Radfahren für eine langsamere Welt.
von Anja Humburg, erschienen in Ausgabe #18/2013
Im Jahr 1990 fuhren ein paar Aktivistinnen und Aktivisten mit dem Fahrrad von der norwegischen Stadt Bergen zum Ecotopia-Sommercamp nach Budapest. Der niederländische Koch Wam Kat versorgte sie damals mit seiner mobilen Volksküche. 22 Jahre nach der ersten Tour erzählt er mir in einer Jenaer Spelunke von dieser Jungfernfahrt. Die Tourdaten von 1990, die im Internet nachzulesen sind, hatte ich bis dahin für politischen Extremsport gehalten. Aber Wam Kats Erinnerungen an die Menschen, die Fahrräder und die Strecke schreiben eine lebendige Geschichte von Menschen, die abstrakten Distanzen eine körperliche Erfahrung entgegensetzen wollten und dabei jede Menge Spaß hatten. Der Tatendrang und die Visionen der Radfahrer symbolisieren den Beginn eines neuen Umgangs mit Mobilität und Technik. Bis heute treibt die Radtour jedes Jahr Menschen aus der ganzen Welt in die Sättel. »Mit unseren ökologischen Fußabdrücken überschreiten wir als Gesellschaft und nicht unbedingt als Individuen Grenzen. Deshalb suche ich danach, gemeinsam mit anderen den Fußabdruck der Gesellschaft zu verkleinern«, sagt Alice O’Rourke. Die 25-jährige Eventmanagerin begleitete die Ecotopia Radtour im Sommer 2012 von Barcelona nach Venedig und kündigte dafür ihre Stelle im Nachhaltigkeitsbüro der Universität Edinburgh. »Obwohl mir mein Job Spaß gemacht hat, zog es mich in dieses Abenteuer. Ich wollte meinen Fußabdruck gerade dort verkleinern, wo Infrastrukturen verändert werden müssen«, erklärt sie mir nach der Reise. »Gerade urbane Infrastrukturen machen es den Menschen schwer, ihre Inanspruchnahme der fragilen Lebensgrundlagen zu reduzieren, weil Produktion und Konsum so stark voneinander getrennt sind. Das kann sehr frustrierend sein«, sagt die Anthropologin und erinnert sich an diverse Städte, in denen sie gelebt hat. »Aber selbst dort können kreative neue Wege entstehen.« In Barcelona zum Beispiel ließe sich fast alles auf der Straße finden oder irgendwo umsonst auftreiben, ohne einen einzigen Laden betreten zu müssen; sogar Kleider und Möbel habe sie auf diese Weise beschafft. Auf der Suche nach Projekten, die die Infrastrukturen der Mobilität verändern, trat Alice O’Rourke drei Monate lang auf einem gebrauchten Trekkingrad quer durch Europa in die Pedale. Meistens begleiteten sie etwa ein Dutzend andere Radlerinnen und Radler für eine Woche oder auch einen ganzen Monat. Am Ende sind über einhundert Menschen dabeigewesen.
Fahrradreise von Projekt zu Projekt Die Tour führte sie an den Pyrenäen entlang und über die Alpen. Die Reisenden nahmen das anspruchsvolle Terrain in Kauf und trotzten Regen und Sommerhitze. Tag für Tag begegneten sie an anderen Orten Pionieren, Aktivistinnen und Initiativen. Sie wurden von Freunden erwartet oder campten wild. Alles, was sie brauchten, selbst eine Küchenausstattung, transportierten die Radfahrer auf ihren Anhängern. Wie die meisten anderen kam auch Alice O’Rourke die rund 2000 Kilometer ohne das neueste Fahrradmodell aus und strampelte auf einem reparaturfreundlichen lila Drahtesel durch die Landschaft. Was sich bei der Radtour bewährt hat, findet seinen Spiegel in einer wissenschaftlichen Betrachtung: Ein selbstbestimmter und gemeinschaftlicher Umgang mit Technik greift Ivan Illichs Idee der »konvivialen Werkzeuge« auf. Konvivialität, ein altertümlicher Begriff für Geselligkeit, beschreibt der österreichisch-amerikanische Philosoph und Theologe Illich in seinem Buch »Selbstbegrenzung – eine politische Kritik der Technik« schon 1980 als einen »lebensgerechten« Umgang mit technischen Systemen. Konviviale oder lebensgerechte Gesellschaften schöpfen laut Illich die Fülle des Miteinanders aus und gestalten mit ihr den Einsatz von Technik, statt ihn von wenigen oder sogar von der Technik selbst kontrollieren zu lassen. Um es mit den Worten des mexikanischen Gemeinwohl-Forschers Gustavo Esteva zu sagen: »Gemeinsam erschaffen sie eine Welt, in die viele Welten passen.« Illich, der von 1926 bis 2002 lebte, wird heute als Referenz in der neuen Wachstumsdebatte wiederentdeckt. In Barcelona und Venedig schlossen sich die Ecotopia-Radfahrer der berühmten Fahrrad-Kampagne »Critical Mass Tour« an. Diese Initiative mobilisiert so viele Radfahrer wie möglich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem oft spontan bekanntgegebenen Ort. Sie fahren mitten auf der Straße, halten im Pulk an den Ampeln, die sonst für Autofahrer reserviert sind, und bilden damit eine sichtbare Masse im Verkehr, um so auf die Bedürfnisse von Radfahrern aufmerksam zu machen. Manchmal verfolgen sie auch kein konkretes Ziel, sondern sorgen schlicht für etwas Irritation. Die Critical Mass Touren erobern seit einigen Monaten regelmäßig die Hauptverkehrsadern europäischer Metropolen. Im italienischen Dorf Chiomonte unterstützten die Ecotopia-Radfahrer die »NO-TAV«-Kampagne: Lokale Initiativen und landesweit agierende Bewegungsorganisationen aus Frankreich und Italien lehnen sich seit einigen Jahren gegen den Ausbau der Bahnstrecke für einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Lyon und Turin auf. In Venedig begleiteten die Radfahrer einige hundert Venezianer, die auf Fahrrädern und in Booten ein Kreuzfahrtschiff für einige Stunden am Auslaufen hinderten. Sie setzten damit ein Zeichen gegen die weitere Vertiefung des Hafenbeckens, die noch mehr Kreuzfahrer in die Stadt spülen würde. Den Menschen in Chiomonte und Venedig stößt auf, dass sie weder bei der Planung von Megabauprojekten mitreden noch an der alltäglichen Dominanz des motorisierten Individualverkehrs etwas ändern können. Der Protest rüttelt am eingeschliffenen Denkmuster gängiger Mobilitätskonzepte, die von einem permanenten Zufluss fossiler Energie abhängen. Diese Logik erzeuge einen »Entfernungszwang«, wie es der Verkehrsplaner Helmut Holzapfel ausdrückt. Wohlstand bedeute heute oft, weit fahren zu müssen. Elektromobilität, Car-Sharing und Bambusräder per se machen Fortbewegung noch nicht zukunftsfähig. »Die Idee, Verkehr einzusparen und die Stadtentwicklung so zu beeinflussen, dass die Lebensbedingungen ähnlich bleiben oder sich sogar verbessern, ist weitgehend unpopulär«, schreibt Holzapfel auf dem Blog »postwachstum.de« über den Ansatz, vor allem in der Nähe mobil zu sein. Gedanklich nehme ich das Experiment mit in meinen Alltag und gehe davon aus, dass Ingenieure auch in ein paar Jahren noch kein Verkehrsmittel erfunden haben werden, mit dem ich mit 150 Sachen von Ort zu Ort fahren kann, ohne Ressourcen auszubeuten. Eine Konferenz in Süddeutschland zu besuchen, würde bedeuten, zwei Wochen im Sattel statt im Büro zu sitzen. Mit 24 Urlaubstagen käme ich übers Jahr nicht weit, aber zusammen mit Kollegen könnte eine produktive Zeit aus der Radtour werden. Doch dazu müsste der Büroalltag erst einmal auf den Kopf gestellt werden. Auf der To-do-Liste der Mobilitätstransformation finde ich noch eine andere, viel weniger sichtbare Form von Mobilität, deren ökologischer Fußabdruck nicht zu verachten ist. Sie bezieht die Transportwege ein, die Produkte und Dienstleistungen hinter sich haben, bis sie auf dem Küchentisch oder Monitor landen. Eine wachstumsbefreite Mobilität würde auch Stoff- und Datenströme, ihre Rhythmen, Absender und Adressaten verändern. Es würde nicht mehr darum gehen, immer schneller zu fließen und immer mehr zu bewegen. Wachstumsbefreite Mobilität wirkt sich auch darauf aus, wie wir arbeiten, wo wir wohnen und wie wir leben.
Botschafter für ein gemeinsames Anliegen Die Ecotopia Bike Tour ist nicht nur Ausdruck von Protest. Sie ist vor allem ein Beispiel für die Werkstätten des Wandels hin zu einer ökologisch-mobilen Gesellschaft. Von diesen Orten gibt es entlang der Strecke viele. Die reisenden Mobilitätspioniere besuchten Fahrradläden mit alternativen Geschäftskonzepten, wie zum Beispiel »Biciclot« in Katalonien. Dort werden Fahrräder recycelt, und Fahrradbastler geben ihre Fähigkeiten in Workshops weiter. In Marseille trafen sie die Initiative »Collectif vélo en ville«, die den Radfahrern und Fußgängern ihrer Stadt mehr Raum verschafft. Die Ecotopia Bike Tour verbinde Projekte, Menschen und Ideen miteinander, sagt Alice O’Rourke. Die Reichweite eines Fahrrads stecke ihren Radius ab und setze die Maßstäbe für Tempo und Distanz. Mitte September erreicht die Tour ihr Ziel, die 3. Internationale Postwachstums-Konferenz in Venedig. Dort gehörten Alice und ihre Begleiter zu den »Botschaftern für ein gemeinsames Anliegen«. Gemeingüter-Expertin Silke Helfrich gab auf der Konferenz solchen Postwachstumsakteuren diese Bezeichnung, denen es gelingt, Brücken zu schlagen. Damit meint sie Brücken zwischen Wissenschaft, Aktivismus und konkreten Projekten, da diese drei Gradienten der Postwachstumsdebatte bislang viel zu scharf voneinander getrennt seien. Erst durch ihre Verbindung entstehe ein fruchtbares Biotop für Neues. Die Tour ist ein lebendiges Beispiel einer Entschleunigung, die nichts mit Verlangsamung zu tun hat. Sie zeigt, wie sehr Mobilität eine Gemeinschaftsaufgabe ist. »Es gab weder eine Dachorganisation noch ein festes Organisationsteam«, erzählt mir Alice O’Rourke am Ende der Tour in einem kleinen venezianischen Café. Wissen und Erfahrungen werden jedes Jahr an die Neuen weitergereicht. Bei der Planung der Tour oder beim täglichen Plenum konnten alle Radler mitreden und gemeinsam entscheiden. Am Kopf der Tour markierte ein Team den Weg, damit auch die Langsameren das Ziel der Etappe finden konnten. Das Ende der Kolonne achtete darauf, dass alle mitkamen. So konnte jede und jeder im eigenen Tempo fahren. Ohne ihn zu kennen, greift Alice O’Rourke in ihrer Erzählung die Forderung des Entschleunigungsexperten Hartmut Rosa auf. Es gehe nicht um den individuellen Ausstieg, sondern um »ein politisches Programm, das auf Entschleunigung zielt«, hatte der Jenaer Soziologe Rosa in der »Zeit« geschrieben. Aber wie lässt sich in einer rasenden Zeit Entschleunigung politisch kultivieren? Am Anfang steht die eigene Praxis. Indem Alice auf der Tour ihrem Wunsch nachging, Mobilitätsstrukturen gemeinschaftlich zu verändern, setzte sie ein politisches Zeichen. •
Anja Humburg (27) ist Umweltwissenschaftlerin und Journalistin für Transformation. Sie experimentiert in ihrem Lebensentwurf mit der Idee einer Postwachstums-Gesellschaft.