Oya-Redakteur Dieter Halbach sprach mit Silke Hagmaier und Martin Stengel über deren radikalökologisches Experiment, das sie tiefer ins Leben führte.von Dieter Halbach, Martin Stengel, Silke Hagmaier, erschienen in Ausgabe #18/2013
Dieter Halbach Silke und Martin, wir kennen uns schon fast 20 Jahre und haben zusammen das Ökodorf Sieben Linden aufgebaut. Ihr seid seit 16 Jahren ein Paar – jetzt auch mit zwei kleinen, tollen Kindern –, und ich kenne kaum Menschen, die ihr Leben so radikal an globalen Zielen von Ökologie und Gerechtigkeit ausgerichtet haben wie ihr. Von 1999 bis 2010 habt ihr im Ökodorf das Experiment »Club 99« gelebt. Was waren eure Ziele dabei?
Silke Hagmaier Der Grundgedanke für den Club 99 war die Erkenntnis, wie sehr unser Wohlstand auf dem Rücken der Dritten Welt, der Ausbeutung der Natur und vielen anderen Ungerechtigkeiten begründet ist. Wir hatten das Bedürfnis, zu erleben, wie sich das Leben anfühlt, wenn wir uns nur den Teil vom Kuchen nehmen, der uns wirklich zusteht. Wir orientierten uns an der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«, die besagte, dass die Bundesbürger für eine global gerechte Nachhaltigkeit ihren Verbrauch um 90 Prozent reduzieren müssten. Wir wollten damit weniger »verzichten«, als unseren eigenen Wohlstandsbegriff entmaterialisieren.
Martin Stengel Diese Ausrichtung entwickelte bald eine hohe Anziehungskraft. Von anfangs drei Menschen sind wir auf bis zu zwölf angewachsen und hatten dabei Tausende Gäste. Die Radikalität des Experiments hat viele Menschen zum Mitmachen eingeladen, weil sie hier zu etwas Größerem als einer kleinen Gemeinschaft von Privatpersonen beitragen konnten. Wir haben zum Beispiel mit das erste in Deutschland genehmigte Strohballenhaus gebaut, das laut einer Studie der TU Berlin nur zwei Prozent der Umweltbelastung eines konventionellen Baus verursacht hat.
DH Nach elf Jahren, und zum Schluss nur noch zu fünft, habt ihr das Experiment beendet. Was waren die Ursachen dafür?
SH Wir waren zu wenige Menschen mit zu vielen Projekten. Es war kein Raum mehr für politische Kreativität und Wirksamkeit. Intern waren wir festgefahren und haben unfreiwillig eine Familienstruktur abgebildet, innerhalb der Martin und ich Elternfiguren darstellten. Obwohl wir das erkannten, waren wir nicht in der Lage, es zu verändern. Zudem war in unseren Außenbeziehungen das Ökodorf ein ebenso schönes wie schwieriges Umfeld. Ich bin viel angeeckt, weil ich dazu neige, Visionen wichtiger zu nehmen als die Menschen bzw. deren Bedürfnisse. Ich stelle mich selber voll in den Dienst »höherer« Ziele und merke dann nicht, dass ich Menschen als Ressource auf dem Weg zum Ziel betrachte, also mich und alle anderen instrumentalisiere. Mein typischer Cocktail aus Begeisterung, Selbstausbeutung und starker Kraft, gepaart mit dem Gefühl, im Recht zu sein, hat in der Gemeinschaft oft provoziert und zu Abgrenzungen und dem Gefühl von Trennung mir gegenüber geführt.Trotzdem bin ich sehr dankbar für diese Zeit. Der Club 99 hat mir viel Freude auf allen Ebenen gebracht, nicht nur den Genuss, im Einklang mit vielen meiner Ideale und Träume zu leben, sondern auch den Genuss der Einfachheit: schlafen unter freiem Himmel, Baustelle mit Vogelgezwitscher, nackte Erde unter nackten Füßen … Aber es hat mich auch das Letzte gekostet, das ich zu geben hatte. An Besprechungen habe ich meist nur noch liegend teilgenommen, weil ich zum Sitzen zu erschöpft war. Ab und an hatten Martin und ich einen gemeinsamen freien Sonntagvormittag, ansonsten haben wir immer gearbeitet. Traum und Alptraum waren sich also bisweilen recht nahe.
MS Wie wir den Club gelebt haben, entsprach meinem damaligen Bewusstseinszustand. Ich war – und ich glaube: wir alle waren – sehr überzeugt davon, dass dies eine Art sei, die Welt zu »retten«. Wir waren sehr bemüht, unseren ökologischen Fußabdruck zu senken. Wir waren auf unsere Vorbildfunktion ausgerichtet. Und wir haben oft Menschen, die davon abgewichen sind, in Frage gestellt. Immer noch entstehen bei mir Fragezeichen, wenn zum Beispiel meine Freunde in den Urlaub fliegen. Aber inzwischen urteile ich weniger. Ich erkenne mehr das Ganze mit all seinen Widersprüchen an. Und habe weniger denn je das Gefühl, zu wissen, was für die Menschheit ansteht.
DH Menschen, die besonders stark für Gerechtigkeit eintreten, werden paradoxerweise oft als ungerecht empfunden, weil sie dem Einzelnen mit einem Absolutheitsanspruch gegenübertreten und nicht sehen, wen sie da vor sich haben. Menschen, die sich da nicht gesehen fühlten, haben euch oft vorgeworfen, außerhalb des Clubgeländes auch selbst zu »sündigen«.
MS Es stimmt, wir haben innerhalb des Clubs 99 eine von Internet, Strom, Maschinen, Plastik, nicht-regionalen und nicht-veganen Lebensmitteln sowie von üblichen Drogen »freie Zone« geschaffen. Wir standen öffentlich dazu, außerhalb ein Büro mit Internet zu betreiben und gelegentlich privat auch nicht-vegane Produkte zu konsumieren, fernzusehen, mit dem Auto zu fahren, Wein zu trinken usw. Das war sieben Jahre lang Teil des Experiments, uns innerhalb des Club 99 Bedingungen auszusetzen, die wir zwanglos und schrittweise in unser gesamtes Leben integrieren wollten. In der späteren Phase sind wir dazu übergegangen, unser Verhalten außerhalb und innerhalb mehr in Übereinstimmung zu bringen.
DH Dazu sollte man vielleicht sagen, dass wir hier gerade mit gutem Gewissen einen Bio-Wein zusammen trinken. Auch damals waren es ja sehr nachvollziehbare Bedürfnisse – einer wollte etwa von zu Hause aus mit seiner Freundin telefonieren können.
MS Ein anderer Bewohner wollte aus gesundheitlichen Gründen auf Rohkost umstellen und brauchte dafür einen besonderen Mixer. Er war drauf und dran, deswegen außerhalb zu essen; also haben wir Strom in die Küche gelegt, selbst mit Rohkost angefangen und bald für viele Menschen aus dem Ökodorf ein Rohkostmittagessen angeboten. 2007 wollten Silke und ich mit unseren besten Freunden Kosha und Björn zusammenziehen – die aber nicht mehr die Club-99-Prinzipien mit uns teilten. Wir haben dieses persönliche soziale Bedürfnis über unsere Prinzipien gestellt und miteinander ein zweites Strohballenhaus – diesmal mit Maschineneinsatz und Strom – gebaut und einige Vereinbarungen gelockert.
DH Ich möchte euch zur Inspiration ein Zitat aus der südfranzösischen Arche-Gemeinschaft des Gandhi-Schülers Lanza del Vasto (1901–1981) vorlesen. Die selbstversorgende Arche-Gemeinschaft war in der Gründerzeit des Ökodorfs ein wichtiges Vorbild, erlebte aber Ende der 80er Jahre eine tiefe Krise und Diskussionen um Technikeinsatz. Zwei Mitglieder sagten dazu: »Wirklich schwierig wird es, wenn man sein Inneres akzeptieren muss. [Und das] heißt dann auch, die anderen akzeptieren, so wie sie sind – und damit beginnt überhaupt erst das Gemeinschaftsleben. Ist man an diesem Punkt angelangt, fällt plötzlich die Form ab, und die kritischen Fragen, z. B. nach dem Traktor und der Elektrizität, werden unwesentlich. Denn wenn ich auch noch so sehr auf dem ›richtigen‹ Weg bin, wenn ich noch so gerne in Harmonie mit der Natur leben möchte, so nützt das nichts, wenn nicht die Motivation von tiefer her kommt. Wir waren immer ehrlich um Ökologie bemüht, aber als diese Bemühung von uns abfiel, war das wie eine Befreiung.«
MS Ja, über die Jahre habe ich gelernt, die Diskrepanz zwischen Innen und Außen mehr anzunehmen. Ich wäre zum Beispiel ein leidenschaftlicher Autofahrer. Ohne dieses verdammte ökologische Gewissen würde ich gerne Porsche fahren. Vor zwei Jahren habe ich mal wieder Fleisch gegessen, nur um mir die Selbstidentifikation mit dem »Veganer« zu nehmen. Da gibt es eine Bewegung in mir, wo sich mein Herz und mein Bewusstsein immer mehr weiten. Doch immer noch wollen meine Füße kein Flugzeug besteigen, will meine Hand kein neues Smartphone kaufen; ich spüre einen Schmerz jenseits von mir, der dem entgegensteht.
DH Gibt es da nicht einen inneren Widerspruch? Gilt dieses Mitgefühl eher dem Planeten als dem Menschen? Vor kurzem hat ein dir nahestehender Mensch dich mit einem schweren Traktor verglichen, der gnadenlos sein Ziel verfolgt und dabei den Boden verdichtet. Wie geht es dir mit so einem Vergleich?
MS Ich würde schon sagen, dass ich die ersten 30 Jahre meines Lebens die ökologische Rettung des Planeten über den Menschen gestellt habe; wie in diesem Witz: Erde an Nachbarplanet: »Du, ich habe Homo sapiens«, Antwort: »Ach, das geht vorüber.« – Aus dieser Haltung bin ich gekommen: für die Erde, gegen die Menschen. Insofern kann ich dieses Traktor-Bild schon nachvollziehen. Heute sehe ich immer mehr: Die Evolution will durch den Menschen hindurch – in all seiner Widersprüchlichkeit, mit dem ganzen Spektrum von Heilung bis Zerstörung. Ich kann damit andere Menschen und mich viel großzügiger so lassen, wie sie sind.
DH Einer der dramatischsten Konflikte im Ökodorf entstand, weil du, Silke, auf deine magere Pferdeweide konventionelle Gülle aufgebracht hast. Da haben sich viele auf diesen Widerspruch gestürzt, aber die Gemeinschaft hat auch versucht, dich nicht zu verurteilen.
SH Ich hatte aus purer Ratlosigkeit über den schlechten Boden etwas ausprobiert und fand das im Vergleich zu anderen Dingen, die hier im Ökodorf als »hoffähig« gelten, nicht so dramatisch. Mein Drama war die schlechte Versorgungslage meiner Pferde. Doch das hätte ich unbedingt transparent machen und sogar um Zustimmung bitten sollen. Anzufragen, mit echter Bereitschaft, ein Nein zu akzeptieren, liegt mir leider nicht nahe. Oft vergesse ich es schlicht – zumal ich nicht selten gebremst oder blockiert wurde, wenn ich mich an die Konsens-Regeln hielt.
DH Den noch interessanteren Ansatz fände ich, in dir einen Raum zu öffnen, in dem du es für möglich hältst, dass du auf deine tiefsten Anliegen eine wohlwollende Resonanz bekommst.
SH Klingt gut! Den Menschen zu vertrauen, gehört nicht zu meinen Stärken, wenn es um meine »heiligen Werte« geht. Ich habe in meiner Jugend die Erfahrung gemacht, dass alles, was mir essenziell richtig erschien, von meinem Umfeld abgelehnt oder kaputtgemacht wurde. Mit meinen radikalen Positionen war ich auch in der Ökodorfgruppe von Anfang an eine Extremfigur und erlebte also im Kleinen meine gesellschaftliche Sonderstellung wieder.
MS Wir haben in unserer Radikalität oft Themen berührt, bei denen manche mit sich selbst auch nicht im Frieden waren, was dann natürlich zu Abwehr führte. Wenn wir uns dann die kleinste Abweichung leisteten, war das ein gefundenes Fressen.
DH Umso mehr Mitgefühl braucht es wahrscheinlich von demjenigen, der den Finger in die Wunde legt. Es braucht einen Wechsel der eigenen inneren Haltung – aber wie könnte der aussehen?
SH Der Wandel, der seit mehreren Jahren in mir stattfindet, ist der, dass ich dem Leben in seiner Gesamtheit mehr vertraue. Ich habe erfahren, dass das Leben intelligenter ist als ich und dass ich selber nicht immer weiß, was für mich das Beste ist: Martin und ich sind 2010 zum Klimagipfel nach Kopenhagen gefahren mit der offenen Frage an das Leben, was für uns anstehe. Wir waren bereit, einem neuen Ruf zu folgen. Die Antwort hätte nicht überraschender sein können: Ich wurde schwanger. So bin ich Mutter geworden, obwohl ich das nie vorhatte, und habe darin ein Geschenk erfahren, das größer ist als alles, was ich mir selber hätte ausdenken können. Mein Vertrauen in diese höhere Intelligenz des Lebens dehnt sich derzeit immer weiter aus. Es kommen Projekte und Ideen, die ich mir so alle nicht unbedingt gewählt hätte: Zum Beispiel werde ich gerade Gemeinderatsmitglied als Vertretung des Ökodorfs, ich setze mich für eine Potenzialentfaltungsschule ein, ich möchte ein regionales Humusbündnis mit anschieben. In meinem Bezug zur Welt schwindet mein Bedürfnis, etwas wegmachen zu wollen. Selbst die globale Krise kann ich als Nadelöhr ins Himmelreich – oder wohin auch immer – sehen. Ich bin keine Weltretterin mehr, weil ich gar nicht weiß, was die Welt braucht. Woher soll ich es auch wissen, wo ich es ja anscheinend noch nicht einmal für mich selbst wirklich weiß? Paradoxerweise kann ich mich dadurch noch tiefer in den Dienst des Lebens stellen. Damit spreche ich nicht für eine passive, unpolitische Hingabe an inakzeptable Zustände. Ich spreche für einen kraftvollen und ausgerichteten Einsatz meiner Energien bei gleichzeitiger Einfühlung in das Kritikwürdige, gepaart mit einer demütigen Verneigung vor der Komplexität lebendiger Prozesse. Natürlich begegnen mir weiterhin Menschen und »vereiteln« meine Pläne. Jetzt kann ich sie als Ausdruck des Lebens wahrnehmen. In lichten Momenten war uns das auch in der Endphase des Clubs 99 bewusst.
MS Mir wurde gegen Ende das Projekt Club 99 zu eng und zu klein, auch im Verhältnis zu dem riesigen Aufwand für so wenige Mitmacher. Ich wollte unterrichten, in die Bildung für nachhaltige Entwicklung gehen. Ich wollte mehr Kontakt mit Menschen, die sich weltweit für Veränderung engagieren; herausfinden, was, aus verschiedenen Perspektiven gesehen, global gebraucht wird. Daneben begab ich mich auf eine innere Suche: Was ist diese Welt eigentlich, und wer bin ich darin? Mein Verfolgen aktueller philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse brachte mich zu der Annahme, dass die Welt, wie wir sie kennen und wie sie der Club 99 noch retten wollte, wohl nicht zu retten sei. Was ist nun der nächste evolutionäre Schritt? Jean Houston beispielsweise nennt es »The Possible Human«, der mögliche Mensch. Sie spricht vom Potenzial, das die Evolution uns in den Schoß legt. Die Frage ist, nutzen wir es rechtzeitig? Ich lerne gerade Dankbarkeit, Hingabe und Mitgefühl, die Suche nach einer tieferen Einheit: Was, wenn ich der Planet bin – oder auch der Traktor, der skrupellose Banker? Was, wenn ich all das beinhalte? Wer bin ich dann, und wie handle ich dann?
DH Das ist eine große Öffnung, von der du sprichst. Wie kann ein Leben jenseits der kleinen Box aussehen? Wie kannst du das in deinen Alltag übersetzen?
MS Wenn ich im inneren Widerstand gegen die Welt bin, praktiziere ich manchmal die Meditation »I am« nach Ramana Maharshi. Sie bringt mir eine zelluläre Ahnung davon, nicht getrennt zu sein. »Wir können der Welt nur so dienen, wie wir ein Teil von ihr sind«, schreibt David Whyte – Teil auch der Widersprüche, der Schattenseiten. Ich möchte mit der Welt gehen, nicht mehr gegen sie.
SH Ich bin bescheidener geworden bei der Frage, wie die »gerettete Welt« wohl aussehen wird. Wahrscheinlich haben wir keine Ahnung davon. Ebenso wenig Ahnung haben wir davon, was das Leben alles an Wundern für uns bereithält, wenn z. B. die Menschheit sich in einem Gefühl von Dankbarkeit synchronisieren könnte.
DH Dankbarkeit auch für schreckliche Situationen?
SH Zumindest tiefe Hingabe an das, was nicht zu ändern ist. Bewusstsein entsteht oft durch das, was wir uns nicht gewünscht haben. Ohne einen enormen Bewusstseinssprung und die dazugehörige Potenzialentfaltung – die vom jetzigen Standpunkt fast einem Wunder gleichkäme – wird wohl das, was wir »Welt retten« nennen, nicht gelingen.
DH Was wir in Krisensituationen an Potenzial entfalten können, hängt aber wohl davon ab, wieviel Mitgefühl, Bewusstheit und Dankbarkeit wir vorher gelebt und erfahren haben. Ich danke euch für dieses ehrliche Gespräch. •