Drei Wochen internationales Gemeinschaftsleben.von Lea Gathen, erschienen in Ausgabe #17/2012
Mit betonter Lässigkeit schichtet Wladimir aus Weißrussland Steine übereinander. Aus den Ohrstöpseln seines MP3-Players dringen die gedämpften Klänge russischen Hip-Hops. Von rechts und links reichen ihm Jakob und Sascha Steine an, ein stiller Fluss aus Geben und Nehmen. Eine gemeinsame Muttersprache haben die Jugendlichen nicht. Ein paar Meter weiter arbeiten Moussa und Zatek entlang der Mauer. Die Augustsonne brennt und heizt die Steine auf. Während Moussa am Boden kniet, hält Zatek einen Sonnenschirm über ihn. Vor acht Tagen reisten die beiden Freunde aus Aserbaidschan nach Deutschland, in das mittelfränkische Städtchen Georgensgmünd. Sie sind zwei von fünfzehn jungen Menschen aus sechs Ländern, die in diesem Sommer am Workcamp der Hämmerleinsmühle teilnehmen. Drei Wochen zusammen leben und arbeiten, drei Wochen zusammen schlafen und essen.
Das Leben als Werkstatt begreifen Mit jedem Stein, den Wladi aufsetzt, mit jeder Lücke, die Moussa füllt, wächst die Mauer. »Look!« Vor Zateks Augen schiebt Dieter Schröbel, der die jungen Menschen anleitet, einen Brocken nach seinen Vorstellungen zurecht. Er spricht mit den Händen, wo Englisch versagt. Über mehrere Ecken windet sich ein Band aus liebevoll gestapelten Pflastersteinen, Dachziegeln und Betonröhren den Hang hinauf und säumt die Wege entlang der Kräuterbeete. Den Bauschutt schenkte eine Firma aus dem Ort. »Kunst ist Gestalten mit dem, was ist«, meint Dieter Schröbel, und seine Augen blitzen. Er arbeitete als Drucker, studierte Sozialpädagogik und wurde Künstler, bevor er begann, hier zu arbeiten. Die Hämmerleinsmühle ist einer von siebzig Orten für Umweltbildung in Bayern, sogenannten Umweltstationen. »Kräuter und Gewürze aus aller Welt« lautet das Jahresmotto für 2012, unter dem auch das Workcamp steht. Die alte Kräutermauer neu zu gestalten, ist eines der Projekte, mit dem sich die jungen Menschen beschäftigen. Vertrocknete Büsche und wucherndes Kraut haben sie in den letzten Tagen herausgerissen. Bis nichts mehr blieb außer Thymian, Bohnenkraut und einer Erdwüste. Oben am Hang aber steht jetzt der Neuanfang, Topf an Topf. Doris Hautum, die als pädagogische Mitarbeiterin das Camp betreut, steht neben den Pflanzen, hebt eine nach der anderen hoch und teilt ihr Wissen. Katya, Romina und Katharina hören zu, probieren Borretschblätter, zerreiben Johanniskraut zwischen den Fingern und streichen über den weichen Flaum des Frauenmantelkrauts. Später werden die jungen Frauen die einzelnen Pflanzen an Orten in die Erde setzen, wo sie Licht und Boden so vorfinden, wie sie es brauchen. »Werkstatt für Ökologie und soziale Arbeit« nennt sich die Hämmerleinsmühle. »Wir möchten theoretische Inhalte mit praktischem Tun und sinnlichem Erleben verbinden«, erzählt Doris. Mit Kindergruppen köchelt sie Suppen aus frisch gepflückten Wildkräutern über dem offenen Feuer oder erzählt Geschichten von der Hexe Herba. Andere Referenten bieten Workshops an, in denen Möbel aus Naturholz oder Taschen aus Filz gestaltet werden. Die Sonne hat mittlerweile ihren höchsten Stand erreicht. Kein Problem für Oskar, der sonst in der Hitze Spaniens lebt. Er arbeitet diese Woche mit Schreinermeister Stefan Fuchs und schiebt gerade mit konzentriertem Blick Holzbretter über das rotierende Blatt der Standsäge. Holzstaub flimmert, die Säge röhrt. Gemeinsam werden sie die Bretter zu einem kleinen Wagen zusammenfügen. Suppen- und Kräutertöpfe, Gewürze, Rezeptkarten und Spielanregungen – es soll einiges darin Platz finden, wenn der Karren in Schulen und Kindergärten vorfährt.
Gestaltung der eigenen Lebenswelt Um halb eins verstummt die Musik, und die Säge steht still. Wie in den meisten Workcamps wird ausschließlich vormittags gearbeitet. Die Tische neben dem Lehmofen der Station sind bereits gedeckt. Der Weg dahin führt vorbei an verwobenen Weidenruten, in die farbige Holzperlen eingeflochten sind, an einem Hundertwassergemälde auf der Fassade des Lehmhauses und an einem Zaun aus schnörkelig verschweißten Metallstäben. Alles Werke, die in den Workcamps der vergangenen Jahre entstanden sind. Wie Abdrücke menschlicher Kreativität wirken sie in der Wildnis des Geländes. »Bei vielen Besuchern entsteht eine andere Form von Wahrnehmung und Wertschätzung, wenn sie wissen, dass die Jugendlichen das gemacht haben«, berichtet Doris Hautum. Zum sechsten Mal veranstaltet die Station ein Workcamp in Kooperation mit dem Verein für Internationale Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD), der jährlich rund zweihundert Camps zu unterschiedlichen Themen organisiert. Von Naturschutz über Spielplatzbau bis hin zur Restaurierung historischer Gebäude bleibt die Grundidee gleich: Internationale Freiwillige tragen dazu bei, gemeinnützige Projekte zu verwirklichen. Auch Festivals, wie das »Carpe Viam« in Berlin oder das »Festival für Waldkunst«, werden durch Workcamps unterstützt. Austausch Beim Essen sitzen alle dicht beieinander auf den Bierbänken. Sprachfetzen in Russisch und Englisch fliegen über die Teller mit Süßkartoffelsuppe hinweg. Neben dem Platz von Luisa aus Berlin liegt ein Kräuterbuch. »Vegetarier«, so etwas kannte Moussa aus Aserbaidschan genauso wenig wie die fremden Gerichte. Tatif reicht ihm den Koriander; ihre pink lackierten Fingernägel umschließen die Schale. Armenien und Aserbaidschan – in der Heimat sind es verfeindete Länder, hier teilen sich Moussa und Tatif den Tisch und das Essen. Nebenan entspinnt sich derweil ein Gespräch über Vorurteile. »Was willst du bei den Faschisten?«, hätten ihre Freunde gesagt, erzählt Katya, die in Russland Deutsch studiert. Seit dem gemeinsamen Besuch im NS-Dokumentationszentrum Nürnberg am Wochenende hat sie einen anderen Blick auf Deutschland und seine Geschichte gewonnen. Zu den erklärten Zielen des IJGD gehört es, gesellschaftliche Verhältnisse bewusstzumachen und damit junge Menschen zu einer eigenen, fundierten Meinungsbildung zu befähigen.
Mitgestaltung und Mitbestimmung Klappernd werden die Teller gestapelt. Tatif und Katharina haben sich heute für das Küchenteam gemeldet, ihre Ideen zusammengetragen und eine Einkaufsliste geschrieben. Mit wenig Geld für alle Essen zuzubereiten und Kuchen zu backen, ist keine leichte Aufgabe. Freizeitprogramm und Abendessen – die Selbstorganisation gehört seit über 60 Jahren zum Konzept der Workcamps beim IJGD. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ein besonderes Anliegen, die Fähigkeit junger Menschen zu stärken, sich unabhängig vom herrschenden Gesellschaftssystem in Gruppen eigenverantwortlich zu organisieren. Jedes der zweihundert Camps, die jährlich stattfinden, wird ehrenamtlich geleitet. In der Hämmerleinsmühle sind es Katharina und Romina, die Kennenlernspiele angeboten, Teilnehmerlisten ausgefüllt und Erwartungen abgefragt haben. Viele der Methoden werden auf den Ausbildungsseminaren vermittelt, die der IJGD Jahr für Jahr durchführt. Im Gruppenraum hängen noch die Kärtchen vom ersten Tag. »Freundschaften knüpfen« ist dort am häufigsten als Wunsch zu lesen, aber auch »deutsche Kultur erleben« und »Sprachkenntnisse verbessern«. Workcamps ermöglichen dies, ohne dass für die Familien der jungen Menschen eine große finanzielle Belastung entsteht. 80 Euro sind für zwei bis vier Wochen zu zahlen. Die übrigen Mittel werden vom IJGD und den jeweiligen Projektpartnern zur Verfügung gestellt.
Inspirieren und sich inspirieren lassen Doris Hautum blickt auf ihre Uhr. »Bis morgen dann«, heißt es noch, bevor das Auto mit den fünf pädagogischen Fachkräften wegfährt. Zurück bleiben siebzehn junge Menschen und Raum zur freien Gestaltung. Oskar und Jakob blicken angestrengt auf die kleinen Bildschirme ihrer internetfähigen Handys, Sascha checkt seinen Facebook-Account, Wladi schaut eine Episode der »Simpsons« an, Zatek und Moussa rauchen draußen. Wortlos verstreichen die Stunden an diesem Nachmittag zwischen Sofas und Stühlen. Auch die Leere ist Teil des Gruppenprozesses. »Wir sind alle erschöpft vom Wochenende«, meint Luisa. Sie hat die Beine hochgeschlagen und ruht sich aus. Letzte Woche habe es eine andere Gruppendynamik gegeben, erzählt sie. Sascha zeigte Zaubertricks; Wladi fing an, der Gruppe Tanzschritte beizubringen. Und als sie sah, wie seine Bewegungen mit jener Musik verflossen, die er sonst nur wummernd aufdrehte, da habe sie plötzlich gespürt, was ihm das Tanzen bedeutete. Als er am nächsten Tag allergisch auf einen Insektenstich reagierte, bot sie einen Wickel mit Spitzwegerich an. Die Schwellung ging so schnell zurück, dass beide überrascht waren. »Inspirieren und sich inspirieren lassen« nennt Luisa solche Lernprozesse innerhalb der Gruppe. Zatek hat sich draußen an den Türrahmen gelehnt, zieht an seiner Zigarette und blickt auf den rotgefärbten Abendhimmel. »Ich vermisse Aserbaidschan«, sagt er sehnsüchtig. Deutschland sei zwar schön, aber – dann folgt ein tiefer Seufzer –: »Es ist so anders als mein Mutterland, die Erde und die Menschen dort«. Er drückt seine Zigarette aus, die anderen Jungs kommen und begrüßen ihn mit Schulterklopfen. Sie wollen heute noch alle zum Dorffest. Vielleicht wird es wie am Abend zuvor, als sie bei Kartoffelsalat und Schweinshaxe auf den Bänken im Bierzelt beisammen saßen. An den Nachbartischen wurde gegrölt, aus den Boxen dröhnten Volkslieder, es roch nach Bier. »Und irgendwie entstand da dieses Gefühl der Zugehörigkeit«, erinnert sich Luisa. »Weil wir alle tolle Menschen sind – trotz«, sie bricht ab, »nein, gerade wegen unserer Unterschiede.« Hand in Hand mit Sascha schlendert sie inmitten der anderen den asphaltierten Hang hinunter. Die Kirchenglocken haben zu läuten begonnen. Von den Festzelten her schallt es »Viva Bavaria«.
Lea Gathen (21) machte ein Jahr Freiwilligendienst in der internationalen Gemeinschaft Auroville in Indien und studiert heute Umweltwissenschaften in Lüneburg.