Unterwegs mit den Wissensnomaden
Eine Schule, die zugleich ein Unternehmen ist, das Lernende und Lehrende eigenverantwortlich organisieren? Eine verrückte Idee? Die »Knowmads« tragen das »mad« für »verrückt« durchaus bewusst in ihrem Namen.
»Willkommen in einer alternativen Bildungslandschaft«, klingt es in mir, als ich abends das kleine Souterrainlokal in Berlin verlasse. Glücklich steige ich auf mein Fahrrad und radle durch die fremde Stadt. Ich komme vom ersten Treffen unserer Lernpartnerschaft »Hosting Transformation« und bin beflügelt von den spannenden Projekten, in denen Bildung ganz anders gelebt wird, als ich es in Schule und Uni erlebt habe. Es ist der Beginn einer Reise, die uns quer durch Europa führen wird.
Jahrelang stand ich vor einer inneren Zerreißprobe: Der Wunsch, zu einer zukunftsfähigen Welt beizutragen und die Sehnsucht, ein selbsterkennender Mensch zu werden, wollten nicht zusammenfinden. Die Auflösung dieser Spannung begann vor drei Jahren. Ich war Teilnehmer beim »Lerngang« der »Pioneers of Change« und lernte in dem Jahr nicht nur Handwerkszeug für den Aufbau sozialer Projekte, sondern ebenso innere Klarheit und Ausrichtung für meinen persönlichen Weg. Damit war nicht mehr getrennt, was vorher zweierlei schien: Meine eigene Entfaltung und mein Beitrag für die Welt. Seitdem begleitet mich der Satz: »Wo sich meine Gaben mit den Bedürfnissen der Welt treffen, dort liegt meine Berufung.«
Seit dieser Zeit staunte ich umso mehr, wie wenig Stellenwert die Frage nach den eigenen Gaben und nach den Wegen, sie in die Welt zu bringen, in der Schule und in der Uni hat. So begann ich im Winter 2010 bei den Pioneers of Change mitzuarbeiten, und mein Wunsch wuchs, weitere ähnlich gelagerte Bildungsprojekte in Europa kennenzulernen. Wie es der Zufall wollte, riefen kurz darauf Boris und Jutta Goldammer von der Berliner »Akademie für Visionautik« bei uns an und luden uns ein, Teil einer EU-Lernpartnerschaft zu werden. Eine Einladung, der wir mit Freude folgten. Ein halbes Jahr später saßen wir im Zug von Wien nach Berlin. Es war das erste von sieben Treffen, an dem sich Vertreterinnen und Vertreter von sieben Bildungsprojekten beteiligten – von den Pioneers of Change aus Wien, der Akademie für Visionautik aus Berlin, vom »Youth Initiative Program« aus Schweden, dem Lernort Embercombe aus Südengland, den »Knowmads« aus Amsterdam, dem Kunstzentrum »Art Monastery« aus Italien sowie der »Society of Organisational Learning« (SOL) aus Ungarn.
Im geschützten Freiraum
Als wir gut zwei Dutzend Menschen aus den verschiedenen Organisationen uns beim ersten Treffen über unsere Projekte, ihren Arbeitsalltag und die Herausforderungen austauschen, bleibt uns regelrecht die Spucke weg angesichts der starken Parallelen, die sich überall zeigen. Wir merken, dass wir uns gerne intensiver kennenlernen möchten und dafür mehr Zeit brauchen, als von den Gastgebern geplant. Spontan ändern wir den Ablauf des Treffens. Schon darin spiegelt sich ein gemeinsamer Arbeitsstil aller Beteiligten – das »Mitgehen im Fluss«. Statt ein fixes Programm durchzuboxen, lieben wir es, zu spüren, was gerade wirklich ansteht, und dies auch umzusetzen. Wenn wir uns gegenseitig von der Methodenvielfalt in unseren Bildungsprozessen erzählen, werden weitere Gemeinsamkeiten deutlich. Da begegnen sich tiefe Gespräche mit knackigen Präsentationsformen, Arbeit in der Natur mit klarem Projektdesign, Kommunikation im Team mit dem Layout einer Homepage, Feuerlauf mit Finanzierungskonzepten und Tiefenökologie mit Theorieimpulsen. Lernräume sind offenbar so vielfältig wie die Innenräume der Menschen.
»Hosting Transformation« ist der englische Titel unserer Lernpartnerschaft, was soviel bedeutet wie »Gastgeber des Wandels sein«. Gemeint ist damit vor allem die Kunst, Freiräume zu schaffen, in denen das entstehen kann, was da sein will: Der Raum der Visionauten in Berlin ist sauber und schlicht, die Wände dürfen Leinwand für den gemeinschaftlichen Prozess werden und füllen sich bald mit Post-its und bunten Blättern. Wir wechseln zwischen lockeren Übungen, Gesprächen in Kleingruppen und intensiven Diskussionen im großen Kreis. So fühlen wir uns pudelwohl und geborgen. Es ist eine besondere Qualität, eine möglichst sichere und klare Atmosphäre zu schaffen, in der über wesentliche Dinge offen gesprochen werden kann – wie das gelingt, wird eines unserer gemeinsamen Themen.
Unseren Lernansatz bezeichnen wir im Lauf der Gespräche zunächst intuitiv als »transformatives Lernen«. Der Erziehungswissenschaftler Edmund O’Sullivan beschreibt diese Qualität als die »Erfahrung einer tiefen, strukturellen Veränderung in den grundlegenden Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns. Es bedeutet einen Wandel des Bewusstseins, der die Art und Weise, auf die wir uns selbst innerhalb der Welt empfinden, tiefgehend und unwiederbringlich verändert«.
Wie lässt sich freie Bildung finanzieren?
Aber wo Licht scheint, gibt es auch Schatten. In unserem Kreis gibt es auch Gemeinsamkeiten bei schwierigen Themen: Dass wir finanziell nicht genährt sind und über unsere natürlichen Grenzen hinaus arbeiten. Dass wir selbst noch junge Pflanzen mit zarten Trieben sind, die versuchen, in diesem System zu überleben, dass auch unser Einsatz für den Wandel oftmals an und über die eigenen Kräfte geht, und dass wir unserem Anspruch, als »gute Beispiele« für die Teilnehmenden voranzugehen, leider nicht immer gerecht werden. Es tut gut, dies unter Gleichgesinnten ansprechen zu können. Wir nehmen uns das Permakulturprinzip »Das Problem ist die Lösung« zu Herzen und wählen diese Herausforderungen als Themenschwerpunkte für die nächsten beiden Treffen.
So steht unsere gemeinsame Arbeit in Amsterdam unter der Frage: Wie können wir unsere Bildungsangebote auf finanziell gute Beine stellen? Die einzelnen Projekte finanzieren sich sehr unterschiedlich: Während manche Beiträge erheben und andere sich rein über öffentliche Förderungen finanzieren, übernehmen die Knowmads Aufträge für Firmen, die von den Studierenden umgesetzt werden. YIP in Schweden hat mittlerweile ein weites Netzwerk von Partnerinnen und Partnern aufgebaut und kann neben den Geldbeiträgen auf Schenk- und Tauschwirtschaft zurückgreifen. Mein Möglichkeitshorizont weitet sich. Wir haben für die Pioneers of Change leider noch kein Geheimrezept für die ultimative Finanzierungsmethode entdeckt, doch dafür kehren wir mit viel Inspiration zurück.
Wie könnte Bildung als Gemeingut so organisiert werden, dass sie Menschen offen zugänglich ist und dass diejenigen, die den Bildungsraum halten, dabei genährt sind? Vor allem, wenn wir uns nicht in eine Uni-Struktur begeben oder von öffentlichen Förderungen abhängig machen wollen. Können sich die Teilnehmer gegenseitig unterstützen? Selbst entscheiden, was sie bezahlen – in einem gewissen Rahmen? Damit experimentieren wir gerade. Welche anderen Formen von Ausgleich gibt es noch außer Geld? Können Bildungsangebote in alternative ökonomische Strukturen wie Tauschringe verwoben werden? An dieser Stelle gibt es noch viel Entwicklungspotenzial. Bei den Pioneers of Change nähern wir uns dem Thema derzeit mit Übungen zur Schenkökonomie an.
Ein Lernort zum Arbeiten und Träumen
Die Frage nach der persönlichen Balance ist Thema des nächsten Treffens, das im Süden Englands stattfindet. Inmitten von Wald, Jurten, einem riesigen Gemüsegarten und zahlreichen Bildungsprojekten lernen wir in Embercombe von Ort und Menschen, was es heißt, Kultur und Natur sowohl zu verbinden als auch zu unterscheiden. Was in uns lassen wir wild – und was kultivieren wir?
Ich habe das Gefühl, nach Hause zu kommen. Wir sind eingebunden in die tägliche gemeinsame körperliche Arbeit im Garten und im Wald, wir lernen von der Erde. In Embercombe leben zehn Menschen und freiwillige Helferinnen und Helfer; wöchentlich kommen neue Gruppen, um mit und in der Natur zu lernen. Innerhalb der großen Gemeinschaft, die sich jeden Tag trifft, im Kreis sitzt, den Tag bespricht und eine klare, einfache Organisationsform hat, wirkt das Leben in Embercombe wie von selbst katalysierend für persönliche Prozesse. Ich schlafe alleine im Wald, springe in der Früh in den See, und nachmittags sitzen wir in einem umgebauten Flugzeughangar um Flipcharts. Es ist ein erdiger, aber sehr feiner Ort; hier gibt es Matsch (sehr viel Matsch), Einfachheit, liebevolle Blicke, feine Details am Wegesrand und wunderbares Essen. Jeden Morgen geht eine Person für eine Stunde als »Träumer« hinaus in den Wald und hört, spürt, fühlt, was der Ort zu sagen hat und braucht.
In den folgenden Monaten besuche ich das »Schumacher College« in England, entdecke viele Gemeinsamkeiten der Pioneers of Change mit dem Bildungsjahr »Project Peace«, erfahre von der »Bee School« in Leipzig, vom »Peace Lab« in Steyerberg und dem »One Year in Transition Training«. Ich treffe Menschen aus den Netzwerken des Ökodorf-Trainings »Gaia Education« und der »Kaospiloten« und lese von der »Team Academy«. Auch hier spüre ich wieder diese Kultur des Lernens, eine ähnliche Qualität des Herzens und die gleichen Intentionen. In mir wird es wohlig warm: All das sind Imagozellen wie bei der Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling. Während sich die vollgefressene Raupe verpuppt und innerlich auflöst – nur das Herz schlägt weiter – bilden diese Zellen Strukturen, die das Bild des verwandelten Wesens schon in sich tragen. Der Bildungs-Schmetterling wächst.
Joschi Sedlak (29) studierte transnationale Friedensforschung, begleitet heute den Lerngang »Pioneers of Change« und liebt und lebt individuelle und kollektive Potenzialentfaltung.
Transformatives Lernen quer durch Europa
An vielen Lernorten in Europa steht gesellschaftlicher Wandel im Mittelpunkt. Diese sind Teil der Lernpartnerschaft »Hosting Transformation«.
→ www.hostingtransformation.eu
Embercombe, Südengland
Dieser Lernort lieg im malerischen Tal am Dartmoor-Nationalpark. Man kann dort für kurze oder längere Zeit mitarbeiten oder gezielt Kurse buchen.
→ www.embercombe.co.uk
Art Monastery, Italien
In dem ehemaligen Kloster bei Labro geht es um die transformative Kraft des Künstlerischen. Hier kann man sich zu innerer Einkehr zurückziehen, an Kunstprojekten mitwirken oder eine Aufführung mit Beherbergung tauschen.
→ www.artmonastery.org
Youth Initiative Program (YIP), Schweden
Südlich von Stockholm liegt der Ort Järna mit vielen über Jahre gewachsenen alternativen Projekten. Dort findet das Youth Initiative Program statt, eine Ausbildung in sozialem Unternehmertum und Projektentwicklung.
→ www.yip.se
Knowmads, Niederlande
Als Schule für Menschen, die mit Unternehmergeist etwas Positives in der Welt bewirken wollen, wagen die Knowmads in Amsterdam viele Experimente.
→ www.knowmads.nl
Society of Organisational Learning (SOL), Ungarn
Das weltweite Netzwerk der SOL, das Fähigkeiten in systemischem Denken, Visions-Verwirklichung und Teamarbeit vermittelt, hat einen Ableger in Ungarn.
→ www.solonline.org, www.solintezet.hu
Pioneers of Change, Wien
Die Pioneers starten im April 2013 zum vierten Mal ihren »Lerngang« für Weltveränderer, der junge Menschen beim Aufbau konkreter Projekte begleitet.
→ www.pioneersofchange.at
Akademie für Visionautik, Berlin
Hier finden interdisziplinäre Sommerschulen und Workshops statt, um fantasievoll ambitionierten Visionen zur Verwirklichung zu verhelfen.
→ www.visionautic.org
Eine Schule, die zugleich ein Unternehmen ist, das Lernende und Lehrende eigenverantwortlich organisieren? Eine verrückte Idee? Die »Knowmads« tragen das »mad« für »verrückt« durchaus bewusst in ihrem Namen.
Johannes Heimrath Heute sind wir im Berliner »Social Impact Lab«, und da macht sich in den Büroräumen an den vielen Team-Schreibtischen eine selbstbestimmte Arbeitsatmosphäre bemerkbar. Das hat mit dem roten Faden unseres Gesprächs zu tun: Selbstbildung und
Wir lernen beim Vorwärtsgehen, wir lernen beim Gehen.« So sangen in den 70er Jahren noch die »Schmetterlinge« in ihrem Album »Proletenpassion«. Die Polit-Pop-Musiker aus Österreich waren keine larmoyanten Barden, die nebenbei etwas Klampfe spielten, sie waren