Endstation Paradies in Neukölln und »Anderswo«.von Farah Lenser, erschienen in Ausgabe #16/2012
Es beginnt mit Regen – wie in der Geschichte der Arche Noah, die auf einem hohen Berg gebaut wurde, um Noahs Familie und je ein Paar aus der Tier- und Pflanzenwelt vor der Regenflut zu retten. Wir bauen unsere kleine Arche in Neukölln, dem Multikultibezirk Berlins, der 2006 durch die Skandale an der dort ansässigen Rütli-Schule weit über die Stadt hinaus bekannt wurde. Heute heißt die ehemalige Hauptschule Campus Rütli; sie ist die erste Gemeinschaftsschule Berlins mit künstlerischen Vorzeigeprojekten und prominenter Unterstützung. Sie liegt im sogenannten Reuterkiez von Neukölln, der an den Szenebezirk Kreuzberg anschließt und inzwischen selbst zum Anziehungspunkt für junge Kreative aus aller Welt geworden ist. Das verändert auch alte Strukturen und treibt die Mieten in die Höhe – die Gentrifizierung hat auch »Kreuzkölln« erreicht. Dort, im Bezirk »Anderswo« – so heißt es tatsächlich im Programm des Kunst- und Kulturfestivals »48 Stunden Neukölln«, das dieses Jahr unter dem Motto »Endstation Paradies« steht – wollen wir eine künstliche Insel bauen, ein schwimmendes Biotop. Als alteingesessene Westberlinerin hatte ich nie einen Bezug zu Neukölln. Da wohnte man einfach nicht, da war nichts los, die Kultur beschränkte sich auf verräucherte Alt-Berliner Eckkneipen und Fußball. Umso erstaunter bin ich, als ich nach jahrelanger Abstinenz hier auftauche und feststellen muss, dass mein alter Westberliner Blick obsolet geworden ist. Der beste Beweis dafür ist das Kiezfest »48 Stunden Neukölln«, das sich seit 1999 zu einem stadtweit wahrgenommenen Kunst- und Kulturfestival gemausert hat. Kunstschaffende öffnen ihre Ateliers, und Kreative aus aller Welt laden in ihre Werkstätten ein, veranstalten Feste in Höfen, in Straßen unter grünen Bäumen oder entlang des Landwehrkanals, der Kreuzberg und Neukölln verbindet. Auch Künstler aus anderen Berliner Kiezen sind willkommen und gelten für 48 Stunden als Neuköllner.
Asap-Islands – Inseln der Hoffnung Der Künstler Joy Lohmann ist aus Hannover gekommen, um hier mit einigen alten und neuen Freunden eine Garteninsel zu bauen. »Asap-Island« nennt er sein Projekt, mit dem er auf die globalen ökologischen Herausforderungen aufmerksam machen will, und zwar »As Soon As Possible« – so schnell wie möglich. Der Anstieg des Meeresspiegels ist schon jetzt eine akzeptierte Grundannahme; selbst wenn der CO2-Ausstoß ab sofort drastisch eingeschränkt würde, wäre er nicht zu verhindern. Joy hat die Vision, wie künstliche Inseln, bewohnbare Habitate entwickelt werden könnten. Als Künstler stellt er hauptsächlich Fragen: Brauchen wir vielleicht Rettungsinseln im Mittelmeer, »Marikulturen«, neue Anbauflächen fürs Nildelta, Katastrophenschutz in New Orleans – und wann schwimmen die Niederlande? Im Jahr 2000, parallel zur Weltausstellung auf dem Maschsee, schwamm in Hannover sein »Future Raft«, ein Floß aus recyceltem Material, hauptsächlich alten Autoreifen und Plastikflaschen. Damals hatte ich Joy kennengelernt und zusammen mit Heiner Benking auf dem 70 Quadratmeter großen Recyclingfloß mehrere »Magic Roundtable«-Gespräche mit internationalen Gästen moderiert. Das Future Raft wurde zum Symbol für den notwendigen Bewusstseinswandel in Kultur und Gesellschaft, auch im Hinblick auf den Wohlstandsmüll, der sich in den Weltmeeren zu gewaltigen Plastikwirbeln formiert, die das maritime Umfeld, Tier und Mensch gefährden und vergiften. Man stelle sich vor: Daraus könnte man eine Insel von der Größe Dänemarks bauen! Seit 1997 arbeitet Joy mit dem Verein Positive Nett-Works (PNW), einer kreativen Gemeinschaft interdisziplinärer und visionärer Künstler und Netzwerker. In diesem Juni lädt der Verein dazu ein, in Neukölln an der Paradiesgestaltung mitzuwirken. Samstag früh stehen wir im Regen. Die Wiesen des Wildenbruchparks gleich am Weigandufer, wo wir am Abend zuvor schon alte Autoreifen, Plastikflaschen und andere Utensilien aufgehäuft haben, sind aufgeweicht. Am Vorabend hatte ich noch, verwöhnt vom frühsommerlichen Wetter, bei einem ersten Rundgang durch das Viertel viele künstlerische Interventionen entdeckt. An der steinernen Treppe zum Kanal hatte sich ein Künstler mit asiatischem Gesichtsschnitt niedergelassen. Ein halber Laib Brot neben einem Lammeintopf lag noch auf einem hölzernen Tisch; da saßen rauchend einige Alt-Neuköllner, während der Künstler am Boden saß und malte. Neben ihm stand sein Bett mit einem schneeweißen Plumeau, darüber ein sternklarer Himmel. Als der Regen nachts an die Scheiben prasselte, lag ich in meinen trockenen Decken und dachte an das schöne Bett am Kanal. Samstag morgens liegt dort nur noch nasses Papier. Doch Joy, der die Nacht in seinem Bus verbracht hat, ist pünktlich zur Stelle, auch der Neu-Neuköllner Johannes mit seiner Frau Sydney und Tochter Lolita, Heiner und andere Unverdrossene trotzen dem Regen. Alte Autoreifen werden übereinandergestapelt und mit Plastikflaschen dichtgestopft. Abgedeckt wird das Ganze mit der Speichenfelge eines Fahrrads, die einzelnen Reifentürme werden mit Holzlatten verbunden und mit Seilen aneinandergezurrt. Schon ist die Grundkonstruktion fertig. Darüber wird eine Plastikplane und als nächste Lage eine alte Gardine getackert. Lange Filzstreifen werden zugeschnitten, die später das Wasser für die Pflanzen durch ihre Kapillarwirkung nach oben ziehen. Einfacher geht’s nicht!
Träume auf Inseln und fliegenden Teppichen Joys Installationen erregen nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern werden sogleich von Enten, Fischen und Insekten besiedelt. Inzwischen ist er weltweit bekannt. Zur Jahreswende 2012 entstand in Goa, Indien, ein künstliches Habitat. Vor dem Neuköllner Festival hatte Joy eine Bauanleitung ins Internet gestellt und dazu aufgerufen, auch an anderen Orten zur gleichen Zeit künstliche Garteninseln zu bauen. Für Sonntagmorgen ist eine Online-Konferenz angesetzt, um international Erfahrungen auszutauschen. Wir sehen erste Fotos von anderen Inseln aus Asien, Amerika und europäischen Ländern; der ursprüngliche Bauplan wurde vielfach variiert und fantasievoll umgestaltet. Mittags scheint wieder die Sonne, und der Wildenbruchpark bevölkert sich mit neugierigen Menschen. Einige lassen sich auf dem orientalischen Teppich nieder, den Heiner auf der Wiese entrollt: »Träume auf dem fliegenden Teppich« lautet das heutige Motto für das Rundgespräch auf dem »Magic Carpet«. Gleich daneben steht ein Himmelbett, mitgebracht von Margit. Ihr verstorbener Mann hat diese Betten entworfen, die nach einem Steckprinzip auf öffentlichen Plätzen wie die Wagenburgen der ziehenden Völker im Kreis zu einem Festplatz aufgestellt werden können. Johannes berichtet von Häusern, die in Mexiko aus recyceltem Material gebaut werden. Im August will er den Bau eines solchen »Earthships« filmisch dokumentieren. Joy erzählt von seinem neuen Projekt eines Online-Campus »Sealand Multiversity«: Auf einer Stahlbeton-Militärplattform aus dem zweiten Weltkrieg vor der englischen Kanalküste soll ein Fokus für eine supranationale Gemeinschaft entstehen, für innovative Zukunftsprojekte, Technologien- und Lebensweisen. Aigul hat schon Ideen für Zukunftsinseln in Kirgisien, und die kleine Liha will fliegen und entwirft in ihrer Fantasie ein Kleid mit Flügeln. Es schwirrt nur so von kreativen Ideen. Am späten Nachmittag verfrachten wir unsere Insel vor das benachbarte Café Ohr, um sie dort zu bepflanzen und in dessen Obhut zu geben, bis sie in einigen Wochen im Nachbarbezirk Wedding in einem Nebenarm der Panke zu Wasser gelassen wird. Abends gibt es dann doch wieder Fußball in Neukölln – denn fußballbegeistert ist der Bezirk immer noch – im Einklang mit allen Berlinern, Deutschen und Europäern. Doch während die Fans, neben der bepflanzten Garteninsel sitzend, dem Fußballfieber verfallen, schleicht sich eine kleine verschworene Truppe in den jetzt menschenleeren Wildenbruchpark. Joy hat weiteres Recycling-Material dabei – ehemalige Drachensegel für Containerschiffe, die er in aufblasbare, temporäre Architekturen verwandeln möchte. Gemeinsam werden nun riesige Überdruckschläuche aufgepumpt und mit den hauchdünn-reißfesten Segelstoffen kombiniert. Nach vielen Versuchen gelingt es endlich, eine Art Zelt aufzustellen, das wie ein großes, weißes Segel zwischen den grünen Bäumen des Parks schimmert. Jetzt wird es auch endlich dunkel, und der Fotograf und Videokünstler Dietmar Korth baut seine mitgebrachten Utensilien auf, mit denen er wunderschöne grüne, rote und violette Muster auf das weiße Segel zaubert. Mal liege ich unter dem Zeltdach und wähne mich auf einem Ozean der Träume, mal tanze ich draußen im Strahl des Projektors und werfe Formen auf das fünf Meter hohe Segel. Als ich um Mitternacht mit der Filmemacherin Jakobine, die im Rollstuhl die hohen Bordsteinkanten überwindet, durch das nächtliche Neukölln ziehe, fühlen wir uns immer noch wie in einem verwunschenen Märchen. Von arabischen und türkischen Prinzen umgeben, genießen wir unser Nachtmahl – Falafel mit Salat – in einem Straßenimbiss. Was für wundervolle Biotope kreativer Ideen können Städte sein: Ein Öffnen des öffentlichen Raums reicht, um all diese Fantasiepflanzen zum Blühen zu bringen. Wie schön war Berlin in diesen 48 Stunden!
Farah Lenser (59) ist Sozialwissenschaftlerin und als freie Journalistin und Lektorin in Berlin tätig. Ihr Schwerpunkt als Moderatorin ist die Wiederbelebung der Gesprächskultur. www.open-forum.de, www.p-n-w.net