Wie werden wir in Zukunft lernen?
Weltweit webt die Spinne der informativen Entgrenzung ihr Netz. Sie bahnt Wege in eine neue Bildungslandschaft, in der Wissen Gemeingut wird.
»Wir werden eines Tages aufwachen und uns fragen, was wir da getan haben, indem wir mit diesem Schulsystem weltweit Millionen von unschuldigen Menschen jedes Jahr aufs Neue als Versager abstempeln!«, sagt der indische Graswurzelaktxivist Manish Jain über das System der staatlichen Pflichtschule. Die »Schulfrage« ist heute eine globale Frage – das Modell der staatlichen Pflichtschule mit Jahrgangsklassen, Fächerkanon, Zensuren und Züchtigung ging mit der Kolonialisierung als Prototyp moderner Bildung um die Welt. Was zeichnet diesen Prototypen aus?
Es war im Jahr 1792, als das Allgemeine Preußische Landrecht die Schule zur »Veranstaltung des Staates« erklärte, wie es bis dahin nur Kasernen und Gefängnisse waren. Preußen verfolgte eine aggressive Eroberungspolitik, und das stehende Söldnerheer brauchte gut ausgebildeten Nachwuchs. Gleichzeitig wurden Forschungseinrichtungen aufgebaut, die eine naturwissenschaftliche Vorbildung erforderten – die Quantifizierung der Welt begann. Der aufstrebende Nationalstaat brauchte die junge Generation aller gesellschaftlichen Schichten, und was konnte die Identifikation mit dem neuen Staat mehr fördern als »gemeinsame Erlebnisse« in der Kindheit? Also wurden nicht nur die Unterrichtsinhalte, sondern auch die Lehrerbildung zentralisiert. Die vereinheitlichte Sozialisation des Staatsvolks war gleichzeitig ein Abgrenzen nach außen, ein Feindbilder-Prägen gegenüber den Nachbarstaaten, und ein Nivellieren, ja sogar ein Auslöschen regionaler Unterschiede nach innen.
Österreich folgte Preußen in dieser Entwicklung: Kaiserin Maria Theresia ließ sich für den Ausbau des österreichischen Pflichtschulwesens ausgerechnet von den politischen Rivalen aus Berlin beraten. Von ihrem Staatskanzler wiederum sind einige Argumente für die Wichtigkeit eines ausgebauten Bildungssystems überliefert. Der Fürst nämlich braucht die »Köpfe, Arme und Geldsäckel« für die »Verwirklichung seiner Pläne«, und »nichts ist auch geeigneter, sie zu formen, als Erziehung«. Weiter solle man »den Staatsbürger Sitten lehren, bevor man Dienste von ihm verlangt«, dies seien »ebenso unerlässliche Erfordernisse, wie es das Bearbeiten der Felder und die Aussaat sind, bevor man die Früchte ernten kann«. Dieser O-Ton aus dem 19. Jahrhundert macht die grundlegende Schieflage deutlich, die dem staatlichen Schulsystem bis heute innewohnt: Der »Erziehungsgarten« wird nicht für die Kinder gepflegt, damit sie mit Freude und vielen Anregungen aufwachsen und sich entfalten können, sondern er dient den Zwecken der Obrigkeit. Der Fürst blickt von oben auf das Volk herab. Die Degradierung sich entwickelnder Menschen zu »Humankapital«, über die wir heute so entsetzt sind, ist also nichts Neues. Sie war vom Beginn der staatlichen Pflichtschule an bewusst als Tendenz angelegt.
Aber darf man das alles so negativ sehen? War nicht der Ausbau eines »Schulwesens für alle« auch eine soziale Revolution? Alle Kinder dürfen in die Schule gehen, werden dafür freigestellt! Meine Großmutter hat mir das »Trauma ihrer Jugend« oft erzählt – ihr vierzehnter Geburtstag war bereits im Januar, damit endete damals die gesetzliche Schulpflicht in Österreich. Weil die Eltern ihre Mithilfe in der bescheidenen Landwirtschaft dringend brauchten, konnte sie das letzte Schuljahr nicht bis zum Ende besuchen. Bis Ostern, das war der Kompromiss, dabei wäre sie so gerne noch bis zum Sommer hingegangen! Für sie war die gesetzliche Schulpflicht also ein Segen, sonst hätte sie womöglich schon viel früher mit der Schule aufgehört, und zwar gegen ihren eigenen Wunsch.
Hätte meiner Großmutter ein Recht auf Bildung weiterhelfen können? Und hätte sie es heute durchsetzen können? Meine Großmutter kommt aus Österreich, wo es keinen Schulanwesenheitszwang gibt.
Hier hilft meines Erachtens nur eine gedankliche Entflechtung weiter: Eine Kritik des bestehenden Pflichtschulsystems lässt sich durchaus mit dem Engagement für das Recht auf Bildung der oder des einzelnen verbinden. Gegenwärtig jedoch wird hier das eine gegen das andere ausgespielt. Die Schulpflichtfrage ist und bleibt ein heißes Eisen, das hierzulande kaum jemand anzufassen wagt. In der Bildungsdebatte innerhalb der deutschen Piraten-Partei schlagen deshalb die Wellen hoch:
Kaum haben sich die Berliner Piraten mit knapper Mehrheit dazu entschieden, für eine gesetzliche Alternative zur Schulanwesenheitspflicht einzutreten (»Gegen Angst und für die Freiheit!«), wird beim Bildungsausschuss der Piraten in Hessen der Ruf nach einem »klaren Bekenntnis zur Schulpflicht als tragende Säule der Demokratie« laut. Da kollidieren Weltbilder.
Natürlich kann man den Standpunkt verstehen, dass sich der aufwachsende Mensch erst einmal einen Überblick verschaffen und seine kritische Urteilskraft bilden können soll, bevor er verantwortlich mitgestalten darf und das Wahlrecht erhält – aber warum sollte dazu das Durchlaufen einer einheitlich festgelegten Schulkarriere erforderlich sein? Das Schulsystem macht junge Menschen zu Objekten, die »geformt« werden sollen, um im Arbeitsleben zurechtzukommen und das demokratische Spiel mitspielen zu können. Wer aber spricht sie als Subjekte an, fragt nach, welche Impulse und Ideen sie mitbringen?
John Taylor Gatto schockierte die Öffentlichkeit, als er 1991 in einer Rede anlässlich seiner Ernennung zum »Lehrer des Jahres im Bundesstaat New York« den »heimlichen Lehrplan« der Schule thematisierte: Er führte sieben Lektionen an, die er den Kindern als Lehrer in diesem Schulsystem hauptsächlich beibringen würde, und zwar eben gerade nicht Rechnen, Schreiben und Lesen. Er sprach über die unnatürliche Fragmentierung des Lernstoffes in unzählige kleine Kapitel, über die Schulglocke, die einem jegliches Arbeiten aus Leidenschaft aberziehe, das Bewertungs- und Überwachungssystem, das den einzelnen abhängig mache von äußerer Anerkennung und von Bewilligungen und Befehlen »von oben«.
Der Begriff des heimlichen Lehrplans wurde übrigens bereits in den 1950er Jahren von dem Systemtheoretiker Talcott Parsons eingeführt – allerdings in völlig unkritischer Absicht, vielmehr als eine positive Präsentation der Entdeckung, dass das Umfeld der Schule die ideale Vorbereitung für die Fließbandproduktion der Industriegesellschaft ist!
Seitdem hat sich freilich Vieles zum Besseren bewegt, doch leider nicht grundlegend. Das 21. Jahrhundert verlangt von uns allen immer mehr eigenständige Orientierungsleistung, die Fähigkeit zur selbständigen Beziehungsaufnahme und kreative Problemlösungen ab. Der Pädagoge Wolfgang Klafki hat in den 1990er Jahren die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zur Mitbestimmung und zur Solidarität als Ziele der Allgemeinbildung formuliert. Und alle drei stehen sie mit dem heimlichen Lehrplan, der Anpassung, Unterordnung und Konkurrenz vermittelt, in direktem Widerspruch. Wer diese Dinge ausführlicher betrachtet, der kann zu folgendem Ergebnis gelangen: Der »Prototyp moderner Bildung«, wie es die preußische Pflichtschule war, diente anderen wirtschaftlichen wie auch sozialen Erfordernissen: der Erziehung von Untertanen, die sich den Ansprüchen Herrschender unterwarfen und widerspruchslos bereit waren, monotone Arbeit zu leisten. Diese Ziele sind heute schlichtweg überholt.
Das System überwinden
Zugegeben, die Perspektive, aus der das staatliche Pflichtschulsystem überholt erscheint, ist keine alltägliche. Die Normalität ist heute noch eine andere. Aber beginnen nicht gerade überall dort neue und heilsame Entwicklungen, wo die Norm vom Gesunden unterschieden wird? Dort, wo eine gewisse Dekonstruktion des Bestehenden geleistet wird, auch wenn das bedeutet, sich von liebgewordenen Vorstellungen und Gewohnheiten verabschieden zu müssen?
Bei allem Hinterfragen des staatlichen Schulwesens geht es darum, zu den grundlegenden Prämissen vorzustoßen. Die Rechtsstaatlichkeit im guten Sinn zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie allgemeine Gesetze formuliert und diese mit Hilfe des Gewaltmonopols auch durchsetzen kann. Schließlich ist der Staat der Einzige, der legitimiert ist, Menschen gewaltsam ihrer Freiheit zu berauben, wenn er seine Handlung aus der bestehenden Gesetzesordnung begründen kann. Dies kann für das gesellschaftliche Zusammenleben richtig und wichtig sein. Aber eine lebendige Bildungslandschaft verträgt keine mit staatlicher Macht durchgesetzten Direktiven von oben. Sie bedarf rechtlicher Rahmenbedingungen, die immer ermöglichenden, niemals aber nötigenden Charakter haben sollen. Für die konkreten Handlungen des Was, Wie, Wann, Wo und Mit-Wem des Lernens kann es keine Anweisungen von oben geben, sondern nur gegenseitige Inspiration und Beratung – auf Augenhöhe. Kein noch so profiliertes Expertenteam kann allgemeine Pläne festlegen für Menschen und Lernsituationen, die sie selbst gar nicht kennen. Der Schritt vom zentralistisch-hierarchisch durchorganisierten Schulsystem zur freien Bildungslandschaft bedeutet also nichts Geringeres als eine komplette Umstülpung der Grundstruktur.
Die offene Internet-Enzyklopädie Wikipedia vollzog eine ähnliche Umstülpung: Niemand beauftragte ausgewiesene Experten, fachlich fundierte Artikel zu schreiben, sondern das Verfassen von Artikeln wurde ohne Kompromisse freigegeben. Die Qualitätskontrolle wurde ganz dem Dialog und der gegenseitigen Korrektur überantwortet – was viele für unmöglich gehalten hatten, wurde zu einer Erfolgsgeschichte.
Warum fällt es uns nur so schwer, uns ein Bildungswesen nach diesem freiheitlichen Prinzip vorzustellen? Ohne diese Zentralinstanz, die sagt: »Du darfst unterrichten, du nicht«, die festlegt, welche Bildungswege als solche anerkannt werden und welche nicht? Stattdessen wäre ein Bildungswesen nötig, das für eine lebendige Gesellschaft mündiger Menschen steht: für Menschen, die ihre jeweiligen wirtschaftlichen Beziehungen und kulturellen Bezüge – im Rahmen einer wahrhaft demokratischen Rechtsordnung – solidarisch und selbstverantwortlich gestalten.
Diese Perspektive ist denkbar, doch wird sich nur dann ein gesamtgesellschaftlich entwicklungsfähiger Weg eröffnen können, wenn die Macht der bestehenden Systemzwänge nicht unterschätzt wird und die neuen Impulse vor den Mechanismen der systemimmanenten Gewohnheiten geschützt werden. Deshalb kann eine zeitgemäße Bildungsbewegung keine politische Bewegung im alten Stil sein – indem sie das Alte durch ein wie auch immer geartetes »neues System« ersetzen möchte. Vielmehr kann sie sich nur selbst aus einer freien Kulturbewegung heraus entwickeln, die nicht mehr in staatlichen Kategorien denkt und für andere plant, sondern kraftvoll aus der unmittelbaren menschlichen Begegnung und Anerkennung heraus lebt. Nicht veränderte Gesetze oder die Vision einer zu gründenden Institution können die primären Anliegen dieser Bildungsbewegung sein – es gilt, die Zusammenarbeit und gegenseitige Förderung von Individuen, jenseits von Nationalität und betrieblicher oder familiärer Gebundenheit aufzubauen.
Ähnlich wie sich Amnesty International als transnationale Organisation primär um die Menschenrechte konkreter Individuen kümmert und daran die jeweilige Staatsverfassung exemplifiziert, ist ein mutiger zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss notwendig, der explizit selbstbestimmte Bildungswege ermöglicht und fördert und so die Grenzen der unbrauchbar gewordenen Bildungssysteme erweitert und wandelt.
Wir, als bildungsinitiative Menschen, können diesen Schritt in die Selbständigkeit und Selbstverwaltung wagen, damit neue Ufer sichtbar werden! – Sicherlich, im freien Feld erwartet uns kein paradiesisch gepflegter Garten, sondern womöglich vertrocknete Wildnis, die obendrein mit den falschen Gewohnheiten des alten Systems vermüllt ist. Aber wir treffen auf konkrete Gestaltbarkeit. Und wir können darauf vertrauen, dass alle Schwierigkeiten, denen wir dabei begegnen – ob in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit, im knallharten wirtschaftlichen Existenzkampf in einem durch das staatliche Bildungsmonopol manipulierten Feld oder im täglichen Ringen um sinnvolle Prozesse –, dass diese Schwierigkeiten im Kern nur ein Zeichen dafür sind, dass wir uns im Aufbau einer neuen Kultur befinden.•
Clara Steinkellner (27), studierte Internationale Entwicklung, Rumänisch und Germanistik in Wien und Berlin. Sie ist Mitbegründerin der Freien Bildungsstiftung und derzeit Praktikantin beim Brüsseler European Forum for Freedom in Education.
Lust auf außersystemische Bildung?
www.effe-eu.org
www.freiebildungsstiftung.de
www.johntaylorgatto.com
Literatur:
• Ulrich Klemm: Mythos Schule. Edition AV, 2008
• Clara Steinkellner: Menschenbildung in einer globalisierten Welt. Edition Immanente, 2012
• Bertrand Stern: Schluss mit Schule! tologo Verlag, 2008
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Wo immer man über Roma schreibt, scheint man Gefahr zu laufen, sich an Vorurteilen die Finger zu verbrennen. Norbert Mappes-Niediek wagt es trotzdem und tritt ohne Scheu direkt in das Minenfeld an Klischees und Feindbildern – in der Absicht, sie gründlich unter die Lupe zu nehmen
Die Erde als Lehrerin, nicht als abstrakte Idee, sondern als braune Substanz, ist die Idee eines künstlerischen Bildungsprojekts – zur Nachahmung empfohlen!