Gesundheit

Dürfen statt müssen

Das pädagogisch-therapeutische Zentrum »Lernort.Lebensfeld« in Stemwede bietet traumatisierten Kindern Raum und neue Perspektiven.
von Maria Hufenreuter, erschienen in Ausgabe #18/2013
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Mehrfach traumatisiert, schwierig im Umgang und oft aggressiv sind diejenigen, die im »Lernort.Lebensfeld« ankommen. Oft haben sie schon eine »Karriere« in Heimen und Pflegefamilien hinter sich. Hubert Hellermann nimmt Kinder und Jugendliche auf, die woanders aufgegeben wurden. Meistens Jungs. Zum Beispiel Jakob, einen intelligenten, hübschen Elfjährigen, der Tiere liebt, sich im Wald auskennt und zur Begrüßung die Hand reicht. Er kommt jeden Morgen hierher. Gabi ist dann ganz allein für ihn da. Wandert mit ihm durch die Flur, lässt ihn Hühner, Schweine, Tauben, Skuddenschafe, Fische und Katzen auf dem Hof füttern. Umsorgt ihn mit selbstgekochtem Essen. Mit Aufmerksamkeit und Hilfe, wann immer Jakob sie braucht. Er kann sich frei bewegen, herumschreien, sich auf dem Heuboden eine Bude bauen, fotografieren und ein Sandwich toasten. Im Garten helfen. Einfach sein. Er darf, muss nicht. Auch seine Wut ist erlaubt. Gabi hat als Spätaussiedlerkind aus Polen selbst Heimerfahrung und war jahrelang als Sozialpädagogin in verschiedenen Projekten tätig. Nun arbeitet sie in der Einzelbetreuung am Lernort.
Hubert Hellermann blieb zweimal sitzen und knallte seinem Lehrer vor Wut einen Ball vor die Füße, bevor er die Realschule mit 14 für immer verließ und sich als Hilfsarbeiter durchschlug. Er wollte »was machen, damit das anderen nicht passiert«. Dieser Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt. Hubert holte den Hauptschulabschluss nach, machte eine Lehre als Maschinenschlosser und studierte später Umwelttechnik und Maschinenbau. Ehrenamtlich engagierte er sich in Schulen, Jugend- und Kinderheimen und als pädagogischer Betreuer, Ausbilder und Berater. Kurz vor dem Diplom brach er ab. Heiratete seine Freundin Edeltraud. Hubert arbeitete als Monteur in Brasilien, Malaysia, Israel, Italien, Holland und Südafrika. Aber statt sein Haus in Venne abzubezahlen, steckte er all sein Geld in das Lernort-Projekt.
Mit 40 ließ er sich ganz auf die Pädagogik ein und wurde Lerntherapeut. Gründete eine Spielgruppe auf einem Bauernhof und betreute Kinder in einer heilpädagogischen Steiner-Schule. Gleichzeitig wurde das »Haus Sudern« in Stemwede für Kinder wie Jakob eröffnet. Bezahlt werden die Betreuungsplätze vom Jugendamt, von der Krankenkasse oder privat von den Eltern. Außerdem fand sich die anthroposophische Stiftung »Mercurial« als Träger. »Ich wollte von Anfang an verschiedene finanzielle Standbeine, um unabhängig zu bleiben«, sagt Hubert Hellermann.

Retter mit ungewöhnlichen Methoden
Am Lernort.Lebensfeld werden auch komplementärmedizinische Verfahren für die Kinder angeboten, zum Beispiel Marias ayurvedische Massagen. Diese Arbeit fordert ihr einiges an Empathie ab. »Bei manchen Kindern dauert es, bis ich sie berühren darf. Witek wollte sich zuerst nur kurz und angekleidet am Rücken massieren lassen. Nach einer Weile genoss er das so sehr, dass er bereit war, sein T-Shirt hochzuheben. Nach etlichen Massagen zog er auch die Hose aus. Das Vertrauen wuchs, weil es schön war, was er erlebte.« Dieses Vertrauen fasste er auch in andere ganzheitliche Methoden und in die Menschen des Lernorts und konnte so nach und nach aufhören, sich und anderen wehzutun. Aus solchen Erfahrungen heraus stellt Hubert Hellermann seine Angebote für die Kinder zusammen. Jin Shin Jyutsu, Kinesiologie, Gesangs- und Lerntherapie, Erlebnispädagogik mit Reiten, Kanu- und Segeltouren. Auch Geistheilung, weil es funktioniert. Die Kinder können sich auf dem Hof erholen, finden zu einem Sozialverhalten, das ihnen guttut. Probleme gibt es manchmal, wenn sie aus diesem Schutzraum entlassen werden. Deshalb begleitet Hubert Hellermann sie einige Zeit weiter, bleibt in Kontakt mit Heimen und Ämtern. Bisher gelang es, alle Kinder vor Gefängnis, Psychiatrie oder der Straße zu bewahren und in ihnen die nötige Kraft freizusetzen, ihr Leben in Schule, Heim und (Pflege-)Familie zu meistern.
Inzwischen schickt das Jugendamt gerne auch Kinder, die die Schule verweigern. Elias zum Beispiel wurde von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, seit seinem zweiten Geburtstag mit Ritalin vollgepumpt und hatte trotzdem aggressive Anfälle, schrie und schlug. Hubert nahm ihn in sein eigenes Haus auf und setzte in Absprache mit den Ärzten die Medikamente ab. Elias wurde ruhiger und ging wieder zur Schule. Oder Björn, ein verstörtes Kind, das um sich trat und Pflanzen und Möbel zerstörte. Er durfte so lange auf Hubert einschlagen, wie er wollte, durfte sich ausleben. Auch Björn wurde durch die Fürsorge im Lernort aufgerichtet. Und Valerij. Nach zwei Jahren ging er das erste Mal wieder zur Schule, für zehn Minuten. Dann für eine Stunde, inzwischen schafft er zwei Stunden täglich. Hubert Hellermann bedauert die enge Ausrichtung auf die Beschulbarkeit. »Dieses Ziel orientiert sich meistens nicht an den Bedürfnissen der Kinder, sondern an denen der Marktwirtschaft. Wir streben etwas anderes an. Die Kinder bringen geistig-seelische und körperliche Potenziale mit und wollen damit wahrgenommen werden, wollen den Raum dafür. Davon würde ich ihnen gern mehr bieten.«
Ihre Bindungsstörungen und Traumata werden die Kinder im Lernort nicht auflösen, aber sie bekommen Handwerkszeug, um damit leben zu können. Der wichtigste Ansatzpunkt bei dieser Pädagogik ist die Beziehungsarbeit. »Die Kinder kommen meistens therapiemüde hier an und machen erst mal dicht. Sie öffnen sich, wenn sie spüren, dass sie landen und ankommen können, so, wie sie sind. Wenn sie merken, dass die Beziehungen hier nicht abgebrochen werden, wie sie das aus ihrem bisherigen Leben kennen.« Behutsamkeit, Authentizität, Geduld und Mitgefühl gehören zu den pädagogischen Prinzipien. Das geht gar nicht anders. Eine Geste, ein falsches Wort können manchmal schon einen Ausraster auslösen. Hubert Hellermann und seine Mitstreiterinnen möchten die Kinder von Glaubenssätzen befreien, die ihnen schaden, damit sie frei werden können für das, was ihnen entspricht, was in ihnen lebt. Das dauert in der Regel einige Jahre. Während dieser Zeit gewähren die Erwachsenen Schutz, Unterstützung und Respekt – etwas, das Hubert Hellermann während seiner eigenen Schulzeit schmerzlich vermisste. Die Kinder lernen, sich auszudrücken, Gewalt gegen Argumente zu tauschen. Ein Leben in Gruppen oder Familien wird so wieder möglich. Randaliert doch mal einer oder wird beleidigend, reagiert Hubert Hellermann mit Verständnis für den Frust und führt Gespräche, Gespräche, Gespräche – bis die Ausfälle seltener werden und schließlich nicht mehr vorkommen. Viele der Jugendlichen bauen sich eine Perspektive auf, besorgen sich eine Ausbildung, gehen weiter zur Schule.
Den Mitarbeitern ist klar, dass die eigenen Themen nicht so weit von denen der Kinder entfernt sind, dass ihnen auch ein Stück eigene Kindheit gespiegelt wird. Manchmal kämpfen sie mit Tränen, wenn ein Kind fragt: »Darf ich bei dir wohnen?« Aber auch mit Erschöpfung, wenn sich Papierkram im Büro türmt und die eigentliche Arbeit deshalb zu kurz kommt. Um nicht Raubbau an den eigenen Kräften zu betreiben, ist die Achtung vor den eigenen Grenzen wichtig. Wenn die Erwachsenen Kraft haben, profitieren auch die Kinder davon.

Schule für seelische Gesundheit
Der Lernort möchte zu Entwicklungen in der Gesellschaft beitragen, die sich schon ankündigen. »Die Kinder mit ihren Themen, die um das individuelle Sein, um freiere Entwicklung kreisen, zeigen ganz stark, dass etwas verändert werden muss, und wenn es die Erwachsenen nicht in die Hand nehmen, werden es die Kinder tun. Sie wollen sich nicht Konzepte überstülpen lassen, die für eine Welt von gestern gelten. Schule, Pädagogik, Gesundheitswesen und Beziehungen werden in eine neue Phase treten. Der Lernort trägt dieses Neue, das da kommen will, mit.«
Hubert Hellermann träumt von einer Schule nach eigenem Rezept. Von mehr Freiheit, praktischem Bezug und weniger Vorgaben von außen. Von einem Lernort, der dazu beiträgt, universelle statt spezialisierte Fähigkeiten zu entwickeln. Der Kindern keine idealisierten Ziele für die Zukunft vorsetzt, sondern sie in der Gegenwart mit ihrem Potenzial wahrnimmt. Dabei geht es ihm keineswegs nur um diejenigen, die an den Rand der Gesellschaft driften könnten. Die seelische Gesundheit aller Kinder und auch die der Erwachsenen würde von einem solchen Ansatz profitieren. •


Maria Hufenreuter (35) lebt in Berlin und ­arbeitet als freie Journalistin.

Kontakt zum Lernort.Lebensfeld
Lernort.Lebensfeld
In der Knuwische 34, 49179 Ostercappeln-Venne
Telefon (0 54 76) 91 94 47, hubert.hellermann{ÄT-Zeichen)web.de

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