Die Autodidaktische Initiative Leipzig will ein für alle offenes Lernwohnzimmer schaffen. Dabei knüpft sie an einen humanistischen Bildungsbegriff an.von Sara Mierzwa, erschienen in Ausgabe #19/2013
Das Wasser in den Flaschen ist tiefgefroren, auf dem Bauschutt im Garten liegt Schnee. Starker Qualm entsteigt dem mit Holz und Kohle beheizten Ofen. Vitali versucht, ein wenig Wärme auf die Baustelle in der Georg-Schwarz-Straße in Leipzig zu bringen. Hier entstehen die Räume der Autodidaktischen Initiative (ADI). Ein großer Ladenraum, zwei Hinterzimmer und Büroräume im ersten Stock warten noch auf Boden- und Wandbelag. Die neuen, großen Fenster kommen erst im April. Die Träume hingegen sind schon da: »Der Ladenraum zur Straße hin soll die Leute beim Reinschauen neugierig machen«, sagt Nadine, 26 Jahre alt. Die Räume sollen einmal Gemütlichkeit, Arbeitsatmosphäre und Lebendigkeit ausstrahlen und unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden. Sie, Vitali und Konne – die organisatorische Kerngruppe des Projekts – haben sich den Raum schon sehr konkret erträumt: Eine Sitzecke für Menschen, die gerne in großen Gruppen miteinander diskutieren. Einzelarbeitsplätze für Gedankenbewegungen mit dem eigenen Kopf. Eine Couch zum Lernen und Reden im Wohnzimmerambiente. Computerarbeitsplätze, Bücherregale und Pflanzen. Unverzichtbar ist außerdem eine Teeküche. Für die Menschen in den Räumen soll ein Gleichgewicht zwischen konzentriertem Lernen und Entspannung möglich sein.
Weniger Universität, mehr Mündigkeit Nadine hat Umweltwissenschaften studiert und interessiert sich inzwischen mehr für philosophische Themen. Das Studium konnte ihr längst nicht alle Fragen beantworten; weder Parteipolitik noch Demonstrationen schienen ihr Weg zu sein, etwas in der Gesellschaft zu verändern. Stattdessen wurde der Traum von einem Ort gemeinsamen selbstbestimmten Lernens zusammen mit Konne, 29, und Vitali, 23 Jahre, immer konkreter. Dass sich etwas in der Gesellschaft ändern muss, stand für die drei außer Frage – aber wie? Auf jeden Fall durch Nachdenken, Verstehen und Austausch mit anderen. So kam es zur Idee der ADI. Lernen bedeutet »neue Dinge zu erfahren«, definiert Nadine, die derzeit als Servicekraft ihr Geld verdient. Es sei mehr als Wissen sammeln; der Mensch solle sich »mündig machen«. Das klassische humanistische Bildungsideal von moralischem Engagement und kritischem Denken hat auch für Konne eine große Bedeutung. »Nur wenn die Menschen ihre Verhältnisse reflektieren und soziale Beziehungen neu gestalten, kann sich wirklich etwas verändern«, betont er. Auf der bunten und übersichtlichen Internetseite veranschaulichen drei Schlagworte die Ziele der Initative: selbstbestimmtes Lernen, emanzipatorisches Denken und kritische Medien. Eine Spirale ist das Logo, der Leitsatz dazu lautet: »Sich selbst bilden, neue Wege beschreiten.«
Kein Dienstleistungsunternehmen Auf dem Weg zur Vereinsgründung gab es einige Hürden: die Suche nach geeigneten Räumen, der Antrag auf Gemeinnützigkeit, drei Monate Warten auf Antwort vom Finanzamt. Oder der interne Diskussionsbedarf: Soll Konsenspflicht oder Konsensorientierung Entscheidungsgrundlage sein? Wie finden sich noch mehr Leute, die Aufgaben übernehmen? »Wir sind kein Dienstleistungsunternehmen«, stellt Nadine klar. Die Leute müssten sich selbst organisieren, inklusive Kloputzen. Die Arbeit im Verein soll hierarchiefrei und in sinnvollen Strukturen ablaufen, weshalb zu Beginn der Treffen Aufgaben wie Moderation, Protokollieren und Führen der Redeliste vergeben werden. An den zweimal wöchentlich stattfindenden Bautagen ist die Aufgabenverteilung anders. Alle Leute, die Zeit haben, arbeiten auf der Baustelle in dem seit 17 Jahren leerstehenden Haus mit: Kabel aus den Wänden reißen, Bauschutt rausbringen. »Wir lernen immer in der Tätigkeit«, sagt Vitali, derzeit mehr Bau- als Schatzmeister der Gruppe. Dabei sorgen sie nicht nur in den eigenen Räumen für Fortschritt, sondern auch mal in den anderen Stockwerken, wo das Hausprojekt »KunterBunte19« entsteht.
Das Lernen hat schon begonnen Auch ohne fertige Räume beschäftigen sich die Initiatoren bereits in Arbeitsgruppen mit verschiedenen Themen. Eines davon ist das EU-geförderte Projekt »Europa im Cluster« mit einem Dutzend Teilnehmern. Es geht um die Undurchsichtigkeit gesellschaftlicher Entwicklung mit gravierenden Folgen: Orientierungslosigkeit und Ohnmacht. Nadine versucht, Klarheit über die Begriffe »Kolonialismus« und »Imperialismus« zu gewinnen. Vitali setzt sich mit Finanzsystemen und Wachstumszwang auseinander, während sich Konne mit der Geschichte Griechenlands beschäftigt – dass es dort fast 200 Jahre einen deutschen König gab, ist ihm neu. Im Juni wird es in den Räumen eines nahegelegenen leerstehenden Kaufhauses eine Ausstellung der Ergebnisse geben. Dort sollen dann die einzelnen Erkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Konne hat einen durchschnittlichen Tag in der fertigen ADI schon klar vor Augen: Vormittags soll es eher ruhig sein; jeder hat dann Zeit, an eigenen Texten zu arbeiten, Workshops zu planen oder sich weiterzubilden. Der Raum im Untergeschoß ist offen und kann zum Kopieren, Internetsurfen oder für Gespräche genutzt werden. Nachmittags ist in Konnes Vision dann mehr los im Haus: Lerngruppen, Lesekreise oder andere Projekte. Auf einer Pinnwand soll jeder seine Interessen, Fähigkeiten und Fragen auf Papier schreiben oder malen können – so einfach ist ein Kommunikationsmittel für gemeinschaftliche Lerngruppen und Netzwerkbildung geschaffen. Die Menschen sollen mit neuen Themen in Kontakt kommen können, sich gegenseitig beraten und kritische Fragen stellen: ein Raum, in dem vielleicht auch an den eigenen Vorstellungen von der Wirklichkeit gerüttelt wird. In den herkömmlichen Bildungseinrichten fehlt so etwas weitgehend, finden die jungen Leute. Ihre eigenen positiven Lernerfahrungen sind sehr unterschiedlich: Der ehemalige Soziologiestudent Konne erzählt voller Begeisterung von seinem ersten Eintauchen in die Texte von Bourdieu. Mit ihnen habe er die Theorie tatsächlich in der Wirklichkeit beobachten können. Nadine hat nach einem naturwissenschaftlichen Studium die Geisteswissenschaften »aufgesogen wie ein Schwamm«. Vitali lernte viel über das Leben, indem er eigene Ängste reflektierte. Aus den eigenen Interessen haben sich schon konkrete Seminarideen entwickelt: Nadine würde gerne über Moralphilosophie diskutieren und der Frage nachgehen, wie Menschen moralisch ohne Gesetz und Vorschriften handeln können: »Alleine stoße ich beim Nachdenken an meine Grenzen.« Katja arbeitet als Lehrerin und würde gerne neue Lernformen ausprobieren. Sie träumt von einem Deutschkurs für Leute, die ansonsten keinen Zugang dazu haben, und hofft auf eine freiere Atmosphäre ohne Noten, in der die Menschen mehr wagen und Fragen stellen. Katja freut sich, dass das ADI bereits eine große Tafel hat. Ähnliche Projekte, wie etwa die Autonome Schule, möchten die Räume mitnutzen. Französisch und Ernährungskurse, Mangazeichnen und Tanzen wurden bereits vorgeschlagen – reine Studententhemen?
Selbstbildung für alle? Im Leipziger Stadtteil Alt-Lindenau leben viele Menschen aus »bildungsfernen« Schichten. Nadine ist gespannt, ob es gelingen wird, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Das Angebot ist nicht nur für studierte Menschen gedacht. Konne gibt zu, dass sich dieses Ziel als ziemliche Herausforderung entpuppen könnte. Dabei ist es allen wichtig, ein großes, buntgemischtes Publikum zu erreichen. Für die Öffentlichkeitsarbeit fehlen freilich gerade Zeit und Geld. Der letzte Flyer war die Einladung zum Gründungstreffen im Juni 2012. Bei einer Info-Tour durch Leipzig wurde das Projekt an fünf verschiedenen Orten vorgestellt, was den Interessentenkreis auf rund 20 Personen anwachsen ließ. Trotzdem fehlen noch Aktive. Bei einem Workshop zur »Kommunikation und Selbstfindung« haben sie zu zehnt das eigene Konzept überarbeitet und ihr Leitbild präzisiert. Jetzt werden sie ihre Idee noch klarer nach außen tragen. Die Finanzierung ist noch schwierig, aber es gibt Hoffnung auf Fördermitglieder, auch von der Stadt. Für die Renovierung bekommen sie Gelder vom Amt für Stadtentwicklung. Im Frühling sollen die Räume nun eröffnet werden. Das Angebot zum Lernen wird kostenfrei sein, offen für alle, die vorbeikommen und neugierig durch die Scheibe in die Lern- und Denkwerkstatt schauen. •
Sara Mierzwa (23) studiert derzeit Friedens- und Konfliktforschung. Sie ist gerne in Kontakt mit Menschen – beim Tanzen, Musizieren, Briefe schreiben und Spazierengehen.