Titelthema

Wir machen Leipzig essbar

Anke Plehn sprach mit Stefan Kurzawski von den Leipziger »Stadtpflanzern« und Jakob Ottilinger vom offenen Garten »­Annalinde«.von Anke Plehn, Stefan Kurzawski, Jakob Ottilinger, erschienen in Ausgabe #16/2012
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© Anke Plehn

Anke Plehn Stefan und Jakob, ihr seid beide als Gärtner in unterschiedlichen Projekten aktiv, obwohl ihr einen anderen Beruf gelernt habt. Wie kam es dazu?
Jakob Ottilinger Ich habe in Leipzig Kultur- und Medienpädagogik studiert und wusste danach nicht so recht, was ich wollte, was mir wichtig ist und mir Freude macht. Vorher war ich bereits ein Jahr im Garten- und Landschaftsbau beschäftigt und habe außerdem als Koch in einer Kita und beim Film gearbeitet.

Stefan Kurzawski Ich habe nach der Schule in der damaligen DDR eine Ausbildung zum Elektrotechniker gemacht. Infolge der Wende wurde der Betrieb geschlossen, und ich begann eine Ausbildung zum Polizeibeamten. Nach acht Berufsjahren bei der Polizei studierte ich Informatik und war an vielen Onlineprojekten beteiligt.

JO Nach dem Studium habe ich mich gefragt: Und was nun? Ich habe viele Interessen, doch irgendwann geriet ich in eine Sinnkrise. Im Herbst 2010 traf ich dann auf Dominik Renner, er ist Sozialpädagoge. Gemeinsam haben wir überlegt, was uns wichtig ist. Wir wollten einerseits unsere Fähigkeiten aus dem Studium einbringen und andererseits etwas Greifbares schaffen. Ein geeignetes Medium für sinnvolle Bildungsarbeit sahen wir in der Verbindung von Gärtnern, Workshops und Kunstpro­jekten.

SK Mein Leben war nach acht Jahren ­Beamtentum völlig eingefahren. Ich stellte mir vor, dass das nun bis zum Ende meiner Laufbahn so bleiben würde, und dieser Gedanke war so erschreckend, dass ich gekündigt habe. Es war mir schon immer wichtig, mein Leben selbst zu bestimmen. Mit der Sicherheit, die mir als Beamter geboten wurde, war ich bequem geworden und fremdbestimmt, auch im Denken.

AP Jakob, du hast dann mit Dominik Renner und anderen den Garten »Annalinde« als soziale, urbane Landwirtschaft gegründet. Was waren eure ersten Schritte auf dem Weg in die Realisierung?

JO Anfangs haben wir uns mit Vereinen und Institutionen vernetzt, die in dieser Richtung schon aktiv waren, beispielsweise mit der Initiative »Bürger Bahnhof Plagwitz«, mit Kulturschaffenden und Nachbarschaftsgärten. Dann haben wir nach geeigneten Flächen gesucht und vor einem Jahr mit der Stadt den Vertrag für die Zwischennutzung eines Geländes in Leipzig Plagwitz abschließen können.

AP Einjahresverträge, wenn auch mit der Option auf jährliche Verlängerung – verhindern sie nicht die gewünschte Nachhaltigkeit der Projekte?

JO Doch, sehr. Weil die Zukunft von »Annalinde« ungewiss ist, pflanzen wir alles in Holzkisten und Kartoffelsäcke. Angefangen haben wir mit Bäckerkisten. Der Garten hat sich schnell gefüllt. Inzwischen platzen wir aus allen Nähten und suchen Erweiterungsflächen, die auch längerfristig genutzt werden können.

AP Stefan, du gründest gerade den Verein »Stadtpflanzer«, der möglichst vielen Bewohnerinnen und Bewohnern von Leipzig zeigen will, wie durch Gärten, die auch der Selbstversorgung dienen, das eigene Umfeld aufgewertet werden kann. Wie habt ihr angefangen?

SK Die Idee hatte ich schon lange. Irgendwann habe ich Freunde angesprochen, die sie mitgestalten wollten. Seit ich die Inter­netseite »Stadtpflanzer« online gestellt habe, sind viele Kontakte entstanden. Schon bald kam das Quartiersmanagement mit der Frage auf uns zu, ob wir entlang einer wenig attraktiven Straße Gemüse pflanzen könnten. Das brachte mich auf die Idee, dass vielleicht auch bei Wohnungsgesellschaften und Wohngemeinschaften entsprechender Bedarf besteht – wir könnten ja die Innenhöfe der Stadt in Gemüsebeete verwandeln. So entstand der Plan, unterschiedliche Module für die urbane Landwirtschaft anzubieten: Hochbeetkisten, Bienenkästen, Hühnerställe, Lehmbacköfen, eine transportable Kräuterspirale und noch andere Ideen, die teilweise bereits auf dem Weg der Realisierung sind.
Es ist uns ein besonderes Anliegen, soziale Wirkung zu erzielen. An unserer Arbeit beteiligen sich zum Beispiel straffällig gewordene Jugendliche, es wird Holz wiederverwendet, Wissen weitergegeben und manchmal auch ein Gesamtkonzept zur Selbstversorgung in Wohnhöfen erstellt und betreut. Wir sehen uns als Initialzünder für Menschen, die Interesse an Gartenarbeit, einem gesunden Wohnumfeld und einer sinnvollen Aufgabe haben, aber alleine noch nicht aktiv werden. Damit sie auf uns aufmerksam werden, ist auch Öffentlichkeitsarbeit notwendig.

AP Du hast ja auch Erfahrungen im Bereich Marketing gesammelt …

SK Ja, in meiner Vergangenheit habe ich oft Firmen bei ihrer strategischen Ausrichtung im Bereich Onlinemarketing beraten.

AP Im Vergleich zu dieser Zeit hast du jetzt mit deiner Arbeit bei den »Stadtpflanzern« vermutlich ein weit geringeres Einkommen.

SK Ja, im Moment habe ich nur einen 400-Euro-Job. Aber das Projekt ist mir einfach zu wichtig, als dass es am Geld scheitern dürfte. Es ist geplant, dass hier eine ganze Reihe von Arbeitsplätzen entstehen, die vom Verein »Stadtpflanzer i. G.« getragen werden. Wir akquirieren derzeit Fördermittel und bitten um Spenden.

AP Jakob, du hast erzählt, dass du 80 Prozent deiner Lebenszeit im Garten »Annalinde« verbringst, also Vollzeit hier arbeitest. Wovon lebst du?

JO Das ist schon eine prekäre Situation, in der ich lebe. Doch mit der Aussicht auf eine Selbständigkeit nehmen sie alle Beteiligten in Kauf.

AP Und wie finanzieren sich die anderen Stadtpflanzer?

SK Das ist ganz unterschiedlich. Die einen sind in ihren jeweiligen Berufen selbständig und nehmen sich viel Zeit für die Arbeit bei den »Stadtpflanzern«, weil ihnen dieses Projekt so wichtig ist. Für andere, die im normalen Berufsleben stehen, ist das Gärtnern reine Freizeit nach Feierabend. Ich bin anspruchslos und komme mit sehr wenig aus.

AP Wenn alles so eng kalkuliert ist, woher kommt dann bei euch im Garten das Geld für Holz, für Pflanz- und Saatgut, für Erde, für Wasser, Strom usw.?

JO Inzwischen haben wir eine Förderung aus dem EU-Programm »Jugend in Aktion« und von der Stiftungsgemeinschaft »anstiftung & ertomis«, die im Juni auch einen Terra-Preta-Workshop mit Jürgen Reckin finanziert hat, der breiten Zuspruch fand. Unabhängig davon freuen wir uns über jede Unterstützung, Spenden und freiwilliges Tun. Wir sind als eigenständiges Projekt beim »Ökolöwen e. V.« Leipzig angebunden. Damit kann gegen Quittung für »Annalinde« gespendet werden. Außerdem haben wir einen Wettbewerb zum Thema »nachhaltige Projekte« gewonnen.

SK Was die wirtschaftliche Zukunft der »Stadtpflanzer« betrifft, bin ich zuversichtlich. Wohngenossenschaften und -gemeinschaften werden den Nutzen unserer Arbeit mit der Zeit mehr und mehr erkennen. Gartenarbeit stärkt den Zusammenhalt, die Mieterfluktuation sinkt, Verwaltungskosten können gespart werden, die Mieter entwickeln ein anderes Verantwortungsbewusstsein, was den Gebäuden und den Anlagen dient. Und, nicht zu unterschätzen, die Vermieter können sich in der Öffentlichkeit mit einem anderen Image präsentieren.

AP Jakob, wenn ihr Workshops und andere Bildungsveranstaltungen organisiert – was wollt ihr damit bewirken, gerade im Hinblick auf eine lebenswerte Stadt?

JO Uns geht es auch um ein Umdenken in der Gestaltung von öffentlichem Raum. Das Stichwort hier ist Partizipation. Zukünftige Stadtentwicklung ist für uns ökologisch, sozial und gibt die Möglichkeit, daran teilzuhaben: Räume zu schaffen, die dem Gemeinwohl dienen, die Menschen wieder zusammenzuführen. Das ist es ja, was urbane Landwirtschaft bewirken kann.

AP Warum findet ihr gerade beim Gärtnern eure Erfüllung?

JO Ein Bewusstsein für Gesundheit und gesunde Ernährung haben mir meine ­Eltern mitgegeben. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Das Studium in der Stadt war eine Herausforderung für mich. Ich brauche die Verbindung zur Natur, frische Luft, Arbeit mit den Händen. Ich will beobachten, was da wächst. In der Erde wühlen tut so gut. Gleichzeitig erfüllt mich der Wunsch, dass Stadt und Lebensmittelversorgung in Zukunft anders aussehen als heute. Aber auch das Zusammensein mit Freunden und Gleichgesinnten ist mir wichtig – und dass Kunst in unser Projekt einfließen kann. Einige Videokünstler tragen zum Beispiel unsere Ideen nach außen in die Öffentlichkeit. Sie sehen sich als Sprachrohr dessen, was hier durch uns geschieht.

SK Auch ich bin in der Natur groß geworden, in einer heilen, grünen Welt. Mir konnte nie abgewöhnt werden, dass ich alles über mein Gefühl wahrnehme. Noch heute treffe ich Entscheidungen nur, wenn das Bauchgefühl stimmt. Städte nehme ich über die Menschen wahr, denen ich begegne, die ich beobachte und deren Stimmung ich fühle. Das Gebaute blende ich eher aus; die Stadt ist für mich ein grauer Betonmoloch. Aber ich schaue die Menschen gerne an, beobachte, wie sie sich verhalten und welche Ausstrahlung sie haben. Viele von ihnen sind genau wie die Stadt: grau und trist. Ich möchte viel öfter Menschen begegnen, die fröhlich, offen und authentisch sind, möchte Wege aufzeigen, wie sie mit Freude wieder etwas Sinnvolles tun und mit Erde und Pflanzen in Verbindung kommen können.

AP Ja, ihre Sinne ansprechen, hören, sehen, fühlen, riechen, schmecken …

SK … Wassergeplätscher, Vögel, Bienen, Pflanzen, Blüten, Honig, Kräuter – das alles erlebbar zu machen, ist mein Ziel. Nicht das Stadtgrün an sich. Ich selbst wünsche mir Verbundenheit mit Menschen, die sich freiwillig auf den Weg machen und bereit sind, für sich Verantwortung zu übernehmen.

AP Gab es Unterstützung oder eher Unverständnis in eurer Familie und im Freundeskreis, als ihr den von der Gesellschaft vorgegebenen Weg verlassen habt? Wie seid ihr damit umgegangen?

SK Da gab es schon Unverständnis, aber auch vorsichtiges Interesse. Am Ende wurde mir aber bewusst, dass es mein Leben ist und dass ich die Verantwortung dafür trage, wie es mir geht und wie ich mich fühle. Manchmal muss man Dinge auch loslassen können.

AP Bei euch beiden spüre ich ein starkes Interesse am Forschen, einen Wissensdrang. Wie stellt ihr euch die Stadt der Zukunft vor?

SK Wie sich eine in jeder Hinsicht lebenswerte Stadt gestalten ließe, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ein Erlebnis fällt mir dazu ein: Als ich das erste Mal in eine Stadt in den alten Bundesländern kam, war ich entsetzt. Moderne Architektur, alles erschien monoton, kalt und steril. Beton, Glas, breite Straßen überall, keine Identität, kein Leben, nichts Interessantes, alles war auch laut und marktschreierisch. Ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn das unsere Zukunft ist, wie wollen wir da leben? Abgelenkt von so vielen Reizen, war ich dann froh, wieder zurück in Leipzig zu sein. Dieses Erlebnis motiviert mich und macht mir bewusst, dass es noch viele Aktionen braucht, wenn sich die Entwicklung von Städten grundlegend ändern soll.

JO Der Glaube an etwas Positives hat schon Suchtpotenzial. Wenn man einmal erlebt hat, dass man etwas bewirken kann, lässt es einen nicht mehr los. Ich bin nicht der Meinung, dass die Veränderung von oben kommt, etwa durch einen politischen Wechsel, selbst wenn sich nicht nur die Personen, sondern das gesamte System ändern. Deshalb versuchen wir, die heutigen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, und drängen uns den Leuten nicht auf. Wir versuchen, ihnen ein anderes Leben schmackhaft zu machen – dann wächst von unten Neues und verändert die Städte.

AP Was mir sehr gefällt, ist eure Kooperationsbereitschaft. Wie soll es denn weitergehen? Stefan, du sprachst von einem geplanten Projekt mit immerhin 500 Mietern. Das braucht Zeit, Geld und Professionalität – wäre das ein gemeinsames Projekt für euch?

SK Natürlich geht so etwas nur gemeinsam. Eigene Interessen müssen sich dabei meiner Meinung nach in den gesamten Prozess einfügen. Jeder mit seinen Fähigkeiten und in seiner Geschwindigkeit. Anders funktionieren diese Projekte nicht. Das Geld hoffen wir durch Spenden und Förderung zu erhalten. Ein konkretes gemeinsames Projekt von »Annalinde« und den »Stadtpflanzern« gibt es noch nicht, auch das braucht Zeit und Gelegenheit. Derzeit werden wir mit Pflanzgut für unsere Kisten von Annalinde unterstützt.

AP Dann freuen wir uns auf eine inspirierende Zusammenarbeit. Vielen Dank! 


Stefan Kurzawski (40) lebt in Leipzig und arbeitet neben seiner Tätigkeit bei den »Stadtpflanzern« als Informatiker. Er ist im Vorstand des sich gerade gründenden Vereins »Stadtpflanzer«.

Jakob Ottilinger (26) ist Mitbegründer der ­Ini­tiative für zeitgenössische Stadtentwicklung in Leipzig und engagiert sich seit Ende 2010 für eine grüne, partizipative und nachhaltige Stadt.

Anke Plehn (53) lebt und arbeitet als Baubio­login, Perma-Architektin und Mediatorin in Leipzig. Sie ist Mitglied bei den »Stadtpflanzern«.

Leipziger Allerlei im Netz
Offener Garten »Annalinde«: www.ifzs.de
Netzwerk der »Stadtpflanzer«: www.stadtpflanzer.de

 

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