Johannes Heimrath sprach mit dem Künstler und Gärtner Petrus Akkordeon aus Berlin, den die Beziehung zu Tieren und Pflanzen beschäftigt.von Johannes Heimrath, Petrus Akkordeon, erschienen in Ausgabe #15/2012
Was für ein wunderbarer Garten, in dem wir hier sitzen!
Dieser Garten und das Haus gehören einer älteren Dame. Ich bin hier der Gärtner, ihr Butler sozusagen.
Dann übst du also einen dienenden Beruf aus. Ich finde es sehr schade, dass das Dienen vollständig aus unserem Gedankengut verschwunden ist. Es ist durch unsere Dienstleistungsgesellschaft ersetzt worden.
Auf einer Lampe in diesem Haus steht der Spruch: Durch die Liebe diene einer dem anderen. So ist das hier tatsächlich.
Kann ich meine Füße hier unten auf den Gartentisch stellen, ohne zu stören?
Ja, das hilft auch gegen Zecken. Ich wurde schon oft gebissen. Aber in Berlin-Brandenburg sind Zecken ungefährlich. Ein Professor der FU Berlin hat kürzlich Studenten mit weißen Fahnen die Zecken von den Blättern in den Feldern absammeln lassen. Das war ein schönes Bild, der Mensch mit weißen Flaggen über dem Zeckenfeld.
Du bist Künstler, du siehst das als Werk …
Es war einfach schön. Die Zecken waren alle gesund. Obwohl es zum Teil eingewanderte Zecken aus Russland waren. Wir haben eine neue Art bei uns, die Auwaldzecke, eine große, farbige Zecke mit filigranen Mustern.
Ich finde Zecken erstaunliche Wesen. Sie haben diese lange Schlafenszeit – und plötzlich erwachen sie wieder. Möchtest du eine Zecke sein?
Nein. Übrigens haben Zecken selbst kleinere Zecken. Andere Milben leben in ihren Schuppen. Wenn die nun wiederum Milben mit sich tragen – die Milbe in der Milbe, das ist fantastisch. Der Mensch trägt ja ungefähr eineinhalb Kilo Bakterien in sich.
Ja, gut hundert Billionen Individuen!
Ich habe mal gelesen, dass in einem Küchenschwamm mehr Wesen leben als Menschen auf der Erde. Mein erster Impuls dabei war, dass ein Schwamm folglich gleiche Rechte haben müsste wie ein Mensch.
Ja, der Küchenschwamm ist ein Kosmos, und da sind wir schon mitten im Thema. Du hast dich in einen Hirsch verwandelt. Wie haben wir uns das vorzustellen?
Ich kenne eine Frau, bei deren Anblick ich unwillkürlich denke: Sie ist ein Kaninchen. Einen solchen Zustand wollte ich erreichen. Wenn man mich sah, sollten alle sagen: Das ist ein Hirsch. Die Dame kann man kurzzeitig auch als Menschen erkennen, aber von ihrer ganzen Wesensart ist sie eben ein Kaninchen. Natürlich weiß sie das nicht, ich sage es ihr auch nicht. Ich wollte mich selbst als Hirsch fühlen und wollte, dass andere das wahrnehmen. Mein Pferd hat es sofort gemerkt. Es ließ sich zu Beginn meiner Verwandlung nicht von mir auf die Weide führen. Meine spätere Vierfüßigkeit hat es mit der Zeit akzeptiert. Es war eine bemerkenswerte Änderung in unserem Verhältnis.
Wie fühlt sich denn Vierfüßigkeit im aufrechten Gang an?
Ich habe die Hände anders benutzt. Mental sind sie länger und eben vorne gespalten. Man läuft als Hirsch aufrechter, weil man diesen langen Hirschhals hat und außerdem ein Geweih trägt.
Mir sind Hirsche recht vertraut, denn wir bekommen gelegentlich Hirsch vom Jäger. Dann zerlege ich die Tiere.
Ich würde nie Hirsch essen. Schon vor meiner Verwandlung war ich empört, als hier im Haus darüber gesprochen wurde, ob es Hirschbraten geben soll. Ich hätte deswegen fast meinen Job gekündigt. In unserer ländlichen Region besitzen wir ein kleines Stück Wald. So sind wir in enger Verbindung mit den Jägern, die dort eine Hegejagd betreiben. In unserem Wald wird also geschossen. Überlege mal, wem du das gerade sagst – jemandem, der das aus der Hirsch-Sicht betrachtet!
Das ist ja das Interessante. Es geht um deine Brüder und Schwestern.
Ein Schamane hat mir geraten, einen Hirsch zu jagen, sein Fell zu gerben, daraus eine Trommel zu bauen und den Hirsch zu mir zu rufen. Das schien mir ein zu großer Umweg. Ich wollte den Hirsch kennenlernen, bevor er tot ist.
Das Fleisch des Hirschs, das ich esse, war vorher Pflanze, Adler, Blutegel, Alge ...
... und Mineral und Hirsch.
Ich frage mich oft: Wenn ich an diesem Leben-und-Tod-Kreislauf beteiligt bin, bin ich dann auch bereit, selbst Nahrung zu sein?
Ich bin gerne Nahrung, trotzdem esse ich keinen Hirsch. Ja, wir verwandeln uns in das, was wir vorher waren, in Erde. Es gibt auch die Geophagen, die essen gerne Erde. Das finde ich sehr schön. Manche Erde schmeckt gut. Warum hast du eigentlich davon gesprochen, dass du Hirsche isst?
Weil mir dadurch über einen kleinen Umweg klar geworden ist, dass es um eine Essenz geht. Was geschieht mit der Essenz, wenn ich esse? Was geschieht mit dem Hirschsein?
Nach dem Hirsch wollte ich ein Haselnussstrauch sein. Aber nicht in der gleichen Art wie bei der Verwandlung in den Hirsch. Weil wir von Essenz sprechen – ich wollte, dass mich die Menschen als Haselnuss-Strauch in Erinnerung behalten, dass sie eine Essenz erinnern. Meine Haselnuss-Verwandlung hat dazu geführt, dass mir ein Dorf in Ungarn geschrieben hat: Bitte pflanze uns einen Haselnuss-Wald. Ich werde dort hinfahren für ein gemeinsames Pflanzprojekt mit den Dorfbewohnern. Beim Hirsch war es anders, der war Tier, war lebendig mit Fell, Geweih und sehr weicher Zunge übrigens. Ich habe einmal eine Hand mit Futter in ein Hirsch-Gehege gestreckt und auf einen Hirsch gewartet. Nach einiger Zeit kam tatsächlich einer und schlabberte das Futter von meiner Hand mit einer sehr, sehr weichen Zunge. Das hätte ich so nicht erwartet, auch nicht, dass sein Fell so sehr fettig ist.
Du hast mit verschiedenen Menschen über dein Hirschwerden gesprochen. Auch mit Jägern?
Interessanterweise wollten fast nur Männer mit mir sprechen, Frauen schien das Ganze suspekt. Die einzige Frau war eine Jägerin. Vielleicht dachte sie: Im Zweifelsfall knall’ ich ihn ab. Meine Frage an die Jägerin war, ob sie meine, dass ich ein Hirsch werden könne. Erst hat sie das verneint, aber nach einem längeren Gespräch konnte ich sie zumindest überzeugen, dass sie mich kurze Zeit für einen Hirsch halten und auch noch abdrücken könnte. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen verletzt werden oder gar umkommen, weil sie von Jägern im Wald für Wild gehalten werden. Man muss als Jäger erstmal lernen, Hirsche zu sehen. Das fand ich spannend. Die Jägerin hätte mich mit auf die Jagd genommen, aber ich wollte das lieber nicht.
Sie hat dich also nicht für einen Menschen mit einem schizoiden Schub gehalten?
Das haben die meisten anfangs getan, auch der Wildtier-Beauftragte von Berlin, den ich gefragt habe, wie er mit mir umzugehen gedenke, wenn ich ein Hirsch würde. Alle waren sehr sanft zu mir, das war ganz wunderbar. Ich habe mir Termine bei verschiedenen Beratern geben lassen. »Ja, Sie wollen Hirsch werden? Aha. – Möchten Sie noch einen Schluck Wasser?« Irgendwann merkten meine Gesprächspartner, dass ich es ernst meine, und die Gespräche nahmen eine andere Wendung. Einer dieser Berater saß am Ende des Gesprächs auf dem Boden und röhrte wie ein Hirsch. Er saß dabei interessanterweise auf einem Damwild-Fell, dem Schoner für seinen Bürosessel – ich selbst war ein Rothirsch. Eigentlich möchten die Menschen gerne Hirsch sein, sie haben ein kindliches Verlangen danach, sich zu verwandeln. Als Kind waren sie im Garten mal dieses, mal jenes Tier. Irgendwann versagen das einem die Eltern, die Mitschüler oder die eigene Skepsis. Es ist schön, das wieder zuzulassen.
Was passiert im Gehirn, wenn man sich so stark in eine Idee hineinversetzt? Ich denke zum Beispiel an Neurolinguistisches Programmieren (NLP) oder das Method Acting.
Das wollte ich auch ausprobieren, aber der Theater- und NLP-Trainer, den ich mir gesucht hatte, war mir zu esoterisch. Er wollte mein Gehirn umpolen, das fand ich nicht so erquicklich. Oft wurden mir auch Drogen oder merkwürdige Rituale angeboten. Das hätte ja aber nur zu Halluzinationen geführt … Ja, ich wollte nicht ein Mensch sein, der denkt, er sei ein Hirsch, sondern ich wollte ein Hirsch sein. Das ist ein Unterschied.
Wann hat sich dabei – um mal ein gebräuchliches Wort zu verwenden – so etwas wie »Erfolg« eingestellt? Mentaler Erfolg?
Um die Menschen in meinem Umfeld zu beruhigen, habe ich allen versichert, dass meine Hirschverwandlung nur ein Jahr andauern solle. Alle hatten Sorge, dass ich abdrifte und schließlich im Wald lebe, weil sie wissen, dass ich immer ins Extrem gehe. Nach einem Jahr gab es ein Abschlussfest und alle dachten, es sei vorbei. Heimlich hat es in meinem Kopf aber weitergearbeitet, und nach ungefähr eineinhalb Jahren kam der Moment, dass ich mich nicht mehr auf die Rückbank eines Autos setzen konnte. Ich musste vorne einsteigen, weil das Geweih da war. Da habe ich erkannt, wie verhirscht ich geworden war, und das war ein Erfolg. Es war auch befreiend, als Künstler mal 18 Monate lang die Ölfarbe stehenzulassen und nichts produzieren zu müssen. Ein Hirsch macht ja keine Kunst, und die Hirschwerdung war kein Kunstprojekt. Ich konnte sie nicht verwerten, nicht in eine Galerie hängen. Zwar habe ich in der Zeit gemalt, aber nur, um mich in das Hirschsein zu vertiefen, in die Farben des Waldes.
Wie kamst du ursprünglich auf den Gedanken, dich in einen Hirsch verwandeln zu wollen?
Genau weiß ich es nicht mehr, aber da war der Moment, in dem ich an dieser goldenen Hirschskulptur von August Gaul am Rathaus Schöneberg in Berlin vorbeigegangen bin. Sie steht auf einer hohen Säule in einem Rondell und wirkt wie eine Art Sonnenuhr. Zu Beginn meiner Verwandlung habe ich mich in das Rondell gestellt und gewartet, bis der Schatten des Geweihs auf meinen Kopf fällt.
Wovon lebt ein Hirsch in der menschlichen Gesellschaft? Er isst – er atmet und isst. Blätter und Gebüsch zum Beispiel.
Aber wie zahlt ein Hirsch Miete?
Miete? Naja, es war ein Werdensprozess. Ich habe ja noch hier im Haus gelebt und als Gärtner gearbeitet. Die Leute dachten, dass ich wohl irgendwann draußen schlafen würde, aber so weit ging es nicht.
Wie war es für den Hirsch, mit dem Rasenmäher zu fahren?
Viele Dinge sind mir extrem fremd geworden. Einkaufen ging bald gar nicht mehr. Kleidung kaufen kam mir völlig absurd vor, selbst Bücher zu kaufen war nicht mehr möglich. Im Buchladen merkte ich plötzlich: Kein Buch handelt mehr von mir. Vorher konnte ich einen Kierkegaard lesen und nachvollziehen, was da gesagt wird. Jetzt passten all diese Gedanken nicht mehr zu mir, da hatte eine Entrückung von der Menschenwelt stattgefunden. Ich habe die Menschenwelt anders gesehen, sah sie als Nicht-Mensch, der aber noch mit menschlichen Begriffen denken kann.
Hat dieses Entrücken etwas mit dem unbefangenen Spiel zu tun, das den Menschen aus seiner rationalen Verfasstheit herauslöst und in sein Dasein in der Natur einbindet? Das ist nicht »nur« ein Spiel, sondern das eigentliche Leben, das Zwecklose. Der Hirsch tut nichts zu einem bestimmten Zweck, selbst sein Fressen verfolgt keinen Zweck, sondern ist Wesensausdruck.
Es ist sehr schön, wenn man als Gärtner auf einer Leiter steht und anfängt, den Apfelbaum zu essen. Die Rinde ist wahnsinnig hart für unsere Zähne. Aber es hat etwas, als Hirsch zu essen. Das Essen spricht dich an und sagt: Ich gehöre zu dir. Morsches Holz kann man übrigens ganz gut essen. Aber Zellulose essen ist ein Mysterium.
Mit wem spreche ich jetzt? Wirkt das Hirschsein noch nach?
Ich bin manchmal noch Hirsch, aber nicht immer, bin nicht mehr so vertieft in das Ganze. Gerade mache ich andere Projekte, befasse mich mit Feldhasen. Gestern haben wir »Hasenapotheke« ausgesät, das ist eine Mischung von einheimischen Kräutern, die Feldhasen besonders guttun. Ich lese viele Doktorarbeiten rund um Wildtiere und suche darin nach »poetischen Fehlern«. Da schreibt eine Biologin zum Beispiel zwischen trockenen Statistiken von der »Lust« einer Wurzel, in verlassenen Regenwurm-Röhren Mineralien abzugreifen. Ich war so begeistert, dass ich ihr geschrieben habe, aber sie hat mir leider nicht geantwortet. Mein Hirschsein hat die Menschen, die davon erfahren haben, jedenfalls verändert. Es war wohl vor allem die Möglichkeit, in einem Märchen zu leben, was sie bewegt hat. Wie steht es mir dir, warst du schon einmal etwas anderes?
Ich habe versucht, freizulassen, was ich bin. Meine tiefste Verwandlung war die Erkenntnis, dass das Schneiden eines Salatkopfs ein blutiges Geschäft ist. Da quillt die weiße Milch aus der Wurzel, und du nimmst dem Salat das Leben, bevor er blühen konnte. Wenn sich seine Zellen in dir auflösen, sendet jede das Tausendfache ihrer Biophotonen aus wie sonst, im Noch-Leben. Die sterbende Pflanze versendet sich in dir.
Isst du jetzt keinen Salat mehr? Nur noch überfahrene Hirsche?
Nein, ich habe erkannt, dass ich die Dinge hochheben muss. Der Salat kommt auf eine andere Höhe, auch die Bakterien, die ich in mein Taschentuch schneuze. Wo ist die richtige Höhe? Können wir auf Augenhöhe mit allem, was ist, kommunizieren? Wenn man diese Kategorien Mensch, Pflanze, Tier weglässt, entsteht etwas Neues. Wir dürfen all das nicht trennen.
Ja. Hab vielen Dank für das Gespräch!
Petrus Akkordeon (40) ist Künstler, Gartenpfleger und insbesondere passionierter Guerilla-Gärtner. Er lebt in Berlin-Steglitz.