsbürger. Mal sehen, was die anderen Teilnehmer spannend finden und was sich entwickelt.« Unterstützt wird Project Peace von der Sinn-Stiftung, dem Verein für Achtsamkeit und Verständigung, dem Lassalle-Institut und dem Katharina-Werk, wo die Gruppe ein zweiwöchiges Seminar besuchte. Elena lernte dort Pia Gyger kennen, eine Zen-Meisterin, die mit den jungen Menschen sprach. Elena erinnert sich an einen beeindruckenden Satz: »Sie sagte: Ich wünsche euch, dass ihr auf eure Intuition vertrauen könnt.« Als Elena diese Geschichte erzählte, schauten wir uns lächelnd an.
Überzeugung hat, wer nichts vertieft »Ich bin eigentlich ordentlich und strukturiert und klar, alles ist geplant. Ich fand die Vorstellung furchtbar, dass ich meinen Praktikumsplatz noch nicht habe, aber trotzdem in den Senegal fliege.« Elenas Vater lebt in Dakar: Ihre Idee war, während ihrer Praktikumszeit für Project Peace bei ihm zu leben. Allerdings fand sie von Deutschland aus dort keine Arbeit. In der ungewissen Lage wurde sie von den Betreuerinnen ermutigt. »Sie meinten, sie trauten mir zu, dass ich vor Ort etwas finde.« Also stieg sie in die Maschine. »Ich war mit 14 Jahren schon mal dort, aber jetzt wusste ich, dass ich gut Französisch spreche und mit allen reden kann.« Doch die Wirklichkeit zeigte sich von ihrer schwierigen Seite. Elena fand nur einen langweiligen Job in einem Krankenhaus, bei dem man sie nicht sonderlich gut behandelte. »Ich habe dort gelernt, Stopp zu sagen und mir nicht alles gefallen zu lassen.« Sie kündigte nach zwei Wochen. »Ich wollte etwas Sinnvolles machen.« Also half sie bei den Naturfreunden und arbeitete direkt für Project Peace, verfasste Stiftungsanträge und machte Übersetzungsarbeiten. Letztlich flog sie früher zurück und beendete ihre Praktikumszeit auf Schloss Tempelhof. »Es ist nicht so, dass alles immer so klappt, wie man es plant. Aber wenn man sich traut, kommt es meistens zu Fügungen, durch die man lernt.« Aus der Entfernung ist ihr die Gemeinschaft Tempelhof zunächst ein wenig suspekt. »Ich hatte nicht so gute Erfahrungen mit Gemeinschaften gemacht, weil ich schnell zur Außenstehenden wurde oder mich dazu machte: Meine Angst und Befürchtung war, dass es wieder so wird. Aber ich dachte auch, dass man bei einer bewussten Gemeinschaft mehr Zeit für Gruppenprozesse und Konfliktlösung hat. Anfangs war es auch schwierig, aber die Probleme wurden angesprochen und ausgesprochen, und danach war es schon anders … Wieviel es ausmacht, Dinge auszusprechen, und wie oft das nicht passiert!« Andere aus der Projektgruppe von Project Peace haben sich auch recht weit hinausgewagt – in die USA zu einer Gastfamilie des Stamms der indigenen Odawa, nach Ruanda zu einem Schulprojekt oder nach Äthiopien, wo ein Teilnemer ein Seminar für gewaltfreie Kommunikation geleitet hat. Der Mut, sich auf Ungewisses einzulassen, sogar entgegen die eigene Erfahrung den Weg zu gehen, der sich richtig anfühlt, ist herausfordernd. »Manche Menschen waren erstaunt, dass ich nicht gleich studiere, und obwohl ich dachte, frei von diesen Erwartungen zu sein, habe ich jetzt trotzdem den Gedanken, dass ich nach einem Jahr schon mal anfangen sollte, zu studieren,« erzählt Elena. Aber nach dem Jahr bei Project Peace wird Elena nicht mit dem Studium beginnen. Ursprünglich sollte es Medizin werden, aber heute sagt sie: »Ich möchte unbedingt etwas mit Menschen machen. Ich bin mir nach der Zeit nicht noch sicherer geworden, sondern eher unsicherer.« Mögliche Alternativen lassen die Zukunft vielleicht unklarer erscheinen, doch Alternativlosigkeit bringt auch keine wirkliche Klarheit. Die Intuition wird für Elena immer wichtiger – zu spüren, woher die Wärme kommt, wohin man sich bewegt, wofür man sich entscheiden kann.
Freiheit als Überzeugung Ich selbst kann mich grundsätzlich für die Freiheit entscheiden, da sind Elena und ich uns einig. Ich kann Frieden suchen und verstehen, dass Grenzen aus Offenheit, Verantwortung, Empathie und Aufmerksamkeit bestehen, nicht aus unreflektierten Erwartungen, die ungewollt von außen kommen. Aber es ist schön, wenn man ältere Menschen trifft, die einen verstehen und erkennen, deren Hilfe keine Begrenzung, sondern eine Hilfe zur eigenen Befreiung ist. Es kann ein Anfang sein, für etwas, dass zwischen Menschen passiert, im inter-est entsteht, im Interesse der Gemeinschaft – eine soziale Plastik. David Foster Wallace fordert, »dass ich ein bißchen Arroganz ablege, ein bißchen ›kritisches Bewusstsein‹ für mich und meine Gewissheiten entwickle«, und das kann ich tun, kann Toleranz lernen, um unbedachte Überzeugungen zu verlieren, aber die Intuition deutlicher zu spüren, ich kann mich mit bedachter Überzeugung für die Freiheit entscheiden. Ich kann bewusst akzeptieren, was passiert ist, und weitergehen, frei und gestärkt. Dann kann echte Beziehung entstehen, die nachhaltig verändert, die eine umfassende Verständigung fördert, eine Begegnung, die wärmt und tröstet – und dann kann ich auch aus dem Auto steigen, wenn es ungemütlich ist. Immerhin können wir Jacken anziehen und gemeinsam einige Drachen steigen lassen.
Joshua Groß (23) studiert Politik- und Wirtschaftswissenschaft und schreibt Erzählungen und Romane. joshua.gr@web.de