Zu Besuch in einer Werkstatt für Wahrnehmung, Improvisation und Instrumentenbau.von Clara Steinkellner, erschienen in Ausgabe #15/2012
»Was wir hier sehen, das sind nur zehn Prozent meiner Arbeit, denn der Großteil spielt sich an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt ab«, erzählt Hannes Heyne, nachdem er die Gartentür geöffnet hat. Hinter dem Haus plätschert ein Bächlein – neben der Brücke liegen Klangsteine auf dicken Seilen im gemähten Gras. Am blühenden Kirschbaum hängt eine Windharfe, im Strauch daneben klimpern Klangspiele aus Bambus. »Und das ist die klingende Strickleiter. Eine Spielregel wäre zum Beispiel: Einer spielt immer zwei Töne abwechselnd, gleichmäßig, und der zweite improvisiert dazu.« Solche Spielregeln erleichtern das Miteinander, legen wie Leitplanken einen Weg, damit etwas in Fluss kommen kann. Hannes kennt viele Spielregeln. Er hat sie in Seminaren zum Bau und Spiel von Instrumenten aus Naturmaterialien in aller Welt erprobt. »Jede Gruppe ist anders. Nicht nur vom Alter und Beruf her, vor allem von ihrer gesellschaftspolitischen Prägung«, erinnert er sich. »Mit rumänischen Teilnehmern, die in einem totalitären Regime großgeworden sind, war das Spielen ohne Dirigent die größte Herausforderung – und in Estland konnten sich Kinder in die Gruppenimprovisation oft nur langsam hineinfinden, sie wollten viel lieber für sich spielen …« Schon seit 18 Jahren reist Hannes jedes Jahr nach Estland. In Georgien war er auch schon oft, ebenso in Russland, Ex-Jugoslawien, aber auch in Mexiko, den USA und in Japan. Rumänien kennt er seit 1982, als er zum Wandern und Klettern in die Karpaten gereist war. In diesem Land ergab sich für ihn 1993 beim Festival »Idriart« im siebenbürgischen Michelsberg ein entscheidender Impuls: Der Leiter des Improvisations-Workshops kam mit seinem Instrumentenkoffer nicht durch den rumänischen Zoll. Hannes übernahm den Workshop – ohne irgendein Instrument zur Hand zu haben. Die Gruppe sammelte Steine und Hölzer und experimentierte mit rhythmischen Spielen. Bei der Aufführung in einer romanischen Kirchenburg standen die Spielenden im Kreis um die Zuhörenden: ein Schlüsselerlebnis dafür, welche Kraft im Einfachen, im bewusst Reduzierten liegt.
Zuhören lernen Wir gehen zu den Klangsteinen. Fünf verschiedene Steine, fünf verschiedene Töne. Der größte hat einen geradezu metallischen Nachklang. Sie sind, wie auch die Hölzer des großen Xylophons daneben, bei genau einem Fünftel ihrer Länge oben und unten abgestützt. Dann klingt es am besten, lerne ich. »Die breiten Steine haben oft zwei Töne, eine kleine Sekund, hörst du das?« Hannes »malt« mit einem zweiten Stein Linien auf der Steinplatte, ein durchgehender Ton erklingt, in den sich ein zweiter, höherer mischt. Tatsächlich – di-ü-i-ü-i – es klingt ein bisschen wie eine Sirene. Wo die Steine herkommen? »Das ist Phonolith, Klangstein, aus einem Steinbruch in Tschechien.« Hannes ist mit dem Fahrrad dorthin gefahren, ein Auto hat er nicht. Doch er organisierte einen Transport, insgesamt eine Tonne. Einige Steine sind jetzt im Erzgebirge, wo Hannes den klingenden Naturpfad »Klangerlebnis Schellerhau« gestaltet hat. Als wir im Haus die alten Steintreppen hinaufgehen, achte ich auf das Geräusch, das unsere Füße beim Gehen erzeugen. »Früher habe ich in einer Altbauwohnung in Dresden gewohnt, aber irgendwann haben sich die Instrumente bis zur Decke gestapelt!« Hannes erklärt seinen Umzug in die kleine Villa im Winter 2009. Wir sitzen in der gemütlichen Küche unterm Dach, aus dem Fenster sieht man die Weinberge am Elbhang. Auf dem Tisch liegen zwei reife Erdbeeren auf einem Stück Buntpapier. »Hannes« steht unter der einen, »Andreea« unter der anderen. »Die ersten Erdbeeren aus dem Garten, das muss man zelebrieren!« – Lachend kommt Andreea herein, Psychologin und Künstlerin aus Bukarest, die vor sechs Jahren zu Hannes nach Deutschland gezogen ist. Die beiden erwarten ein Kind. Wir sprechen auf Deutsch und Rumänisch über das Land zwischen Donau und Karpaten mit der brodelnden Millionenstadt Bukarest und den idyllischen Dörfern, das auch mir durch mein soziales Jahr dort ans Herz gewachsen ist. Über die schwierige wirtschaftliche Situation und die geniale Improvisationsfähigkeit der Menschen in Osteuropa. »Obwohl die ja lieber das perfekte Westliche hätten«, bemerkt Hannes. »In vielen Dörfern Rumäniens kann jeder noch mit der Sense mähen, in Österreich werden jetzt teure Workshops dazu angeboten. Da könnte sich so vieles bereichern, wenn wir nur mehr zusammenkämen.« Ob er die Improvisation als gemeinsame Sprache sieht, frage ich Hannes. »Ja, aber als Sprache, die wir alle erst lernen müssen!«
Akustische Ökologie Der studierte Hydrologe, der schon in der DDR privat Diskussions- und Diaabende zur Wasserverschmutzung organisiert hat – »damals gab es keine offiziellen Zahlen zur Umweltverschmutzung« –, spricht von akustischer Ökologie: Zuhören-Können, ja Zuhören-Wollen. Wann mische ich mich ein? Wann halte ich mich zurück? Im rechten Moment: Auf-hören. In Kontakt kommen und in Kontakt bleiben mit der Welt, miteinander, mit sich selbst, in einer Zeit, in der wir uns so leicht in virtuellen Scheinwelten verlieren. Die gemeinsame Reflexion des Erlebten macht neue Denkwege sichtbar. Das Spiel mit Klang eröffnet die Möglichkeit des souveränen Umgangs mit Bedingtheiten. Da denkt Hannes durchaus auch an Friedrich Schiller, der in seinen berühmten Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt, wie der »Spieltrieb« den wilden, aus dem Gefühl und der Sinnlichkeit geborenen »Stofftrieb« und den kühlen »Formtrieb« der Vernunft in ein lebendiges Verhältnis bringt. Wir betreten den Musikraum: Kachelofen, roter Teppich – und Instrumente aus der ganzen Welt: Trommeln, Flöten und Glocken, Summscheiben und Klangschalen, Kokosfideln und Harfen. Ich darf nach Herzenslust ausprobieren. Die Berber-Geige hat es mir angetan: nur eine Saite, ein Bogen, ein viereckiger, hautbespannter Resonanzkasten. Die Finger greifen »in der Luft«, kein Griffbrett kanalisiert die Vielfalt der Klangmöglichkeiten. Hannes’ Ansatz ist das »Lernen vom Instrument«: Wer offen ist, dem zeigt das Instrument selbst, wie es zu spielen ist. Im Nebenraum geht die Sammlung noch weiter! Allein die Vielfalt an Flöten ist überwältigend und lässt den kulturellen Reichtum der Erde erahnen: Holzflöten, Knochenflöten, Bambusflöten – hauchige, schrille, volle oder zarte Klänge. Hannes lockt aus jeder von ihnen Erstaunliches hervor, ob sie nun gerade, schräg oder quer geblasen werden. Auch eine Doppelflöte aus dem kroatischen Istrien ist dabei: Man bläst in zwei Röhren gleichzeitig und spielt mit beiden Händen auf jeweils einem Flötenrohr. Hannes kennt die Herkunftsländer der Instrumente und die Mythologien, die sich um sie ranken. Ich höre zu. Besonders eindrucksvoll sind für mich die Erzählungen aus Hannes’ Leben: Wie er in den 80er Jahren zu »Idriart« fand, der von dem slowenischen Geiger Miha Pogačnik initiierten Bewegung für die Entwicklung interkultureller Begegnungen durch Kunst. Wie er über Jahre bei unzähligen Festivals in Chartres, Krakau, im slowenischen Schloss Borl oder in Mexiko mitgestaltend dabei war, auch eines in seiner Wahlheimat Dresden organisierte. Wie er sich in die Geheimnisse der Intervalle, in den Instrumentenbau als kreative Konfrontation mit dem Material, in das ganzheitliche Hören im Sinn einer akustischen Ökologie eingearbeitet hat. Das Projekt Klanghütte nahm in den 90er Jahren Form an: Ein Raum für die Kultivierung der so wichtigen Fähigkeit der Improvisation, durch die Neues entsteht und universelles Verstehen möglich wird. Einer der aktuellen Arbeitsschwerpunkte ist Griechenland. »Dort finde ich große Resonanz – aber es gibt fast kein Geld. Mein Arbeitsbegriff ist dadurch weiter gewachsen: Ich gehe mit meiner Arbeit dorthin, wo sie gebraucht wird. Ob es Geld dafür gibt, ist zweitrangig. Im geldreichen Deutschland äußert sich mein Überlebensbedürfnis dann auch mal als höherer Stundensatz.« Zudem schwebt Hannes ein neuer, transnationaler Lehr- und Lernzusammenhang vor – er lädt ein, bei ihm Station zu machen, um das Anleiten von Improvisationsprozessen zu lernen. Wenn es ihm gelingt, verschiedenste Menschen, von der Musikprofessorin bis zum Bauarbeiter, oder verschiedene Kulturen mit einfachsten Mitteln in einen Dialog zu bringen, spürt er, dass er das Richtige tut. »Als ich einmal mit einer Gruppe zwei Stunden lang nur mit runden Fluss-Steinen improvisiert hatte und die Fülle der Möglichkeiten, die Differenziertheit der Prozesse erahnbar wurde, da sprach jemand die Stimmung so aus: Wir sind eigentlich alle steinreich.«
Clara Steinkellner (27) studierte Internationale Entwicklung, Rumänisch und Germanistik. Sie ist Mitbegründerin der Freien Bildungsstiftung www.freiebildungsstiftung.de.
Wo die Welt zu klingen beginnt: www.klanghuette.de Literatur: Hannes Heyne: Klänge aus der Natur. Drachen Verlag, 2010