»Was können wir von traditionellen Gesellschaften lernen?« – diese Frage ließ mich Mitte der 90er Jahre einige Semester Ethnologie studieren. Es sieht so aus, als bewegte die Frage heute noch mehr Westler als damals, denn Jared Diamonds neues Buch »Vermächtnis«, das diese Frage im Untertitel trägt, steht heute, Ende November, kurz nach seinem Erscheinen auf Platz 127 der Amazon-Verkaufsstatistik, und die »Süddeutsche Zeitung« widmet dem Autor ein fast ganzseitiges Interview. Der schöne Eingangssatz dieses Gesprächs – »Ich sitze hier schon seit zwei Minuten in Ihrem Hotelzimmer, und Sie haben noch immer nicht versucht, mich zu töten.« – lenkt gleich auf ein Fokusthema des Buchs: das hohe Maß an Gewalt in manchen traditionellen Gesellschaften und die (angeblichen) Vorzüge des Gewaltmonopols in Staaten. Jared Diamond reist seit 1963 regelmäßig nach Papua-Neuguinea, wo die Menschen noch bis in die 1930er Jahre hinein ein Steinzeitleben führten und wo sich die Volksgruppen und Stämme offenbar mehr oder weniger pausenlos erbittert bekämpften. Diamond gibt an, weltweit insgesamt 39 Gesellschaften für sein Buch untersucht zu haben, wobei er dankenswerterweise zwischen Jäger-Sammlern, Ackerbaugesellschaften und unseren Industriestaaten unterscheidet. Doch ist sein eigener Blick, und damit auch das Buch, sehr stark von den Verhältnissen auf Neuguinea geprägt. Die Kapitel über Ökonomie, Krieg und Frieden, den Umgang mit Kindern, Alten und Gefahren, über Gesundheit und Ernährung, Sprache und Religion lesen sich durchaus interessant, denn Diamond ist ein guter, lediglich etwas zum Ausschweifen neigender Erzähler. Vorstellungen vom edlen Wilden nährt er nicht, ganz im Gegenteil. Viele Informationen und Sichtweisen des Buchs waren mir, der sich für die Thematik schon länger interessiert, bis dahin unbekannt. Vielleicht liegt es ja an meiner Vorbildung, dass ich bei der Lektüre dennoch sehr oft das Gefühl hatte, dass der Autor – 550 Seiten Platz und dem eigenen Anspruch eines weiten Blickwinkels zum Trotz – eben nur einen kleinen Ausschnitt aus der unglaublich reichhaltigen Palette indigener Kulturen wahrnimmt. Kommen nicht die moderne Matriarchatsforschung oder anarchistisch eingestellte Anthropologen wie David Graeber auf der Grundlage ihrer Untersuchungen anderer Ethnien zu ganz anderen Schlüssen, was etwa die Möglichkeit friedlich-egalitärer, nicht-staatlicher Gesellschaftsalternativen in den heutigen Industrieländern betrifft? Auch wenn man dem Autor also nicht alles abnehmen will, liest sich »Vermächtnis« mit Freude und Gewinn. Allerdings halte ich den Vorgänger »Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen« in dieser Zeit für das relevantere Buch, weil dort die Frage der Ökologie klar im Vordergrund steht.
Vermächtnis Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können. Jared Diamond S. Fischer, 2012, 592 Seiten ISBN 978-3100139092 24,99 Euro