Eine kleine Geschiche der internationalen »Kino«-Bewegung.
von Teresa Distelberger, erschienen in Ausgabe #19/2013
Es war einer dieser Zufälle, die eigentlich keine sein können. In Vorlesungen über Filmtheorie hatte ich an der Uni Wien semesterlang nur gelernt, wie man Filme anschaut, decodiert und einordnet. In meinem Kopf hatten währenddessen erste eigene Filmideen Form angenommen. Der klassische Weg auf die Filmakademie schreckte mich jedoch ab. Die ersten Schritte schon unter dem Einfluss von Geschmack und Urteil der Professoren zu tun – das war nichts für mich! Es musste auch anders gehen.
Ich kaufte mir gerade eine Fahrkarte in einem Pariser Vorstadtbahnhof, als mich wie aus dem Nichts heraus die lustig aussehende Québécoise Martine Asseline ansprach: »Salut, ça va?« Etwas verwundert freute ich mich über diese überraschende Begegnung. Auf der Zugfahrt fragte ich, was sie denn so mache, und sie meinte, sie sei »Vidéoartiste«. Als sie hörte, dass auch ich gerne Filme machen lernen wollte, erzählte sie mir von »Kino«. In ihrer Heimatstadt Montréal hatten sich 1999 einige Freunde rund um die Filmstudenten Christian Laurence und Jéricho Jeudy der Herausforderung gestellt, ein Jahr lang jeder monatlich einen Kurzfilm zu machen. Sie wollten nicht länger auf große Produktionsbudgets warten. Ihr Slogan war: »Do well with nothing, do better with little, but do it right now!« (Mach aus nichts was Gutes, aus wenig was Besseres, aber vor allem: Tu’s jetzt!) Jeden Monat führten sie vor, was an Filmen gerade entstanden war, und gaben der neuen Bewegung den Namen »Kino«, ohne zu ahnen, dass dieser durch seine Doppeldeutigkeit im deutschen Sprachraum später für Verwirrung sorgen würde. 2001 starteten sie in diesem Geist das erste »KinoKabaret«. Das Konzept ist einfach: Während eines Kurzfilmfestivals treffen sich kreative Menschen – mit Filmerfahrung oder ohne – und drehen innerhalb von 48 Stunden Kurzfilme, die sofort gezeigt werden. Bald kam diese Idee auch nach Europa, und in vielen Städten entstanden lokale Kino-Gruppen.
Learning by doing Bei meinem ersten KinoKabaret in Paris spielte ich eine kleine Filmrolle als Putzfrau, dann lernte ich Filip und Olli aus Hamburg kennen. Wir dachten uns eine kurze Story aus, zogen los und setzten sie um. In der Nacht ging es ans Schneiden. Ich saß ahnungslos vor einem Computer, und Olli sagte zu mir: »Du drückst hier und hier und hier, und dann schneidest du das.« Ich sprang ins kalte Wasser und konnte dank dieser nächtlichen Kurzeinführung ein paar Monate später meinen ersten eigenen Kurzfilm fertigstellen, den ich im Dezember 2003 bei Kino Paris zeigte. Ich hatte meine »alternative Filmschule« gefunden und fuhr 2004 von einem KinoKabaret zum nächsten. Die Atmosphäre von spontaner Kollaboration, verschwimmenden Rollen, gegenseitiger Inspiration, himmlischer Absurdität und ständigem Learning-by-doing fand ich in den verschiedenen Ländern wie ein Erkennungsmerkmal immer wieder. In Brüssel experimentierte ich als Kamerafrau, in Hamburg versuchte ich mich an einem konzeptuellen Kurzfilm und führte zum ersten Mal Regie mit mehreren Schauspielern. In Montréal setzte ich zwei Ideen mit tollen Kameraleuten und einem Schnittprofi um. Zurück in Wien, gründete ich daraufhin mit großem Enthusiasmus »kino5« – die erste österreichische Kino-Gruppe. Philipp Kaindl war von Anfang an dabei, als wir in einem kleinen Kellergewölbe zum ersten Mal auch in Wien einen Raum für selbstgemachte Kurzfilme eröffneten. Seither ist einige Zeit vergangen. Nach ein paar Jahren intensiver Lernzeit ging ich selbst wieder andere Wege. Philipp ist bei kino5 geblieben und führt den Verein heute noch weiter. Als er damals auf Kino stieß, hatte er gerade sein Spanisch- und Wirtschaftsstudium abgeschlossen. Film war ein neues Medium für ihn, mit dem er – abgesehen von der Rolle als Filmkonsument – nicht viel zu tun hatte. Die autodidaktische Filmschule hat bei ihm Wirkung gezeigt, denn heute lebt er von diversen kleinen Aufträgen – von der Fernsehdoku bis zum Werbefilm. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, und ich war neugierig zu hören, wie Philipp heute über seine Lernreise mit kino5 denkt. In seiner Wohnung in Wien treffen wir uns zu einem Gespräch. Als wir dort nebenbei ein paar Fotos machen, fühle ich mich innerhalb von Minuten in alte Zeiten zurückversetzt. Wie wirkt das mit dem düsteren Winterlicht? Oder doch mit Blitz? Oje, der macht aber Schatten! Wie stellt man auf dieser Kamera den Blitz schwächer ein? Ich wusste gar nicht, dass meine Kamera so eine Funktion hat. So schnell geht’s. Wieder was gelernt.
Was macht einen lebendigen Lernort aus? Dieses Lernen. Es scheint ständig zu geschehen, wie nebenbei. Doch im Gespräch will es sich gar nicht so leicht fassen lassen. Was führt eigentlich dazu, dass ein Kontext wie die Kino-Bewegung ein lebendiger Lernort wird? Ein paar Eckpunkte können wir schließlich umkreisen: Ausprobieren und einfach tun. Da ist dieses Gefühl, dass jedes Experiment möglich ist. Philipp kann es beschreiben: »Man muss nicht vortäuschen, perfekt zu sein, sondern darf sich selbst und den anderen gegenüber eingestehen: ›He Leute, das mache ich zum ersten Mal. Ich probier’ jetzt, eine Animation umzusetzen. Hat jemand damit schon Erfahrung?‹ Einmal habe ich bei einem KinoKabaret in Hamburg gesagt, ich möchte diesmal Kameramann machen, und war bei fünf Projekten als Kameramann dabei, obwohl vorher mein Schwerpunkt auf Regie und Schnitt lag. Da wurde nicht hinterfragt: ›Kannst du das überhaupt?‹ In der Gesellschaft muss man oft den Schein wahren, man wüsste, was man tut – gerade das umzukehren, ist für viele sehr befreiend.« Gut genug sein. Ein wesentlicher Aspekt der KinoKabarets ist der Zeitfaktor. Die Filme müssen nach 36, 48 oder 60 Stunden fertig sein. »Das hebt den Anspruch auf Perfektion a priori auf, denn jeder weiß, dass man in diesen Zeiträumen nichts Perfektes machen kann«, meint Philipp. Auch für mich war dieser Rahmen eine willkommene Kur gegen meinen Perfektionismus: Ich hätte sonst gar nicht mit dem Umsetzen von filmischen Ideen angefangen, weil ich alles bis ins letzte Detail durchdacht hätte. Aber in einem KinoKabaret heißt es immer: »Tu es jetzt!« Nutzen, was da ist. Selbstverständlich kann man mit Geld viel anstellen. Es ist jedoch eine große Freiheit, sich nicht davon abhängig zu machen. Der Kino-Slogan hat mich gelehrt, mit dem zu arbeiten, was da ist, etwa eine kleine Kamera in der verfügbaren Qualität zu nutzen und zu schauen, was man rausholen kann. Manchmal wird eben die Geschichte an das, was zur Verfügung steht, angepasst. »Wieviel man mit Kreativität wettmachen kann«, findet Philipp besonders spannend. »Wenn du unter der Vorgabe der 36 Stunden eine Außenszene drehen musst, und du hast Regen statt Sonnenschein, musst du dein Drehbuch dahingehend adaptieren. Zur Kernaussage deines Films kannst du auf verschiedenen Wegen kommen.« Fragen stellen und Wissen teilen. Ähnlich wie es bei freier Software üblich ist, machten wir beide im Kino-Netzwerk die Erfahrung, dass die meisten Menschen gerne freigiebig und offen sind, ihre Erfahrungen, Expertise und Wissen mit anderen zu teilen. Philipp beobachtet, dass es häufig eher das Problem gibt, dass sich manche nicht zu fragen getrauen. »Da gibt es manchmal Leute, die vor ihrem Computer nicht weiterwissen, aber nicht rechtzeitig sagen: ›Hey du, könntest du mir bitte mal helfen?‹«. Gesehen werden ohne Konkurrenz. Filme leben zwischen Leinwand und Publikum – in der kurzen Zeit ihrer Projektion, während sie gesehen werden. Für junge Filmschaffende ist es in der Festivallandschaft gar nicht so leicht, so weit zu kommen. Die Kino-Vorführungen, Screenings genannt, schaffen daher regelmäßig Raum, damit selbstgemachte Filme lebendig werden können. Allein die Tatsache, dass immer wieder neue Filme gebraucht werden, damit der Abend stattfinden kann, ermutigt zu neuen Produktionen und damit Lernerfahrungen. Es war mir von Anfang an sehr wichtig, mit der Moderation der monatlichen Screenings eine konkurrenzfreie Zone zu schaffen. Wer mit den allerersten filmischen Gehversuchen daherkommt, führt genauso vor wie der Profi, der schon viel Erfahrung hat. Doch wie hat sich dieses Prinzip weiterentwickelt? Ist die Offenheit im Netzwerk gegenüber den Anfängerinnen und Dilettanten geblieben? Philipp erzählt, dass dieses Thema inzwischen alle Kino-Gruppen weltweit in unterschiedlichem Ausmaß beschäftigt. »Man sieht jetzt, welchen Herausforderungen sich eine Idee wie Kino stellen muss, wenn sie immer beliebter wird. Gerade bei einem KinoKabaret gibt es eine natürliche Anzahl von Teilnehmern, die genau richtig ist. Vor zwei Jahren hatten wir einen großen Zustrom, konnten nicht mehr alles zeigen und trafen schließlich eine subjektive Auswahl, um bewusst eine Durchmischung zu haben. In Hamburg haben sie das so gelöst, dass sie fünf statt drei Screenings pro KinoKabaret machen.« Weiter wachsen. Während in den Gruppen der quantitative Andrang wächst, drängt es viele einzelne bald nach qualitativem Wachstum. Bei mir war es irgendwann so weit, dass ich Lust auf einen langsameren Filmstil bekam – sowohl in der Machart als auch in der Erzählweise. Ich drehte über mehrere Jahre hinweg »Die Filmkameradin«, einen längeren Dokumentarfilm mit meiner Schwester Maria, einer jungen Frau mit Trisomie 21. Danach pausierte das Thema Film in meinem Leben. Philipp hatte die Erfahrung der internationalen Zusammenarbeit zu einem nächsten Schritt ermutigt: Er arbeitet an »Batesian«, einem kollaborativen Filmprojekt über eine utopische Welt, in der Menschen Fähigkeiten untereinander austauschen können. Die Regeln dieser Welt werden im Online-Forum www.batesian.org von allen Interessierten mitgeschrieben. Auch Entscheidungen über Orte und Kostüme werden dort gemeinsam gefällt. So entstanden erste Drehbücher, die in einem internationalen Team als Langspielfilm verwirklicht werden sollen. Bis wir Fähigkeiten unmittelbar aufeinander übertragen können wie in Batesian, wird es die unterschiedlichsten Bedürfnisse beim Lernen geben. Wer genau sucht, findet aber neben dem offiziellen Weg viele Möglichkeiten für selbstermächtigte Bildung. Ich empfehle: Nicht auf optimale Bedingungen warten, sondern lossurfen – von einer Erfahrung zur nächsten. •
Teresa Distelberger (30) studierte Linguistik und Film und gründete 2004 »kino5 Vienna – Plattform für unabhängige Filmschaffende«.