Gesundheit

Heilsames Singen

Der Verein »Singende Krankenhäuser« engagiert sich für die Förderung ­singtherapeutischer Ansätze in Kliniken, Altenheimen und Gesundheitseinrichtungen.von Sabine Wandelt-Voigt, erschienen in Ausgabe #19/2013
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»Singende Krankenhäuser« – was sich wohl hinter diesem Begriff verbirgt? Ob auf allen Stationen die Pfleger singend von Zimmer zu Zimmer ziehen? Bei diesem Gedankenspiel verändert sich augenblicklich die Stimmung des Begriffs »Krankenhaus« in mir. Er wird farbiger, beweglicher. Ärzte, die gemeinsam mit Pflegern und Patienten singen – utopisch? Ich muss an Patch Adams denken, den Erfinder der Krankenhausclowns.

In der Kapelle der Klinik Christophsbad erwarten mich die Sängerin Katharina Neubronner und Wolfgang Bossinger, der seit zwanzig Jahren hier als Musiktherapeut arbeitet. Eine Gruppe von etwa 60 Menschen in mehreren losen Kreisen ist um eine gitarrespielende Person versammelt, sie singen nach Herzenslust. Das Bild ist mir nicht fremd; auch die Lieder sind mir vertraut. Doch was ich hier erlebe, ist neu.
Dass es beim Singen innerhalb kurzer Zeit gelingen kann, sich tief zu entspannen, intensive Gemeinschaftserfahrungen zu machen und in Flow-Zustände einzutauchen, das hat Wolfgang Bossinger schon seit zwei Jahrzehnten erlebt und untersucht. Über die heilsame Kraft des Singens veranstaltete er Seminare und verfasste Bücher. Wissenschaftliche Forschungen bestätigen seine Erfahrung: Beim Singen wird das »Sozialhormon« Oxytocin vermehrt ausgeschüttet, während Stresshormone, wie Adrenalin und Cortisol, abgebaut werden. »Das Singen einfacher Lieder mit heilsamen Texten in Verbindung mit Bewegung ist besonders für Menschen geeignet, die keine musikalische Vorbildung mitbringen«, erklärt er. »Doch lange Zeit befürchtete ich, dass solches Singen schwerkranke Menschen mit Depressionen, Angstzuständen, Psychosen oder schweren körperlichen Erkrankungen überfordern würde.« Diese Sorge erwies sich als völlig unbegründet.
Ich fühle mich in der Singgruppe sofort wohl. Während gesungen wird, bilden sich an den Rändern kleine Plaudergruppen. Die Atmosphäre ist familiär, es fällt leicht, mit Teilnehmenden in Kontakt zu kommen. Sie informieren mich gerne. Wer ist alles hier? Woher kommen die Leute? Eine Frau erzählt: »Als Kind habe ich mich immer aufs Bett gelegt und gebrummt. Da fühlte ich, wie alles schwingt in mir und habe mich dabei sehr wohl gefühlt. Als erwachsene Frau habe ich mich wieder daran erinnert, aber ich habe den Ton nicht mehr gefunden. Ich bin in den Spielwarenladen gegangen und habe gefragt, ob es einen Brummton zu kaufen gibt. Doch diese Bärentöne scheppern nur ›Bäääh‹. Auch im Musikalienhandel gab es keine Stimmgabel von meinem Brummton, aber sie wiesen mich auf die offene Singgruppe hin. Das war’s. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt mit so vielen fremden Menschen. Seitdem komme ich her – und wenn wir hier singen, schwingt wieder alles in mir.«
Je länger ich mitsinge oder lausche, desto deutlicher begreife ich, was mich in diesem Klang so anrührt. Zeilen von Rilke tauchen auf: »… meine Seele, die mitschwingt, wenn Deine Tiefen schwingen«. Hier in der Kapelle klingt eine Tiefe, wie ich sie selten hörte. Ist es die große Schwere, die viele der Menschen hier mit sich tragen, die, wenn sie einmal ins Klingen kommt, derart berührt, dass einem die Tränen kommen? Eine große Stille – mitten im vollen Klang. Dem Geschehen an diesem Abend wohnt eine derart ordnende Kraft inne, dass sich nicht das Geringste verändert, wenn jemand zur Tür hereinkommt oder ein anderer sich aus dem Kreis zurückzieht. Selbst die Randgespräche, die in der Begeisterung gar nicht besonders leise sind, stören nicht.

Singende Obdachlose
Bereits in den 90er Jahren untersuchten die Singforscherinnen Betty Bailey und Jane Davidson mit Methoden der qualitativen Sozialforschung, welche Wirkung die Teilnahme von Obdachlosen an einem Amateur-Chor hatte. Die Initiative zu diesem »Homeless-Choir« im kanadischen Montreal ging von einem jungen Mann aus, der als Helfer in einer Suppenküche für Wohnsitzlose mitarbeitete. Auf der Suche nach warmer Suppe für die Seele erinnerte er sich an seine eigene Zeit in einem Chor – an die Gefühle von Freude und Zufriedenheit. Ob das die Obdachlosen ähnlich erleben würden? Er lud zum Singen ein. Bei den Chormitgliedern handelte es sich um Menschen mit massiven emotionalen Pro­blemen, Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit. Die meisten waren soziale Außenseiter und lebten auf der Straße. Einige litten an schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Die beiden Forscherinnen führten ausführliche Interviews, die anschließend im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie ausgewertet wurden. Das Ergebnis war verblüffend: Viele der Wohnsitzlosen berichteten von einer Reduzierung ihres Alkohol- oder Heroinkonsums durch das gemeinsame Singen. Gewalt und Aggression unter ihnen hatten abgenommen, während Empathie und soziale Verhaltensweisen entwickelt wurden. Einige Chormitglieder hatten zum Zeitpunkt der Befragung bereits stabile Beziehungen aufgebaut oder sogar wieder eine Wohnung oder einen Job gefunden. Sie führten diese positiven Veränderungen auf das Singen und die damit verbundene Stärkung ihres Selbstwertgefühls zurück. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Wirkung des Singens im Chor mit einer erfolgreichen klinischen Psychotherapie vergleichbar war.

Zertifizierte Singgruppen
Von diesen Forschungen inspiriert, startete Wolfgang Bossinger zusammen mit zwei Kolleginnen die erste offene Singgruppe in der Klinik Christophsbad. Die Resonanz übertraf alle Erwartungen. Mit 70 bis 90 singenden Menschen platzt die Klinik-Kapelle Woche für Woche aus allen Nähten. Ein Arzt, der aufgrund einer schweren Depression an der Göppinger Klinik behandelt wurde, beschrieb das gemeinsame Singen als eine der wirksamsten Therapien überhaupt. Er bot spontan seine Mitarbeit an, um ein solches Angebot auch in anderen Einrichtungen zu etablieren. Ein Klinikleiter, der ebenfalls als Patient nach Göppingen gekommen war, wollte nach seinen Erfahrungen unbedingt auch bei sich ein »Singendes Krankenhaus« initiieren.
Aus dieser regelrechten Beauftragung durch die Patienten heraus gründete Wolfgang Bossinger im Mai 2010 den Verein »Singende Krankenhäuser« als internationales Netzwerk zur Förderung des Singens in Gesundheitseinrichtungen. Seitdem haben sich Akut- und Rehakliniken ebenso wie psychiatrische Einrichtungen, Altenheime und freie Gesundheitseinrichtungen angeschlossen. Musikbegeisterte Menschen können sich in verschiedenen Weiterbildungen als Singleiterin oder Singleiter qualifizieren. Zu den Voraussetzungen für eine Anerkennung als Singendes Krankenhaus gehören kontinuierliche Singangebote ebenso wie die Bezahlung einer zertifizierten Leitung. Der Verein ist freundschaftlich und ideell mit »Il canto del mondo« verbunden, dem internationalen Netzwerk zur Förderung der Alltagskultur des Singens e. V., das von Jehudi Menuhin gegründet wurde.

Die Heulkraft des Singens
»In Reha-Kliniken geschieht es oft, dass beim Singen eines Mantras die Tränen fließen, das ist dann sozusagen die ›Heul­kraft des Singens‹«, sagt Wolfgang Bossinger. »Zum Beispiel können Frauen nach einer Brustkrebsbehandlung häufig erst beim Singen endlich Trauer und Schmerz fühlen. In der akuten medizinischen Phase werden solche Gefühle verdrängt. Im Schutzraum der Singgruppe darf die ganze Verletzlichkeit ans Licht«.
In der Klinik Christophsbad leiden viele Menschen nicht nur unter ihren Krankheitssymptomen, sondern – aufgrund der Tabuierung psychischer Krankheiten – auch unter sozialer Isolation. Das gemeinsame Singen schafft ein Netzwerk, aus dem heraus Freundschaften und gegenseitige Unterstützung im Alltag entstehen.
Doch bei den Singenden Krankenhäusern geht es um mehr als das. Singen kann Menschen dabei helfen, auch körperliche Erkrankungen oder Behinderungen besser zu bewältigen. So erzäht mir eine Teilnehmerin: »Ich habe immer Schmerzen, das kenne ich gar nicht mehr anders. Wenn ich aber hier mit den anderen singe, dann wird mir von oben bis unten warm, und die Vibration der Töne breitet sich durch den ganzen Körper aus. Das wirkt lösend, und ich fühle mich dann wohler in meiner Haut als sonst.« Ein älterer Mann ergänzt: »Die anderen therapeutischen Angebote hier verfolgen das Ziel, dass man wieder auf einen Stand kommt, auf dem man einmal war. Das Singen aber hat mir etwas ganz Neues eröffnet, das über mein bisheriges Leben hinausgeht.«
Zur Grundidee der Singenden Krankenhäuser gehörte es auch von Anfang an, das Vorhaben auf eine solide Basis zu stellen. In kurzer Zeit gelang es Wolfgang Bossinger, einen internationalen wissenschaftlichen Beirat zu berufen, der das Projekt begleitet. Eigene Forschungen zur gesundheitsfördernden Wirkung des Singens untermauern die Arbeit des Vereins und sollen den Dialog mit Krankenkassen und Stiftungen über die Anerkennung von Sing-Angeboten in Kliniken fördern. Die Ergebnisse einer umfangreichen Studie über die gesundheitliche Bedeutung von Singgruppen aus der Sicht von Teilnehmenden und Singgruppenleitern, die seit 2011 gemeinsam mit dem Sydney De Haan Research Centre und dem Musikwissenschaftler Gunter Kreutz aus Oldenburg durchgeführt wurde, werden im Frühling 2013 vorgestellt.
Der Abend in Göppingen geht fließend in eine Weihnachtsfeier über, in der noch mehr gesungen und getanzt wird. Ich sitze inmitten dieser kunterbunten Gruppe von Menschen, die ich zuvor nicht kannte, und sehe in ihren Augen, wie sie bei sich ankommen und strahlen. Auf dem Heimweg pfeife ich ein Lied vor mich hin: »Viele, viele Künste kennt der Teufel, aber singen, aber singen, aber singen kann er nicht.« •


Sabine Wandelt-Voigt (50) studierte Gesang, Eurythmie, Sprechkunst und Kommunikations­pädagogik. Neben ihrer Lehrtätigkeit an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart und an der Uni Tübingen ist sie freischaffend künstlerisch tätig mit dem »Erzähl­Theater Sabine Wandelt & Freunde«.


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www.singende-krankenhaeuser.de

www.healingsongs.de
Literatur:
Wolfgang Bossinger: Die heilende Kraft des Singens. Traumzeit Verlag 2006

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