Gemeinschaft

Traum(h)aus!

Wie eine Utopie zum Leben erwacht.von Marit Bürger, erschienen in Ausgabe #15/2012
Photo
© Joris Spindler

Trotz zahlreicher Anfangsschwierigkeiten renoviert Marit Bürger mit ihren Freunden und Freundinnen eine alte Villa nahe Magdeburg, um ihren Traum von einem naturnahen und gemeinschaftlichen Leben zu verwirklichen. Ihr Fazit: Ein anderes Leben ist möglich, wenn man seinem Traum treu bleibt – und ihn loslassen kann.

Radelt man den Elberadweg in Richtung Norden aus Magdeburg heraus, kommt man durch einen herrlichen Park mit alten Bäumen, weiten Wiesen und einer langen Allee. Am Ende dieser Allee befindet sich das ­noble Herrenkrug Park Hotel und – viel schöner – eine alte Villa mit kleinen Anbauten, die sich durch das viele Grün ringsherum schon richtig in die Landschaft eingefügt haben. Oft gingen wir als Kinder in diesem Park mit den Eltern und Großeltern spazieren, suchten Ostereier und picknickten am Elbufer. Später trafen wir uns hier als Studenten am Lagerfeuer und genossen die Sandstrände und Wiesen der Elbaue. Manches Mal fragte ich mich verwundert, was für ein Anwesen das sei, diese kleine Villa mit Fachwerkanbau, so idyllisch wie sonst nur wenige Häuser in Magdeburg, der vom Krieg stark zerstörten Stadt.
Nähert man sich dem Gelände, dann sieht man einen bunten Vorgarten und ein Tor, durch das der Blick am Haus vorbei in einen großen, begrünten Innenhof fällt. Hier wohnen wir jetzt mit elf Erwachsenen und fünf Kindern. Wir planen, ein Café zu eröffnen, eine Herberge für Fahrradfahrer und Pilger auszubauen, Seminarräume einzurichten und Wohnraum zu schaffen. Der Ort, an dem das Haus steht, ruft regelrecht danach. Schon jetzt kommen immer wieder Besucher bei uns vorbei, die Kaffee trinken möchten oder sich mit Gruppen treffen wollen und nachfragen, wann das denn möglich sei. Doch gut Ding will Weile haben! Denn wie es aussieht, haben wir miteinander einen vielschichtigen Prozess begonnen, der weit über den Bau hinausgeht und der seine Zeit braucht.

Die Entscheidung
Es begann in einer WG mit einigen Menschen, die schon länger ein Haus suchten. Die Vorstellung, ein Haus gemeinsam zu kaufen, um dort was auch immer – auf jeden Fall gemeinschaftlich – zu tun, begeisterte mich. Was genau wir tun wollten, war zu diesem Zeitpunkt noch sehr diffus. Es sollte irgendwie ökologisch sein, alternativ, anders als anonym nebeneinanderher zu leben, und politisch natürlich auch.
2006 einigten wir uns auf den Namen »Vitopia«, was so viel bedeutet wie: gelebte Utopie, Wunschland. Mehrere Jahre verbrachten wir mit der Suche nach dem richtigen Haus. Obwohl wir noch nicht gemeinsam wohnten, formte sich währenddessen die Gruppe. Es bildete sich ein fester Kern von neun Erwachsenen heraus, die sich regelmäßig trafen und Verantwortung für verschiedene Bereiche übernahmen. Alle hatten den Wunsch, bald gemeinsam zu wohnen. Schon zu diesem Zeitpunkt merkte ich, dass wir ein Stück Leben miteinander teilten, die Dimensionen waren mir aber noch nicht ganz klar. Die Suche nach einem geeigneten Haus zog sich in die Länge. Als meine Tochter zur Welt kam – das erste Kind in unserer Gemeinschaft –, wurde mir klar, dass ich mein Leben mit den anderen auf allen Ebenen teilen möchte. Vitopia würde nicht in absehbarer Zeit »abgehakt« und vorbei sein.
Dass Joris, einer unserer Mitstreiter, die Ausschreibung der Villa entdeckte, war mehr Zufall als Ergebnis einer gezielten Suche. Die Stadt verlangte als Verkäuferin des Hauses ein Konzept, das dem Haus und seiner Lage entsprechen sollte. Solch ein Konzept zu erstellen, fiel uns nicht schwer. Die Villa beflügelt geradezu die Fantasie. Nur wurde leider doch der Meistbietende bevorzugt, und wir wandten uns wieder anderen Objekten zu. Doch dieses Haus schien uns wirklich zu wollen. Die Bewerberin, die mehr geboten hatte, trat zurück, und wir rückten an die erste Stelle. Jetzt ging die Arbeit erst richtig los: eine Genossenschaft gründen, Geld auftreiben, Gespräche mit Banken, Kredit aufnehmen, den Kaufvertrag aushandeln. Da sich alles verzögerte, musste der Stadtrat plötzlich nochmals abstimmen, ob das Haus nun wirklich an uns verkauft werden sollte. Immer wieder tauchten Hürden auf, und mir erscheint es heute fast wie ein Wunder, dass wir 2010 letztlich dann doch unterschreiben konnten.

Irre real
Was geschieht mit einem Traum bei seiner Verwirklichung? Er ist jedenfalls kein Traum mehr. Der Kauf eines Hauses ist sehr real, und es ist nötig, den Traum ein Stück loszulassen, um zu schauen, wie die Realität ist.
Die Sanierung des denkmalgeschützten Ensembles ist im Moment die Hauptaufgabe unserer Gemeinschaft. Der Bau wird ressourcenschonend und ökologisch realisiert. Für uns ist dies eine große Herausforderung, da wir alle keine gelernten Handwerker sind und anderen Berufen nachgehen. So fehlt uns oft das nötige Fachwissen und auch die Zeit, die das Ganze benötigt. Trotzdem haben wir schon viel geschafft. Das zukünftige Herbergshaus ist so weit hergerichtet, dass wir darin wohnen und unsere Mieten als Finanzgrundlage für die laufenden Kosten einbringen können. Naturmaterialien wie Lehm, Schilf, Hanf und Stroh sind angenehm zu verarbeiten und geben dem Haus einen wohltuenden Charakter. Der Bau stellt uns aber auch oft vor Rätsel. So bin ich manchmal sehr verwirrt, wenn sich die Meinungen der Fachleute widersprechen.
Für dieses Jahr ist unser großes Ziel, den Bau des Cafés so weit voranzubringen, dass wir mit der Inneneinrichtung beginnen können, um dann baldmöglichst den Betrieb aufzunehmen. Gerade ersetzen Zimmerleute die morsch gewordenen Fachwerkbalken, und wir mauern die Gefache aus.
Unsere große Ressource im Bau und auch in den anderen Bereichen ist ein Netzwerk von Menschen, die uns unterstützen, beraten, mit Hand anlegen, uns als Fördermitglieder finan­ziell beistehen oder einfach mal einen Kuchen vorbeibringen. Ohne all diese Menschen wäre das Projekt nicht denkbar. Es gibt gute Geister, die uns regelmäßig mit Rat und Tat zur Seite stehen, wie die 70-jährige Irmtraud, die jede Woche kommt und uns im Garten und bei leichten Aufgaben auf der Baustelle hilft. Sie sagte einmal, dass sie mit uns »ihre Gemeinschaft« gefunden habe. Wir freuen uns, dass sie da ist, und sie genießt in ihrer bescheidenen Art den Kontakt mit den Kindern, uns Erwachsenen und dem, was da wächst.
Und dennoch musste unsere Baustelle ruhen, weil die weitere Finanzierung ungeklärt war. Unser diesjähriges Frühlingsfest war deshalb eine gut besuchte Benefizveranstaltung für den Ausbau des Cafés. Die Magdeburger Gruppe »Les Soleils« spielte französische Musik vom Küchendach herunter, ein Flohmarkt lud zum Stöbern ein, und ein kleiner Zirkus sorgte für ein buntes Programm.

Was heißt eigentlich Gemeinschaft?
Neben dem Bau und anderen Aktivitäten, wie der Unterstützung der »Friedenstafel« in Magdeburg, versuchen wir immer wieder, Zeit für Begegnung in unserer Gruppe zu schaffen. Oft liegt es nahe, über konkrete Arbeiten zu kommunizieren und Praktisches anzupacken. Daneben brauchen aber sowohl die Einzelnen als auch die Gruppe ihren Raum.
Was heißt gemeinschaftlich leben? Diese Frage stellen wir uns immer wieder. Unsere jüngste Antwort: Es ist eine Art und Weise zu leben, die in unserer von Indivi­dualismus geprägten Gesellschaft von vielen ersehnt, von manchen ausprobiert und von einigen gelebt wird. Seit Menschengedenken waren unsere Vorfahren darauf angewiesen, ihr Leben gemeinschaftlich zu organisieren, um zu überleben. Heute ist es möglich, sich individuell mit Nahrung, Kleidung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen. Unsere kapitalistische Gesellschaftsform lebt davon, dass jeder seinen Haushalt hat und dort verschiedene Dinge »braucht«, die genauso gut auch gemeinsam genutzt werden könnten. Dagegen wählten wir einen anderen Weg. Da wir unter einem Dach wohnen, teilen wir viele Dinge des täglichen Lebens, können unseren Alltag nachhaltiger und ressourcenschonender gestalten als alleine oder in der Kleinfamilie. Wir unterstützen uns gegenseitig auf vielfältige Weise.
Um miteinander im Austausch zu bleiben und Probleme und Konflikte anzusprechen oder zu lösen, erlernten wir verschiedene Methoden. Einige davon probierten wir selber aus. So ist das »Council« (englisch für »Rat«) ein Redekreis, bei dem es darum geht, vom Herzen zu sprechen und zuzuhören, unnötige Diskussionen zu vermeiden und sich direkter mitzuteilen. Für andere Methoden, etwa das »Forum«, luden wir erfahrene Menschen ein. Beim Forum gibt es eine Mitte, aus der heraus eine Person sprechen und sich ausdrücken kann. Der Kreis ist mitfühlendes Publikum und gibt danach »Spiegel«. Das Verblüffende daran ist, dass manche Spannungen und Probleme sich bereits dadurch lösen, dass sie offen und öffentlich ausgesprochen werden. Zu wissen, wo die anderen stehen und was sie gerade beschäftigt, erleichtert das Verständnis füreinander und deckt manche Missverständnisse auf, die allzu oft durch Überforderung entstehen.

Gute Kommunikation heilt
Ein großes Vorhaben wie das unsere mit den persönlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen, ist nicht immer einfach. Die Balance zu finden zwischen dem, was ich bei Vitopia einbringe, und dem, was mir außerdem wichtig ist, ist eine Aufgabe, der nicht nur ich mich immer wieder neu stellen muss. Im Alltag teilen wir uns gegenseitig mit, hören uns zu, lernen so voneinander. Einer unserer Begleiter bezeichnete auch das als politisch – denn wenn wir uns mit Respekt und Verständnis füreinander begegnen, verändern sich die zwischenmenschlichen Mechanismen, die sonst zu Unterdrückung und der Aufrechterhaltung von Hierarchien beitragen.
Besonders schön, aber auch herausfordernd, finde ich die Verschiedenheit der Menschen in unserer Gruppe. Einige packen die Dinge gerne sofort an und erzielen dabei wirklich bahnbrechende Ergebnisse. Dann gibt es andere, die lieber vorher bis ins Detail durchdenken, planen und absichern und erst dann zur Tat schreiten. Jede Art und Weise hat ihre Berechtigung, ist hilfreich und wichtig. Dennoch ist es manchmal spannend, alles unter einen Hut zu bringen.
Was verbindet uns nun miteinander? Auf jeden Fall eint uns die Vision, einen Ort zu schaffen, an dem Dinge möglich werden, die in die Welt hinauswirken: ein naturnaher Ort für Begegnung, Bildung, Kultur, der Ausgangspunkt für politische Aktionen und Denkanstoß für neue Lebensweisen sein kann.
Wir freuen uns über Menschen, die sich von unseren Ideen und unserem Projekt angesprochen fühlen und die sich ideell und finanziell in unserer Genossenschaft engagieren wollen. 


Marit Bürger (34) ist Musiktherapeutin und hat drei ­Kinder. Sie interessiert sich für gute Verständigung unter den Menschen und spricht dafür mehrere Fremdsprachen.


Die »gelebte Utopie« im Internet besuchen:
www.vitopia.de
mail@vitopia.de

weitere Artikel aus Ausgabe #15

Photo
von Matthias Fersterer

Dieses Buch sollte mir gestatten, den Konflikt in Nah-Ost zu lösen, mein Diplom zu kriegen und eine Frau zu finden (Buchbesprechung)

»Dieses Buch sollte mir gestatten, den Konflikt in Nah-Ost zu lösen, mein Diplom zu kriegen und eine Frau zu finden«, so der nicht geringe Anspruch, den dieses charmante Büchlein bereits im Titel für sich reklamiert. Dem wird es auch durchaus gerecht, theoretisch

Permakulturvon Markus Gastl

Wiesen-Wissen

Bücher zur Pflanzenbestimmung gibt es in großer Auswahl. Jedoch ist nicht jedes Buch für alle Zwecke gleich gut geeignet. Der Klassiker »Was blüht denn da?« teilt die Pflanzen nach Blütenfarbe und untergeordnet nach Anzahl der Blütenblätter ein, ein

Die Kraft der Visionvon David Abram

Erdgeschichten

In unserer Begeisterung für das Internet sollten wir nicht vergessen, dass sich unser linguistisch und intellektuell staunenswert leistungsfähiges Gehirn nicht erst angesichts des Computers oder in der Wechselbeziehung zum geschriebenen Wort entwickelt hat. Das menschliche Gehirn

Ausgabe #15
Spielen? Spielen!

Cover OYA-Ausgabe 15
Neuigkeiten aus der Redaktion