Über den verdrängten Krieg und seine traumatischen Folgen.von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #17/2012
Sie leben unter uns, doch sie haben etwas erlebt, was nicht in unser ziviles Leben passt: Krieg. An den Auslandseinsätzen der letzten 20 Jahre waren mehr als 300 000 deutsche Soldaten beteiligt, davon 21 378 allein im vergangenen Jahr. Diese Soldaten leben in unserer gefühlt »pazifistischen Gesellschaft« wie in einer Parallelwelt; sie sind allein mit den grausamen Bildern in ihrem Kopf, und oft genug finden sie keinen Weg mehr hinaus. Wenn das passiert, spricht man von »posttraumatischer Belastungsstörung« (PTBS). Unser kuschelig-friedlicher Wohlstand hat einige Leichen im Keller. Hat also Bundespräsident Joachim Gauck recht, wenn er von uns »mehr Respekt und moralische Unterstützung« für die deutschen Soldaten fordert? Er stelle eine Tendenz zum »Nicht-Wissen-Wollen« fest, sagt Gauck. »Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.« Gewalt könne aber »notwendig und sinnvoll sein, um ihrerseits Gewalt zu überwinden«. Soldaten seien »Mutbürger in Uniform«. Das klingt human – und hat einen inhumanen Preis. PTBS tritt oft erst Monate nach dem Einsatz auf und bedeutet unter anderem Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Alpträume, Aggressivität, Panikattacken, Schuld- und Schamgefühle. Die Zahl der traumatisierten Bundeswehrsoldaten ist im vergangenen Jahr um 26 Prozent gestiegen. Von den 922 erkrankten Soldaten waren 759 in Afghanistan im Einsatz, war auf »ZEIT online« am 19. Januar 2012 zu lesen. Höre ich Berichte von Soldaten, überfallen mich widerstreitende Gefühle – aber kann ich mit ihnen ohne entsprechende Erfahrung wirklich mitfühlen? Die folgende Erzählung beginnt mit einer Explosion an einem Checkpoint: »Der Bus flog an mir vorbei mit den Personen, grausam, absolut grausam, und das waren alles gestandene Männer, Soldaten da drinnen, die geschrien haben wie Katzen, wie Kinder, das kriegt man nie wieder aus dem Kopf raus, nie wieder … Hätte ich nie gedacht, dass die Psyche einen Menschen so beeinflussen kann, wie sie mich in meiner jetzigen Situation beeinflusst hat … Man zieht sich von der Ehefrau zurück, man kann nicht mehr, man weiß nicht warum. Ich hab mir jetzt da eine Zeitlang einen Kopf gemacht, warum reagiert man so, keiner weiß es. Ich bin bei mir in den Keller gezogen und wollte, dass mich alle in Ruhe lassen.« Gehört im Deutschlandradio am 7. September 2011. Oberst Peter Zimmermann, leitender Psychiater am Traumazentrum der Bundeswehr in Berlin, schreibt: »Ich höre immer wieder von Soldaten, die sagen: Wir kommen hier nach Hause, und keiner interessiert sich für uns. Je mehr eine Gesellschaft hinter ihren Soldaten steht, desto besser wird es ihnen gehen – auch psychisch. Viele junge Leute gehen aus Idealismus dort runter und wollen etwas für ihr Land tun. Das sollte man wertschätzen – egal, ob dieser Krieg richtig ist oder nicht.« Egal? Ist es der Psyche etwa egal, ob sie Richtiges oder Falsches tut? Ohne eine Rechtfertigung des Kriegs ist ein Soldat bloß ein Mörder. Er braucht das Gefühl, zu »den Guten« zu gehören. In den Vorher-nachher-Interviews von Herlinde Koelbl mit Soldaten über ihre Erfahrungen in Afghanistan lautet der Tenor: »Wir haben in diesem halben Jahr mehr kaputtgemacht, als wir gutgemacht haben.« Und fast alle erzählen von dem Verlust ihrer Liebesbeziehungen: »Meine Freundin sagt immer, du wirst so schnell laut. Aber das muss man ja, wenn man im Feuergefecht steht … Wenn Fahrzeuge mit Kameraden in die Luft gesprengt werden, kann ich damit professionell umgehen. Aber dass auf einmal jemand sagt, ich liebe dich nicht mehr, hat mir alles unter den Füßen weggerissen. Meine größte Angst ist nicht, dass ich sterben könnte, sondern dass es nochmal so ist: Ich komme zurück, und meine Freundin ist weg. Weil ich mich vielleicht verändert habe, und sie sagt, du bist nicht mehr dieselbe Person.« Gefunden im »ZEITmagazin« vom 1. Dezember 2011. Viele Soldaten versuchen, mit ihren Traumata allein fertigzuwerden, doch immer mehr Selbsthilfe-Netzwerke entstehen, und auch die Bundeswehr begleitet die Soldaten mit Vorbereitung durch autogenes Training, Stressbewältigung oder Reintegrationsseminaren. Doch sind Kriegserfahrungen überhaupt therapierbar? Wie soll die Seele vor der Realität eines Kriegs gerettet werden, ohne den Krieg zu verändern? Der Verein »Ärzte in sozialer Verantwortung« befürchtet, dass die Zahl traumatisierter Soldaten in Afghanistan weiterhin steigen wird. »Wir setzen Menschen unmenschlichen Situationen aus, in denen sie im Extremfall selbst unmenschlich werden, und medikalisieren anschließend das Problem«, sagt die Vorsitzende, Angelika Claußen. Anne Pilot sorgt bei »Ärzte ohne Grenzen« für die seelische Gesundheit der humanitären Helfer in Krisengebieten. Sie betont, dass es nicht die Situation, sondern der Einsatz und seine innere Motivation sei, der auf die Seele wirke. In »Psychologie heute« sagt sie im Juni 2012: »Unsere Arbeit kann man nicht mit dem Job von Soldaten vergleichen, die vielleicht in ähnlichen Gebieten stationiert sind – sie haben ganz andere Aufgaben und ein anderes Selbstverständnis. Das klingt jetzt vielleicht paradox, aber viele unserer Mitarbeiter haben nach ihrem Einsatz sogar Hochgefühle und empfinden eine große Befriedigung – weil das von ihnen Geleistete, die Hilfe für die Einheimischen, sehr konkret und fassbar ist.«
Das Trauma des Täters Das Trauma der Soldaten hat also offenbar etwas mit seiner Tat zu tun: Es ist das Trauma des Täters. Wie er die Frage beantwortet, ob die Gewalt gerechtfertigt ist oder nicht, hat unmittelbare Auswirkungen auf seine Seele. Sie entscheidet, ob er ein »Mutbürger« oder ein »Mörder in Uniform« ist. Die Traumata der Weltkriege sind zwar immer noch wirksam, aber die Konfrontation mit dem Trauma einer nächsten Tätergeneration hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft bisher vermeiden können. Bundespräsident Gauck hat uns vor einem wegschauenden Pazifismus gewarnt: »›Ohne uns‹ als purer Reflex kann keine Haltung sein, wenn wir unsere Geschichte ernstnehmen.« Aber was ist heute mit dem Soldaten, der auf Befehl töten muss und der seinen Befehl als nicht legitim empfindet; der Kriegsverbrechen passiv geschehen ließ oder selbst beging; der Unschuldige sterben sah? Eine höchstrichterliche Entscheidung verbietet es deutschen Soldaten, Befehle auszuführen, die der Menschenwürde widersprechen: »Jeder Befehl, der gegeben wird, muss im Licht der Menschenrechte interpretiert werden von jedem Soldaten und muss eventuell verweigert werden, wenn er den Menschenrechten widerspricht«, sagt das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2005. In der Zentrale für ethische Ausbildung in den Streitkräften (ZETHA) in Koblenz lehrt Stefan Jurkiewicz als evangelischer Militärdekan: »Wichtig bei der Ethik für Soldaten ist, dass wir die Soldaten befähigen, Entscheidungen zu treffen in unübersichtlichen, schwer strukturierten Entscheidungssituationen, damit sie mit der Entscheidung leben können.« Der sogenannte Koblenzer Entscheidungs-Check ist eine Methode, bei der Soldaten in kritischen Situationen folgende Fragen beantworten sollen: »Erste Frage: Würde ich das tun, wenn eine Kamera laufen würde? Zweite Frage: Würde ich, was ich jetzt tue, meinen engsten Familienangehörigen erzählen? Dritte Frage: Würde ich gern haben, dass mir das widerfährt, was ich jetzt tue? Letzte Frage, der kategorische Imperativ: Könnte die Grundlage, die hinter meiner Entscheidung steht, zur Grundlage des allgemeinen Rechtssystems werden?« Das sind überraschend radikale Fragen. Sie wären auch ein Schutz gegen Traumatisierung durch verantwortungslose Taten. Wie würde eine Armee aussehen, die diese Fragen beantworten kann, deren Soldaten in jedem Moment einem ethischen Kompass folgen würden? Kann es eine gut ausgebildete und legitimierte »Friedenstruppe« geben, die ihre gewaltfreien und gewaltbereiten Werkzeuge – und vor allem sich selbst und ihre Ziele – kennt? Eine Armee von »Mutbürgern«, jenseits von verantwortungsfreiem Pazifismus und verantwortungslosem Krieg? Es erscheint aus heutiger Sicht wie eine unlösbare Aufgabe. Dennoch brauchen wir, solange es noch Armeen gibt, jeden Schritt hin zu einer Kultur der Zivilcourage und der ethischen Ausbildung in der Armee. Vor allem brauchen wir neben allen notwendigen Debatten über Kriegseinsätze auch die Stimmen der Soldaten in der Öffentlichkeit – ihre Wahrheit über den Krieg und seine Folgen für die Seele.
Empathienachhilfe für Friedliebende www.angriff-auf-die-seele.de Literatur: Leah Wizelman: Wenn der Krieg nicht endet: Schicksale von traumatisierten Soldaten und ihren Angehörigen. Balance Buch + Medien Verlag, 2009