Wie sich mit Handwerk, Gemeinsinn und Muskelkraft der ökologische Reifenabdruck massiv verringern lässt.von Alex Capistran, erschienen in Ausgabe #20/2013
Durch das Lastenfahrrad wird der Mensch zur Ameise: So wie sie kann er ein Mehrfaches seines eigenen Körpervolumens von A nach B bewegen. Wer kennt nicht die Bilder aus asiatischen Ländern, wo gigantische Warenberge, auf klapprige Räder geschnürt, halsbrecherisch zum Bestimmungsort verfrachtet werden? Einmal mehr wie Ameisen wirken die Lastenradbauer, die am heutigen Tag vor der monströsen Fassade des Berliner Tempelhof-Flughafens die Schraubenschlüssel schwingen. Etwas versteckt bauen eine Handvoll Leute am Fuß des Flughafen-Kolosses im Märzwind an außerirdisch anmutenden Metallgestellen. Mitglieder der Berliner Pionierprojekte »Arche Metropolis«, »Allmende-Kontor« und »Freiraum Labor« werden hier in die Kunst des Lastenradbaus eingeweiht. Die Sonne scheint und trügt, es ist eisig, die Hände der Fleißigen röten sich – am Wegrand entschädigen kristallklare, poröse Eisformationen dafür. Tom Hansing von der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis stellt mir strahlend die Gefährte vor. Immer wieder grundiert beißendes Kreissägen unser Gespräch, was aber nicht weiter stört. »Gemeingüter fallen nicht vom Himmel«, bemerkt Tom. Ein großer, blauer, begehbarer Container ziert den Platz, auf dem sonst nur noch ein abgewirtschafteter Caravan mit der Aufschrift »Götterspeisen-Catering« herumsteht. Auf die Frage, was es mit dem Container auf sich habe, stellt mir Tom die »mobile Werkstatt« des Berliner Lastenrad-Netzwerks vor. Sie ist erst eine Woche alt. Allerlei Werkzeuge sind darin feinsäuberlich sortiert zu finden. An der Bohrmaschine kräuseln sich lustig Metallfäden.
Das Rad der postfossilen Produktion wird neu erfunden Die Ursprünge des Projekts liegen zwei Jahre zurück. Damals habe die Stiftungsgemeinschaft unter allerlei Berliner Initiativen eine Umfrage durchgeführt, um herauszufinden, was eine mobile Werkstatt ihrer Meinung nach idealerweise können sollte, erzählt Tom. Das Ergebnis: Die Werkstatt sollte gleichzeitig Küche, mobile Nähstation und Siebdruckwerkstatt sein und am besten auch noch Beton mischen können. Eine unmögliche Mischung. Also wurde einen Schritt früher angesetzt: Es wäre doch sinnvoll, »Mobilität« zum zentralen Thema zu machen und nicht eine mobile Werkstatt für alle zu schaffen, sondern die Projekte selbst mobil zu machen! »Postfossile Mobilität« nennt sich die Arbeitsgruppe, die sich daraus entwickelte und nun in Kooperation mit offenen Werkstätten in München, Dresden, Leipzig, Berlin und Hamburg dafür sorgt, dass Gemeinschaftsprojekte pedalbetriebene Transportgefährte aus Gebrauchtmaterialien bauen können. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte Projekt mit dem epischen Titel »Berliner Lastenrad-Netzwerk für nachhaltige Entwicklung« ist somit eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Idee einer mobilen Werkstatt. Kunst-Stoffe-Berlin (ein Projekt der Zentralstelle für wiederverwertbare Materialien e. V.), Open Design City und andere Partner schaffen damit die Infrastruktur für den Transportrad-Eigenbau auch an solchen Orten, die nicht mit einer vollausgestatteten Werkstatt aufwarten können. Bis ich verstehe, wer alles bei diesem Projekt beteiligt ist und wann sich welcher Baustein zu welchem gesellt hat, vergeht einige Zeit. So ist das eben bei einem organisch wachsenden Commoning-Projekt jenseits starrer Planvorgaben. Angefangen hat alles in München, wo die Stiftungsgemeinschaft erste experimentelle Workshops zu Mobilität angeboten hat, in denen abenteuerliche Fahrrad-Ungetüme hergestellt wurden, zum Beispiel aus Einkaufswägen. »Die sahen zwar nett aus und konnten sich bewegen, waren aber alles andere als richtige, funktionstüchtige Lastenfahrräder«, lacht Tom. Die selbstgestellte Herausforderung lautete, Lastenräder zu bauen, ohne zu schweißen, nur mit Muffenverbindungen. Doch das schien keine praktikable Lösung zu sein. Trotz des anfänglichen Lehrgelds festigte sich aber die Idee: »Lasst uns in der Großstadt verfügbare Materialien nutzen, um möglichst simple Konzepte für Transportgefährte umzusetzen.« Das können Lastenfahrräder sein, aber auch Do-it-Yourself-Anhänger oder sogenannte Bike Extensions wie Radtaschenhalterungen und andere Module.
Aufgegebenes Eigentum Wer so ein Rad fährt, verringert massiv seinen ökologischen Reifenabdruck: Zentrales Motiv, gerade Lastenfahrräder zu bauen und nicht etwa umweltverträgliche Autos, sei die verhängnisvolle »letzte Meile« in der Transportkette, lerne ich von Tom. Am ökologisch kostspieligsten ist die allerletzte Etappe der Verteilung von Waren an Haushalte und Betriebe, wo die vorher gebündelt transportierten Waren alle ihren eigenen, verwinkelten Weg gehen. »Für alles, was im Umkreis von fünf Kilometern passiert, ist nichts besser als ein Fahrrad. Es ist am schnellsten und ökologisch am sinnvollsten, denn Fahrräder verbrennen dein Fett und kein Öl«, fasst es Tom zusammen. Im Krisenfall nach dem Sturm an der amerikanischen Ostküste habe man außerdem klar sehen können, dass »mittlere Technik« resilienter als die von Strom und fossilen Brennstoffen abhängige Highend-Technik sei, und dazu gehöre eben auch »Wadel-Power«, also Fahrradfahren. Nichts sei in der Großstadt leichter, als an alte Fahrräder zu kommen, sagt Tom. Als »Schrott« möchte er sie nicht bezeichnen, denn es seien eigentlich kostbare Rohstoffe für umso schönere Lastenräder. Ich muss an die Menschen denken, die es aus triftigen Gründen ablehnen, das Wort »Unkraut« in den Mund zu nehmen. Die Hausverwaltungen seien sogar dankbar für die »Entsorgung« des lästigen Abfalls, der sich jahrein, jahraus in den Korridoren ansammle. Sind die »Rohstoffe« schnell beschafft, dauert das Bauen solch eines rollenden Packesels seine Zeit. Workshops wie hier auf dem Feld versuchen, es in einer Woche durch täglich etwa acht Stunden Arbeit zu schaffen. Eine zeitliche und handwerkliche Herausforderung: »Es geht hier nicht um Malen nach Zahlen«, kommentiert Tom lakonisch. Wer hier ein Rad baut, verpflichtet sich zu Beginn, am Ende auch eines fertig zu haben. Das Intensivkurs-Konzept wird dieses Jahr in drei verschiedenen Umgebungen getestet. Der erste Versuch findet hier auf dem Tempelhofer Feld statt, der zweite in den ersten Apriltagen im Neuköllner Jugendclub »Manege«. Dort werkeln etwa 40 Jugendliche aus dem verrufenen Norden Neuköllns. Das erfordere etwas mehr pädagogisches Geschick, zwinkert Tom, aber würde sicherlich eine gute Erfahrung werden, da die jungen Menschen genau in solch handwerklichen Tätigkeiten einiges an Dampf ablassen und sich austoben könnten. Wenn die Lastenräder einen signifikanten Beitrag zur postfossilen Mobilität leisten wollen, müssen sie aber vor allem von »Otto-Normalmensch« für die letzte Meile genutzt werden. Daher hat das Lastenrad-Netzwerk als drittes Experimentierfeld einen Workshop mit einer durchschnittlichen Hausgemeinschaft angesetzt: Warum sollte nicht jeder Hinterhof sein eigenes Lastenfahrrad haben?
Etwas schaffen, das viele nutzen »Aufgegebenes Eigentum« lautet die offizielle Bezeichnung für gestrandete Fahrräder in Haus- und Straßenfluren. Der Begriff passt auch auf das, was aus ihnen neu gemacht wird: Die Lastenfahrräder sind kein Privateigentum mehr, sie leben von der Benutzung, nicht vom Besitz: »Bei den Produktionsweisen der Zukunft geht es vielleicht gar nicht mehr darum, immer mehr Neues herzustellen, sondern um wirklich nützliche Dinge, die gemeinsam genutzt werden«, erklärt Tom die Idee einer Gemeingüter schaffenden Produktionsweise. »Ziel ist, dass Lastenräder gemeinschaftlich verwendet werden«. Die auf dem Tempelhofer Feld neu entstandenen Lastenräder werden auf der Seite www.velogistics.net erfasst, wo für alle nachzulesen ist, wieviel Zuladung ein Rad erträgt und wann es zu welchen Bedingungen von anderen benutzt werden kann. Manche Projekte verleihen ihr Gefährt gegen ein Pfand, andere verlangen etwas Kleingeld. Für diverse Städte in Deutschland und Österreich befinden sich bereits Einträge auf der Vernetzungs-Seite. Weil Gemeinschaftseigentum die Gefahr mangelnder Fürsorge mit sich bringt, soll sich aus jedem der Berliner Projekte ein Mensch als »Kümmerer« für die Nutzung und den Erhalt des Lastenesels verantwortlich fühlen. Das Interesse an der postfossilen Mobilität ist groß, das sieht Tom auch an den Reaktionen abseits der Workshops: Ab und zu flattern Bilder und Pläne von eigenwilligen Neukreationen ins Haus, oft von Handwerkern, denen das umfangreiche Lastenrad-Wiki www.werkstatt-lastenrad.de als Inspirationsquelle gedient hat. So entsteht ein fruchtbringender Austausch, eine bilderreiche Wissensallmende.
Erfahrungen für die Commons-Zukunft »Long André« heißt ein Modell, ein Mittellader, mit dem Tom eine Probefahrt unternimmt. Daneben wird auch ein Frontlader gebaut, der am Ende bis zu 150 kg durch die Gegend bugsieren können wird. Mit dem Lastenrad, das er in seinem Berliner Alltag nutzt, werde die Stadtteilzeitung ausgefahren, manchmal auch der eigene Nachwuchs. Erst gestern habe sich der Verein »Viva con Agua« das Rad geliehen. Ebenso sozial wie die Nutzung sollte die Produktion sein: Alles geschieht in gemeinschaftlicher Arbeit ohne Bestimmer von oben. Das schweißt die Gemeinschaft zusammen. So werde der Kreation am Ende auch die für Gemeingüter notwendige Liebe entgegengebracht werden können, sagt Tom. Vertrauen sei der zentrale Knackpunkt der Commons-Zukunft. Von heute auf morgen sei es nicht drin, flächendeckend auf Gemeingüter umzusteigen: »Wir sollten erst einmal kleine Brötchen backen.« So gesehen, setzen die Lastenrad-Workshops ein Zeichen. Einfach rausgehen, einen Schritt in die richtige Richtung unternehmen – darum geht es. »Wenn das Herstellen der Güter aktiv miterlebt wird, gelingt die geteilte Nutzung später umso besser.« Werden Lastenfahrräder übermorgen aus Berlin nicht mehr wegzudenken sein? Wie wird die Zukunft der mobilen Werkstatt aussehen? Zunächst stellt sich unter den bauenden Ameisen die Frage, ob unter den widrigen Wetterbedingungen innerhalb der nächsten Tage wirklich ein paar tüchtige Drahtesel mehr aus der Wiege gehoben werden. Hoffentlich, denke ich, und bekomme selbst Lust, ein Rad zu bauen – vielleicht aus Bambus? Der allgegenwärtige Hund schleckt das Gemeingut Schnee, als ich mich von Tom verabschiede und sich die Ameisen-Menschen zum gemeinsamen Mohrrübenessen auf den Bänken zusammenkauern. •
Alex Capistran (22) studiert Philosophie in Berlin, ist im Youth Future Project e. V. aktiv und spielt gerne Jazz auf dem Klavier.